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Die tödliche Klassenfahrt

LG Mönchengladbach, Urteil v. 15.2.2024 – 23 KLs 6/23, BeckRS 2024, 1971

Sachverhalt

Zur Vorbereitung einer Schulfahrt an einer Gesamtschule in Mönchengladbach nach London hatte die Lehrerin S, die schon einige Klassenfahrten begleitet und organisiert hat und ihre Pflichten diesbezüglich kennt, eine unverbindliche Informationsveranstaltung für die teilnehmenden Schüler und ihre Eltern durchgeführt. Im Einladungsschreiben war darauf hingewiesen worden, dass die Möglichkeit zur Beantwortung etwaiger Fragen bestehe, nicht aber darauf, dass auch gesundheitliche Themen erörtert würden. S hatte im Plenum nach gesundheitlichen Besonderheiten der Teilnehmenden gefragt und darauf hingewiesen, dass etwaig erforderliche Medikamente selbst mitgeführt werden müssten. Im Anschluss daran hatte sie den Anwesenden Gelegenheit zur Nachfrage und zu einem Gespräch unter vier Augen gegeben. Das hatten einige Eltern genutzt, um S auf Vorerkrankungen oder Reiseübelkeit ihrer Kinder hinzuweisen. An der Informationsveranstaltung hatten auch E sowie der Lebensgefährte (M) ihrer Mutter teilgenommen. Weder E noch M hatten S an dem Informationsabend mitgeteilt, dass E unter Diabetes Typ I litt. Ob sie die mündliche Abfrage der P nach gesundheitlichen Besonderheiten der Teilnehmer und den Hinweis auf die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs überhaupt wahrgenommen hatten, konnte nicht festgestellt werden. Anders als bei Klassenfahrten an der Gesamtschule verpflichtend, hatte S vor, während oder nach dem Informationsabend das Vorliegen von Erkrankungen oder gesundheitlichen Besonderheiten und die Notwendigkeit einer bestimmten Medikation bei den Erziehungsberechtigten der minderjährigen Schüler nicht schriftlich abgefragt. Wäre eine solche verbindliche schriftliche Abfrage erfolgt, hätte die Mutter der E jedenfalls die Diabeteserkrankung ihrer Tochter angegeben, wenn nicht sogar das erforderliche Diabetesmanagement ergänzend mündlich oder schriftlich dargelegt.

Hätte S diese schriftliche Abfrage durchgeführt, in die Schulakte Einsicht genommen oder sich bei den Lehrern der E informiert, wäre ihr deren Diabeteserkrankung vor Beginn der Schulfahrt bekannt gewesen. Tatsächlich erfuhr S hiervon erst am Tag der Rückfahrt aus London. 

Am ersten Tag der Klassenfahrt ging E mit ihren Freundinnen, darunter K, in einem chinesischen Restaurant essen. Nach der Rückkehr ins Hotel fühlten sich E und K unwohl und mussten sich jeweils übergeben. Während es K bereits am gleichen Abend wieder besser ging, wird der gesundheitliche Zustand von E über die nächsten drei Tage immer schlechter. E erbrach sich weiterhin und verbrachte die meiste Zeit auf ihrem Hotelzimmer im Bett. K informierte in dieser Zeit mehrfach die S über den schlechten Gesundheitszustand der E. Eine Nachschau seitens von S erfolgte, trotz anders getätigter Aussage gegenüber K, nicht. 

Am letzten Tag der Klassenfahrt war E schläfrig, matt, verwirrt und kaum noch ansprechbar ist. Als S dies im Rahmen einer Zimmerkontrolle nach dem Frühstück erkannte, verständigte sie den Notarzt. Gleichzeitig telefonierte sie mit der Mutter der E, die ihnen dabei mitteilte, dass E unter Diabetes leide. Die Rettungskräfte veranlassten eine umgehende Krankenhauseinweisung. E verstarb am noch am selben Tag infolge eines durch eine schwerwiegende Stoffwechselentgleisung ausgelösten Herzinfarkts. Hätte S von der Diabeteserkrankung der E gewusst, hätte sie den wiederholten Mitteilungen von K stärkere Beachtung geschenkt und bereits am ersten Tag hierauf reagiert. Der Tod der E hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert werden können, wenn sie spätestens am Abend des ersten Tages stationär aufgenommen und (intensiv- )medizinisch versorgt worden wäre.

Wie hat sich S strafbar gemacht? Ggf. erforderliche Strafanträge gelten als gestellt.

Bearbeitungsvermerk: Es ist davon auszugehen, dass alle Personen deutsche Staatsangehörige sind.

§ 42 SchulG NRW – Allgemeine Rechte und Pflichten aus dem Schulverhältnis (Auszug)

(1) Die Aufnahme der Schülerin oder des Schülers in eine öffentliche Schule begründet ein öffentlich-rechtliches Schulverhältnis. Aus ihm ergeben sich für alle Beteiligten Rechte und Pflichten. Dies erfordert ihre vertrauensvolle Zusammenarbeit.

§ 57 SchulG NRW – Lehrerinnen und Lehrer (Auszug)

(1) Lehrerinnen und Lehrer unterrichten, erziehen, beraten, beurteilen, beaufsichtigen und betreuen Schülerinnen und Schüler in eigener Verantwortung im Rahmen der Bildungs- und Erziehungsziele (§ 2), der geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften, der Anordnungen der Schulaufsichtsbehörden und der Konferenzbeschlüsse; sie fördern alle Schülerinnen und Schüler umfassend.


Skizze

Gutachten

A. Strafbarkeit gemäß § 222, 13 I StGB

S könnte sich der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen gem. §§ 222, 13 I StGB strafbar gemacht haben, indem sie sich vor der Fahrt nicht über die gesundheitliche Information von E informiert sowie deren schlechten Gesundheitsstatus nicht überprüft hat und E anschließend aufgrund verspäteter (intensiv-)medizinischer Versorgung verstarb.

I. Anwendbarkeit deutschen Strafrechts

Da die Klassenfahrt in London stattgefunden hat und somit der Tod der E auch dort eingetreten ist, ist fraglich, ob das deutsche Strafrecht Anwendung findet. Nach § 9 I StGB ist eine Tat an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. Wird eine Tat wenigstens teilweise in der Bundesrepublik Deutschland begangen (§ 9 I StGB), reicht dies aus, um sie zu einer Inlandstat zu machen.[1]vgl. BGH NStZ 1986, 415 (Ls:); BGH NStZ 2016, 414 (414). Dabei ist die Tat als gesamter strafrechtlich relevanter Lebenssachverhalt gemeint.[2]Schönke/Schröder/Eser/Weißer, 30. Aufl. 2019, StGB § 3 Rn. 4. S hat es bis zum Zeitpunkt der Abfahrt, als sie sich noch in Deutschland und damit im Geltungsbereich des deutschen Strafgesetzbuchs befand, unterlassen, sich über den Gesundheitszustand von E zu informieren; sei es durch schriftliche Abfrage der Gesundheitsdaten vor, auf oder nach der Informationsveranstaltung oder zumindest durch Einsichtnahme in die Schulakte der E. Damit hat S jedenfalls teilweise im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland gehandelt (bzw. unterlassen zu handeln), was ausreicht, um sie zu einer Inlandstat zu machen. Das deutsche Strafrecht findet folglich Anwendung.

Vernetztes Lernen: Wenn der Beginn der Tat nicht in Deutschland anzusiedeln ist, sondern erst auf der Klassenfahrt in London, könnte das deutsche Strafrecht dennoch anwendbar sein?
Ja, gem. § 7 StGB ist das deutsche Strafrecht auch auf Auslandstaten anwendbar in denen die Tat gegen einen Deutschen begangen worden sind und die Straftat auch am Tatort mit Strafe bedroht ist. E ist deutsche Staatsbürgerin. Von der Strafbarkeit einer fahrlässigen Tötung durch Unterlassen in Großbritannien ist auszugehen.

Für einen weiteren Fall zur Anwendbarkeit von deutschem Strafrecht (v.a. bei Soldaten im Ausland) siehe den Dienststiefel-Fall.

II. Tatbestandsmäßigkeit

1. Erfolg: Tod eines anderen Menschen

E ist verstorben. Der Taterfolg ist mithin eingetreten.

2. Unterlassen einer geeigneten und erforderlichen Verhinderungshandlung trotz physisch-realer Handlungsmöglichkeit

S müsste eine physisch-reale Handlung unterlassen haben. Unterlassen liegt vor, wenn dem Geschehen seinen Lauf gelassen wird, obwohl ein Eingreifen möglich wäre.[3]Rengier, Strafrecht AT, 14. Aufl. 2022, § 48 Rn. 9. S hatte mehrfach die Möglichkeit sich über die Diabetes-Erkrankung der E vor Antritt und während der Klassenfahrt sowie über ihren Gesundheitszustand während der Klassenfahrt zu informieren. Sie hätte aufgrund des anhaltenden schlechten Gesundheitszustands der E (not-)ärztliche Hilfe herbeiholen müssen. Sie griff nicht aktiv ein, vielmehr ließ sie das Geschehen laufen, bis sich der Gesundheitszustand der E schon so dramatisch verschlechtert hatte, dass die folgende intensivmedizinische Behandlung nicht mehr helfen konnte. Somit liegt ein Unterlassen vor. S war handlungsfähig, sodass ihr die unterlassene Handlung auch möglich war.

3. Quasi-Kausalität

Zudem müsste das Unterlassen von S kausal für den Tod der E gewesen sein. Die Kausalität bei einem Unterlassungsdelikt bestimmt sich nach der Quasi-Kausalität. Danach ist die Handlung als kausal anzusehen, wenn bei einem Hinzudenken der gebotenen Handlung der tatbestandliche Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre.[4]Wessels/Beulke/Satzger, StR AT, 52. Aufl., Rn. 1173. Der Tod der E hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert werden können, wenn S im Vorfeld der Klassenfahrt die gesundheitlichen Informationen über E eingeholt hätte, dadurch der Ansprache der K auf den Gesundheitszustand der E mehr Beachtung geschenkt hätte und spätestens am Abend des ersten Tages kontrolliert und (intensiv-)medizinische Hilfe eingeholt hätte. Dies zu unterlassen war daher kausal für den Tod des M.

4. Garantenstellung gem. § 13 I StGB

S müsste auch eine Garantenstellung innehaben. Garant ist, wer rechtlich für die Erfolgsabwendung einzustehen hat. In Betracht kommt hier eine Beschützergarantenstellung aus ihrer Stellung als Amtsträgerin im Hinblick auf ihre Schüler und Schülerinnen.[5]Schönke/Schröder/Bosch, 30. Aufl. 2019, StGB § 13 Rn. 31a. Jeder Lehrkraft obliegt die Amtspflicht, die ihr anvertrauten Schüler und Schülerinnen im Schulbetrieb vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren. Sie ist verpflichtet, die Gefahren so niedrig wie den Umständen nach möglich und geboten zu halten. Sie muss die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und ggf., wenn sich ausreichende Vorkehrungen nicht treffen lassen, von einer gefährlichen Maßnahme Abstand nehmen.[6]BGH NJW 2019, 1809 (1811); OLG Köln NJW 1986, 1947 (1948). Während der Zeit, in der Schüler und Schülerinnen an einer Schulveranstaltung teilnehmen, müssen sie durch die Schule bzw. die die Aufsicht führende Lehrkraft beaufsichtigt werden.[7]Dies ergibt sich aus der Aufsichtspflicht der Lehrkraft und den allgemeinen Aufgaben der Schule aus den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen im Schulgesetz. Für NRW bspw. § 42 SchulG NRW und § … Continue reading Die Aufsichtspflicht der Schule tritt dabei neben die aus §§ 1626 I 2, 1631 I BGB folgende Personensorge und Aufsichtspflicht der Eltern. Eltern dürfen darauf vertrauen und müssen sich darauf verlassen können, dass ihr Kind in der Schule und auf Schulfahrten keinen Schaden erleidet. Im Falle der Erkrankung eines Schülers oder einer Schülerin während einer Klassen- bzw. Schulfahrt besteht die Aufsichtspflicht der Schule bzw. der konkret aufsichtführenden Lehrkraft solange fort, bis der erkrankte Schüler oder die erkrankte Schülerin gefahrlos in die Obhut der Eltern (nach Hause) gelangt ist.[8]OVG Münster NVwZ-RR 2010, 643 (643f.). S ist als Lehrerin Amtsträgerin. Ihr obliegen demnach die Aufsichtspflichten auf der Klassenfahrt, die neben die Aufsichtspflicht der Eltern treten. Sie hat eine Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit und das Leben ihrer Schüler und Schülerinnen auf der Klassenfahrt. Darüber hinaus hat S auch in tatsächlicher Hinsicht eine Aufsichtspflicht für die minderjährigen Schüler und Schülerinnen übernommen. Mithin hat S eine Garantenstellung inne.

Vernetztes Lernen: Wonach lassen sich Garantenstellungen grundlegend unterscheiden und welche Arten von Garantenstellungen gibt es?

Grundsätzlich lassen sich Garantenstellungen danach unterscheiden, ob besondere Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter bestehen (sog. Beschützergaranten) oder ob eine Verantwortlichkeit für bestimmte Gefahrenquellen besteht (sog. Überwachergaranten).

Die Beschützergaranten können aus folgende Situationen entstehen:

Besondere Rechtssätze

Enger natürliche Verbundenheit

Lebens- oder Gefahrengemeinschaft

Freiwillige Übernahme von Schutz- und Beistandspflichten

Stellung als Amtsträger oder als Organ von juristischen Personen

Eine Überwachergarantenstellung kann aus folgenden Situationen entstehen:

Verkehrssicherungspflichten

Pflicht zur Beaufsichtigung Dritter

Pflichtwidriges gefährdendes Vorverhalten (Ingerenz)

Inverkehrbringen von Produkten

Für eine ausformulierte Lösung mit der Prüfung verschiedener Garantenstellungen siehe den Fall Spice

5. Entsprechungsklausel

Das Unterlassen müsste der Verwirklichung des Tatbestands durch aktives Tun entsprechen (Sog. Modalitätenäquivalenz).[9]BGHSt 28, 300 (307). Bei reinen Erfolgsdelikten, bei denen es auf die spezifische Begehungsweise nicht ankommt, sondern allein auf die Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, entfällt eine Gleichwertigkeitsprüfung nach § 13 I StGB. Hier entspricht bereits die mögliche Nichtabwendung des Erfolgs seitens des Garanten dem Tun.[10]BGH NJW 2015, 3047; Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 13 Rn. 86; Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 13 Rn. 4.

6. Objektive Fahrlässigkeit

S müsste auch objektiv fahrlässig gehandelt haben.

a) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung 

Dafür müsste zunächst eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vorliegen. Der Sorgfaltsmaßstab richtet sich nach den Anforderungen, die an einen gewissenhaften und besonnenen Menschen, der sich in der konkreten Lage befindet und dem Verkehrskreis des Täters angehört, bei einer ex-ante Betrachtung der Gefahrenlage zu stellen sind.[11]Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 49. Aufl. 2019, Rn. 667a. Maßgeblich ist demnach, wie sich eine umsichtige und erfahrene Lehrkraft einer Gesamtschule in gleicher Situation wie S verhalten hätte. Fraglich ist an, ob hier an das fehlende Einholen der gesundheitlichen Information der E oder das fehlende Hilfeleisten angeknüpft werden kann. Als Anknüpfungspunkt für eine Sorgfaltspflichtverletzung kann dabei jedes Verhalten herangezogen werden, das zu einer objektiv zurechenbaren Tatbestandsverwirklichung führt.[12]OLG Hamm, Beschluss vom 12.01.2016, Az. III-3 RVs 91/15, Rn. 23. Es kommt also gerade nicht auf eine Sorgfaltspflichtverletzung im Zeitpunkt des Erfolgseintritts an.[13]Vgl. § 8 S. 2 StGB. Unter Berücksichtigung eines sog. Vorverschuldens kann es zu einer weitgehenden Vorverlagerung kommen, wenn der Täter in der konkreten Situation nicht imstande ist, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges zu erkennen und zu vermeiden[14]Leipziger Kommentar/Bülte, 13. Aufl. 2020, § 15 StGB, Rn. 57 m.w.N., weil die notwendigen Informationen aufgrund einer vorausgehenden Pflichtverletzung nicht vorlagen. Grundsätzlich lag die Pflicht zur Verschaffung der Kenntnisse über die Erkrankung der E der Schule vertreten durch den Schulleiter oder die Schulleiterin als Veranstalterin der Klassenfahrt. Zur Organisation dieser Veranstaltung hat die Schule diese Pflicht zulässigerweise auf S übertragen. Durch Konkretisierungen in gesetzlichen Vorschriften zum Umgang mit medizinischen Vorerkrankungen von Schülern hätte eine umsichtige und erfahrene Lehrerkraft in der Situation der S bereits bei der Planung der Auslandsreise den sichersten Weg beschritten und das Bestehen etwaiger Vorerkrankungen oder gesundheitlicher Besonderheiten der Schüler und Schülerinnen verbindlich schriftlich abfragt. Die bloß mündliche Nachfrage nach gesundheitlichen Besonderheiten auf der Informationsveranstaltung war nicht geeignet und ausreichend um der Pflicht als Lehrkraft zu genügen. Vorliegend hätte eine Lehrkraft auch Einsicht in die Schulakte nehmen können und sich hierdurch über die gesundheitlichen Besonderheiten von E informieren können, weil dort die Diabeteserkrankung vermerkt war. Das dies passiert, davon durften E und M auch ausgehen. Darüber hinaus würde sich die Sorgfaltspflicht einer verbindlichen schriftlichen Abfrage der Gesundheitsdaten aus den verpflichtenden Standards und Gepflogenheiten der Schule ergeben. Indem S diese Möglichkeiten der Informationsbeschaffung nicht genutzt hat, hat sie sorgfaltswidrig gehandelt.

b) Objektive Vorhersehbarkeit

Zudem müsste der Eintritt des Erfolges bei Verletzung dieser Sorgfaltspflicht für S objektiv vorhersehbar gewesen sein. Objektive Vorhersehbarkeit liegt vor, wenn der eingetretene Erfolg nach allgemeiner Lebenserfahrung, sei es auch nicht als regelmäßige, so doch als nicht ungewöhnliche Folge, erwartet werden konnte.[15]Vgl. Lackner/Kühl/Heger, 30. Aufl. 2023, § 15 Rn. 46 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. Es ist nicht auszuschließen, dass beim Unterlassen der Informationsbeschaffung über wesentliche Gesundheitsdaten eines Schülers oder einer Schülerin, und daraus folgend die Nichtbeachtung der Verschlechterung des Gesundheitszustands bei einer Person, die an Diabetes Typ I erkrankt ist, im Tod dieser Person enden kann. Mithin ist der Eintritt des Todes der E bei der Verletzung der Sorgfaltspflicht für S objektiv vorhersehbar gewesen.

7. Objektive Zurechnung

Der Erfolg müsste S auch objektiv zurechenbar sein. Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg, wenn der Täter ein rechtlich missbilligtes Risiko schafft, das sich im tatbestandlichen Erfolg niederschlägt.[16]Rengier, StR AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 46. Das Unterlassen der Informationsbeschaffung durch S über die gesundheitliche Lage von E schafft das rechtlich missbilligte Risiko der Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis hin zu einem letalen Verlauf. Dieses Risiko schlägt sich hier in dem Tod der E nieder. Daher ist der Erfolg objektiv zurechenbar.

III. Rechtswidrigkeit 

Es sind keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich. S handelte rechtswidrig.

IV. Schuld

1. Entschuldigungs- und Schuldausschließungsgründe

Entschuldigungs- und Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich.  

2. Subjektive Fahrlässigkeit

S war aufgrund ihrer Ausbildung und Berufserfahrung subjektiv in der Lage, die an sie hinsichtlich der Vorbereitung der Schulfahrt gerichteten Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen und die Tatbestandsverwirklichung vorauszusehen. S handelte mithin subjektiv fahrlässig.

V. Ergebnis

S hat sich der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen gem. §§ 222, 13 I StGB strafbar gemacht, indem sie sich vor der Fahrt nicht über die gesundheitliche Information von E informiert, sowie deren schlechten Gesundheitsstatus nicht überprüft hat und E anschließend aufgrund verspäteter (intensiv-)medizinischer Versorgung verstarb.


Zusatzfragen

Die S ist scheinbar kein unbeschriebenes Blatt. S ist während der Klassenfahrt genervt von der Schülerin T, die gleichzeitig auch ihre Tochter ist. Da S eine Verfechterin von veralteten Erziehungsmethoden ist und um T zurechtzuweisen, gibt S der T eine Backpfeife.

In dem gegen S eingeleiteten Strafverfahren hinsichtlich des Todes der E, das unter Einbeziehung weiterer Tatgeschehnisse (z.B. der Handlung gegen T) unter anderem auch eine „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ zum Gegenstand hat, verweigert die T beharrlich eine Aussage. Mangels anderer Tatzeugen – die anderen Schüler haben das Geschehen um die Ohrfeige nicht mitbekommen – will die Staatsanwaltschaft daraufhin T von dem zuständigen Ermittlungsrichter zum Hergang befragen lassen. Anstelle ihrer Eltern willigt hierin ein zu diesem Zweck bestellter Ergänzungspfleger (§ 1809 I BGB) nach ordnungsgemäßer Belehrung ein. Zu Beginn der Vernehmung weist der Richter T auf ihre Wahrheitspflicht hin und belehrt sie sodann wie folgt: „Und wenn wir jetzt Fragen stellen nach deiner Mutter und Du sagst, ach, das will ich lieber nicht beantworten, dann sagst Du mir das; dann sagst Du mir, das will ich lieber nicht erzählen, okay?“ T sagt daraufhin vollumfänglich aus; S und ihre Verteidigerin sind anwesend und können Fragen stellen. In der Hauptverhandlung verweigert T jedoch nach ordnungsgemäßer Belehrung ihre Aussage. Daraufhin möchte das Gericht die seinerzeit angefertigte audiovisuelle Aufnahme nach § 255a StPO vorspielen.

Darf die angefertigte audiovisuelle Aufnahme der Aussage von T vor dem Ermittlungsrichter in der Hauptverhandlung zum Zwecke des Tatnachweises vorgespielt werden?
Die vorliegende Aufgabe befasst sich mit der Verwertbarkeit jener früheren, vor dem Ermittlungsrichter (§ 162 I 1, 3 StPO) erstatteten Aussage der minderjährigen T.

Im Ausgangspunkt ist der Grundsatz gerichtlicher Wahrheitsermittlung zu berücksichtigen. Gemäß § 244 II StPO ist es die Pflicht des Gerichts, alle verfügbaren und erreichbaren Beweismittel und -möglichkeiten zu den beweiserheblichen und beweisbedürftigen Tatsachen in der Hauptverhandlung zu nutzen, sofern deren Verwertung nicht unzulässig ist. Ein Verwertungsverbot könnte sich vorliegend jedoch aus dem Umstand ergeben, dass die minderjährige T gem. § 52 I Nr. 3 StPO zeugnisverweigerungsberechtigt war und von diesem Recht in der Hauptverhandlung (nach insoweit ordnungsgemäßer Belehrung) auch Gebrauch gemacht hat. § 252 i. V. m. § 250 S. 2 StPO statuiert ein grundsätzliches Verbot, auf das frühere Vernehmungsprotokoll oder ein Substitut (wie hier die audiovisuelle Aufnahme, vgl. § 255a II StPO) zurückzugreifen.

Ein Teil der Lehre vertritt die Auffassung, dass das Verwertungsverbot absolut zu verstehen ist, um auch den Familienfrieden zu wahren.[17]Beulke/Swoboda (Rn. 420); Eisenberg NStZ 1988, 488 (489); Geppert Jura 1988, 305 (308).
Die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung relativiert das absolute Verwertungsverbot für richterliche Vernehmungen, sofern das daraus hervorgegangene Vernehmungsergebnis rechtskonform zustande gekommen ist.[18]BGHSt 32, 25 (29); BGHSt 49, 72 (77). Diese Linie wurde vom BGH inzwischen auch für die Vorführung audiovisueller Aufnahmen gem. § 255a II StPO übernommen, während für Vorführungen gem. Abs. 1 aufgrund des ausdrücklichen Verweises auf § 252 StPO in Abs. 1 bei der Unverwertbarkeit verbleiben soll.[19]BGHSt 49 (72ff.). Die Regelung des Abs. 2 ist getragen von dem gesetzgeberischen Ziel, im Lichte eines effektiven Opferschutzes Mehrfachvernehmungen minderjähriger Opferzeugen zu vermeiden. Als Ausgleich ist die Vernehmung vor dem Ermittlungsrichter so zu gestalten, dass sie sich aufgrund der gewährten Mitwirkungsrechte als „eine Art vorgezogene Teil der Hauptverhandlung“ darstellt.[20]NK/König/Harrendorf, 5. Aufl. 2022, § 252 Rn. 25. In diesem Kontext ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Zeuge nicht die Möglichkeit haben soll, durch nachträgliche Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts seine frühere Aussage aus der Welt zu schaffen.[21]BGHSt 49, 72 (83); BGHSt 61, 221 (230 ff.). In Anbetracht der divergierenden Gesetzesfassung sowie des divergierenden Normzwecks ist es nicht geboten, den Verweis auf § 252 StPO (und sein Verständnis als absolutes Verwertungsverbot) für Fälle des Abs. 2 analog anzuwenden.[22]BGH NStZ 2020, 181.

Der Sachverhalt gibt vor, dass die Aussage der minderjährigen T im Verfahren gegen ihre Mutter S vor dem zuständigen Ermittlungsrichter (jedenfalls auch) wegen einer Katalogtat des § 255a II StPO (§ 225 StGB) erfolgte und (nach § 58a I 2 Nr. 1 StPO) in Bild und Ton aufgezeichnet wurde. Die vernehmungsersetzende Vorführung dieses Beweissurrogats nach § 255a Abs: 2 StPO setzt aber voraus, dass die vorangegangene Beweiserhebung (Vernehmung) ordnungsgemäß unter Wahrung der wesentlichen Verfahrensvorschriften erfolgte.[23]BGH NStZ 2024, 56 (57). Dazu gehört – wie vorliegend geschehen – eine effektive Mitwirkungsmöglichkeit sowohl des Angeklagten als auch seines Verteidigers wie – bei minderjährigen Zeugen stets erforderlich – die Zustimmung der gesetzlichen Vertreter bzw. wegen deren Ausschluss kraft Gesetzes (vgl. § 52 II 1 Hs. 1 und 2 StPO, d.h. auch des nicht beschuldigten Elternteils) die Zustimmung eines Ergänzungspflegers (vgl. § 1809 I BGB).[24]OLG Brandenburg FamRZ 2010, 843; OLG Dresden NJW-RR 2000, 1677 (1669); BeckOK StPO/Huber, 51. Aufl. 01.04.2024, § 52 Rn. 25. Erforderlich ist aber des Weiteren eine nach § 52 III 1 StPO ordnungsgemäße Belehrung, und zwar sowohl des Vertreters als auch des Zeugen selbst, da es für eine verwertbare Aussage der Zustimmung beider unabhängig voneinander bedarf.[25]BGH NJW 1991, 2432 (2433). Der minderjährige Zeuge muss daher auch darauf hingewiesen werden; dass er selbst bei Zustimmung durch seinen Vertreter nicht auszusagen braucht, mithin eigenständig über sein Zeugnisverweigerungsrecht disponieren darf.[26]BGHSt 21, 303 (306), BGHSt 23, 221 (223); BGH NStZ-RR 1996, 106. Diese freie Dispositionsmöglichkeit ist ihm jedoch im Falle eines Belehrungsmangels verwehrt.[27]BGH NStZ 2024, 56 (57).

Mangels ordnungsgemäßer Belehrung der T im Rahmen ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung kann die hierüber angefertigte audiovisuelle Aufnahme daher nicht gem. § 255a II StPO in der Hauptverhandlung gegen S verwertet werden.

Welche Gerichte können im Strafrecht erstinstanzlich zuständig sein? Und wie heißen die jeweiligen Spruchkörper?
Nach §§ 74 I, II, 74a ff. GVG ist das Landgericht zuständig, wenn eine der in § 74 II Nr. 1 – 30 GVG normierten Katalogstraftaten im Raum steht (Schwurgerichtssachen) oder bei sonstigen Verbrechen oder Vergehen nach §§ 24 I S. 1 Nr. 1, 74 I GVG eine höhere Freiheitsstrafe als vier Jahre zu erwarten ist.
Die Spruchkörper innerhalb des Landgerichts sind: das Schwurgericht, vgl. § 74 II GVG, sowie die große oder kleine Strafkammer, vgl. § 74 I i.V.m. 76 I S. 1 HS. 1, bzw. HS. 2 GVG.

Außerdem können besondere Kammern gebildet werden: Wirtschaftsstrafkammer nach § 74 c I GVG, Staatsschutzkammer nach § 74 a GVG, Jugendschutzkammer nach § 74 b GVG.

Für alle übrigen Verfahren ist das Amtsgericht zuständig (§ 24 GVG):
– das Schöffengericht, wenn eine Strafe von mehr als 2 Jahren zu erwarten oder die Tat als Verbrechen gekennzeichnet ist (§ 29 GVG),
– der Strafrichter (Einzelrichter) in allen übrigen Fällen. (§ 25 GVG)

Darüber hinaus kann im Strafrecht auch das Oberlandesgericht erstinstanzlich in den Fällen des § 120 GVG zuständig sein.


Zusammenfassung

1. Wird eine Tat wenigstens teilweise in der Bundesrepublik Deutschland begangen, reicht dies aus um sie zu einer Inlandstat zu machen. Die Tat ist dabei als gesamter strafrechtlich relevanter Lebenssachverhalt gemeint.

2. Lehrer müssen, um ihrer Sorgfaltspflicht zu genügen, bei der Planung einer Klassenfahrt ins Ausland den sichersten Weg beschreiten und daher bei allen teilnehmenden Schülern das etwaige Bestehen von Vorerkrankungen oder gesundheitlichen Besonderheiten schriftlich abfragen.

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