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Spice
BGH, Urteil vom 11.09.2019 – 2 StR 563/18 – BeckRS 2019, 34879

Sachverhalt

A, S und K trafen sich abends in der Wohnung von A, um dort zu „chillen“. Als ihnen langweilig wurde, verließen sie die Wohnung und liefen, jeweils mit Mobiltelefonen ausgerüstet, in der Stadt umher. Zwischen 0.00 und 0.30 Uhr befanden sie sich auf dem Gelände der Kreisrealschule und trafen dort zufällig auf den M, der allen Beteiligten bekannt war. A, S und K erkannten, dass M, erheblich alkoholisiert war (BAK von 2,26 pro Mille). In der Folge stand M mit A, S und K zusammen. K holte nun einen Joint mit „Spice“ hervor, der von A hergestellt wurde und den Wirkstoff 5F-ADB enthielt. Dieses synthetische Cannabinoid wirkt um ein Vielfaches stärker als normales THC. K und S nahmen im Wechsel einige Züge von dem Joint. M fragte, ob er den Joint auch einmal haben könne. K und S folgten dieser Bitte nicht. Sie hatten zwar keine Kenntnis von gesundheitlich negativen Folgen des Joints, wussten aber, dass es sich nach Aussagen des A um „starkes Zeug“ handele. M rief „Kindergarten“ in Richtung von A, S und K, nahm dem K eigenmächtig den Joint aus der Hand und rauchte einen Zug. Danach ging er einen Schritt zurück und nahm einen zweiten Zug. Sodann machte er einen Schritt nach vorne und ging unter dem vernehmbaren Ausspruch „Ups“ zunächst auf die Knie, bevor er nach vorne auf die Wiese fiel und regungslos liegen blieb. A, S und K waren schockiert und rannten einige Meter davon. S beschloss aber sodann, nach dem Geschädigten zu schauen, und lief zu ihm zurück. M erbrach sich nun ein erstes Mal. S und K brachten ihn in eine „Art stabile Seitenlage“, wobei sich M zwei weitere Male erbrach. M war nicht ansprechbar. Die A, S und K beschlossen, dem M keine weitere Hilfe, etwa durch einen Notruf, zukommen zu lassen, da sie im Hinblick auf den von dem Geschädigten konsumierten Joint strafrechtliche Konsequenzen fürchteten. K fertigte um 0.30 Uhr ein kurzes Video von dem M und äußerte dazu: „Ich hab dem sein Leben gerettet, Alter“. Die Angeklagten erkannten weder den tödlichen Ausgang des Geschehens noch nahmen sie seinen Tod billigend in Kauf. M verstarb vermutlich spätestens um 4.00 Uhr an einem zentralen Regulationsversagen, verursacht durch eine Mischintoxikation von Alkohol und dem synthetischen Cannabinoid 5F-ADB. M wurde gegen 6.10 Uhr tot aufgefunden. Bei unverzüglichem Absetzen eines Notrufs wäre eine Rettung überwiegend wahrscheinlich gewesen. 

Strafbarkeit von A, S und K? 

Bearbeitungshinweis: Der Wirkstoff 5F-ABD war zum Tatzeitpunkt noch nicht in der Anlage II zum BtMG enthalten.


Skizze


Gutachten

A. Strafbarkeit gem. §§ 222 I, 13 I StGB

A, S und K könnten sich (nebentäterschaftlich) der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen gem. §§ 222 I, 13 I StGB strafbar gemacht haben, indem sie keinen Notruf absetzten, nachdem M einen Zug von dem Joint mit „Spice“ nahm, zusammenbrach und sich mehrfach erbrach.

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) Taterfolg

Der tatbestandsmäßige Erfolg des Todes eines anderen ist durch das Versterben des M eingetreten.

b) Unterlassen trotz Möglichkeit

Zudem müssten es A, S und K jeweils trotz physisch-realer Möglichkeit unterlassen haben, eine (gebotene) Handlung vorzunehmen. Alle drei waren zwar mit Mobiltelefonen ausgerüstet, setzten jedoch keinen Notruf ab.

c) Quasikausalität

Dieses Unterlassen müsste für den Erfolg auch kausal gewesen sein. Ein Unterlassen ist für den Erfolg dann kausal, wenn die Vornahme der gebotenen Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. [1]Ransiek, JuS 2010, 490, 492. Hier hätte ein Notruf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem erfolgreichen Rettungsverlauf geführt. Quasikausalität liegt mithin vor.

Anmerkung: Anforderungen an den Kausalitätsnachweis
Im Originalfall war eine Rettung zwar möglich, aber gerade nicht hinreichend sicher. Vgl. zu diesem Problem die Zusatzfrage.
d) Objektive Fahrlässigkeit

A, S und K müssten auch objektiv fahrlässig gehandelt haben. Dafür müsste zunächst eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vorliegen. Der Sorgfaltsmaßstab richtet sich nach den Anforderungen, die an einen gewissenhaften und besonnenen Menschen, der sich in der konkreten Lage befindet und dem Verkehrskreis des Täters angehört, bei einer ex-ante Betrachtung der Gefahrenlage zu stellen sind.[2]Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 49. Aufl. 2019, Rn. 667a. Hier durfte von einem solchen gewissenhaften und besonnenen in der Lage der A, S und K erwartet werden, dass er in Anbetracht des Zustandes des M Rettungskräfte herbeiruft. Da sie dies nicht taten liegt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vor. Zudem müsste der Eintritt des Erfolges bei Verletzung dieser Sorgfaltspflicht für die drei objektiv vorhersehbar gewesen sein. Objektive Vorhersehbarkeit liegt vor, wenn der eingetretene Erfolg nach allgemeiner Lebenserfahrung, sei es auch nicht als regelmäßige, so doch als nicht ungewöhnliche Folge, erwartet werden konnte.[3]Vgl. Kühl, in: Lackner/Kühl, 29. Aufl. 2018, § 15 Rn. 46 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. Spätestens nach Wiedereintreffen von A, S und K auf dem Schulhof und der Wahrnehmung des unveränderten Zustands des M, war es nach allgemeiner Lebenserfahrung ein tödlicher Verlauf erwartbar. Daher handeln die A, S und K vorhersehbar und damit objektiv fahrlässig.

e) Objektive Zurechnung

Der Erfolg müsste A, S und K auch objektiv zurechenbar sein. Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg, wenn der Täter ein rechtlich missbilligtes Risiko schafft, das sich im tatbestandlichen Erfolg niederschlägt.[4]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 46. Das Unterlassen des Notrufes schafft das rechtlich missbilligte Risiko der Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis hin zu einer letalem Verlauf. Dieses Risiko schlägt sich hier in dem Tod des M nieder. Daher ist der Erfolg objektiv zurechenbar.

Vernetztes Lernen: Wieso kommt es hier nicht auf eine etwaige freiverantwortliche Selbstgefährdung an?
Grundsätzlich kann eine freiverantwortliche Selbstgefährdung zurechenungsunterbrechend wirken. Hier ist aber zu beachten, dass wir uns in der Prüfung einer Unterlassensstrafbarkeit befinden. Die Strafbarkeit wird hier nicht an das Herstellen oder Herausholen des Joints geknüpft. Eine solche Strafbarkeit durch aktives Tun wäre durch die eigenmächtige Handlung des M unterbrochen. Diese Zweiaktigkeit des Geschehens mag zunächst wertungswidersprüchlich erscheinen, jedoch lässt sich die freiverantwortliche Selbstgefährdung im Rahmen der Garantenpflicht berücksichtigen. Vgl. dazu sogleich.
e) (P) Garantenpflicht

Zudem müsste für die A, S und K jeweils eine Garantenpflicht bestanden haben. Ein unechtes, dem aktiven Tun gleichgestelltes Unterlassen setzt nämlich gem. § 13 StGB eine besondere rechtliche Einstandspflicht für einen tatbestandlichen Erfolg voraus.

aa) Zugehörigkeit zu einer Gefahrengemeinschaft

Zunächst kommt eine Garantenpflicht aus Zugehörigkeit zu einer Gefahrengemeinschaft in Betracht. Eine solche kommt in Frage, wenn Menschen sich zumindest vorübergehend freiwillig in einer Gemeinschaft befinden, die ihrem Wesen nach auf gegenseitige Hilfe angelegt ist.[5] Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 23. Abzugrenzen sind solche Gefahrengemeinschaften von losen Zusammenschlüssen, wie es bei gemeinschaftlichem Alkohol- oder Rauschgiftkonsum der Fall ist.[6]BGH NJW 1954, 1047, 1048; NStZ 1983, 454; BayObLG NJW 1953, 556 stellt fest, dass zu der Zechgemeinschaft noch weitere Umstände, wie das Überreden zum übermäßigen Alkoholkonsum hinzutreten … Continue reading Zwar basieren diese Zusammenschlüsse in der Regel auf einer Freiwilligkeit. Aber aus ihrem Zuschnitt lässt sich kaum eine konkludente gegenseitige Hilfszusage erkennen.[7] Freund, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. 2020, § 13 Rn. 174. Im vorliegenden Fall handelt es sich zunächst gerade um eine solche Konsumgemeinschaft. Ein davon abweichender Bewertung könnte hier nur deshalb geboten sein, weil der Konsum eines Joints mit „Spice“ objektiv und vor allem in Kombination mit Alkohol gefährlicher ist als das Rauchen „gewöhnlicher“ Cannabissorten. Aus zwei Gründen lässt sich dennoch keine Gefahrengemeinschaft begründen: Erstens lehnten die S und K es ab, den M in den Kreis der Konsumenten mit aufzunehmen, ihn also Teil der (Gefahren-)Gemeinschaft werden zu lassen. Zweitens war den A, S und K nicht die konkrete Gefährlichkeit des „Spice“ mit dem Wirkstoff 5F-ABD bekannt, die den gemeinsamen Konsum hätte von der einfachen Konsumgemeinschaft abheben können. Deshalb steht die gemeinsame Absicherung gerade nicht im Zentrum des gemeinsamen Konsumvorhabens. Daher liegt keine Garantenpflicht aus Zugehörigkeit zu einer Gefahrengemeinschaft vor.

bb) Tatsächliche Übernahme

Eine Garantenpflicht hätte aber auch aus tatsächlicher und freiwilliger Übernahme von Verantwortung resultieren können, wenn einseitig Schutzfunktionen übernommen werden, die eine berechtigte Erwartung des Rechtsgüterschutzes begründen.[8]Ransiek JuS 2010, 585, 588.  Eine solche Übernahme lässt sich unter Anknüpfungen an verschiedene Handlungen der Beteiligten diskutieren: 

Erstens könnte die Übernahme von Verantwortung darin gesehen werden, dass die K und S dem M den Konsum verwehrten. Dabei handelt es sich aber letztlich lediglich um ein von der Rechtsordnung anderweitig gefordertes Verhalten, nämlich die Vermeidung eines pflichtwidrigen Verhaltens. Wären K und S nämlich dem Ansinnen des M nachgekommen und hätten ihm den Joint überlassen, so hätte diese Handlung ihrerseits eine Ingerenzhaftung begründen können.[9] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 17. 

Zweitens kann in der eigenmächtigen Wegnahme des Joints durch M keine verantwortungsbegründende Übernahme von K gesehen werden, da es sich lediglich um Drittverhalten handelt.[10] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 17

Drittens könnte in dem Verbringen des M in eine Art stabile Seitenlage durch K und S eine konkludente Zusage gesehen werden, sich weiter um diesen zu kümmern, sollte sich sein Zustand nicht alsbald verbessern. Jedoch handelt es sich bei solchen Erste-Hilfe-Maßnahmen allein um die ungenügende Erfüllung der aus § 323c StGB resultierenden Pflichten. Eine darüberhinausgehende Übernahme der Obhut würde dazu führen, dass derjenige der überhaupt Rettungsmaßnahmen einleitet schlechter gestellt würde als derjenige, der gar keine Handlungen in diese Richtung vornimmt. Darin würde ein handgreiflicher Wertungswiderspruch liegen.[11] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 18; so auch Hoyer Anm. zu BGH NStZ 1994, 84, 85. Anders liegt es nur dann, wenn die freiwillige Übernahme einer Hilfeleistung andere konkrete Rettungsmöglichkeiten vereitelt oder die Situation des Hilfsbedürftigen sonst risikofördernd verändert.[12] Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 27; eingehend Mitsch JuS 1994, 555. Eine solche Konstellation wäre beispielsweise dann vorliegend, wenn die A, S und K den M an einen anderen Ort verbrachten, wo ein Auffinden durch Dritte unwahrscheinlicher würde. Ähnliches gelte, wenn sie die Hilfe anderer nächtlich Spazierender verhinderten, indem sie sagten, dass „sie sich schon kümmern würden“. Eine solche „Verschlechterung“ oder „Veränderung“ der Lage lag hier jedoch nicht durch die A, K oder S vor, sodass eine Garantenstellung aus tatsächlicher Gewährübernahme zu verneinen ist.

cc) Ingerenz

Sodann kommt eine Garantenpflicht aus Ingerenz in Betracht. Eine solche Pflicht entsteht, wenn durch ein pflichtwidriges Vorverhalten die nahe Gefahr des konkreten tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht wurde.[13]Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 32. Fraglich ist zunächst, ob die Herstellung des Joints mit „Spice“ und die Abgabe an K durch A pflichtwidrig war. Dagegen spricht zunächst, dass „Spice“ mit dem Wirkstoff 5F-ABD zum Tatzeitpunkt noch nicht dem BtMG unterstellt und daher die Herstellung und Weitergabe nicht mit Strafe belegt war. Damit allein dürfte eine Pflichtwidrigkeit jedoch noch nicht völlig ausgeschlossen sein[14]Vgl. auch Brüning ZJS 2017, 727, 731., wenn dem A die konkrete Gefährlichkeit des Wirkstoffes bekannt gewesen wäre. Dies war jedoch gerade nicht der Fall. Der A wusste lediglich, dass es sich um Rauschgift mit besonders starker Wirkung handele, weshalb er den K darauf hinwies, dass es sich um „starkes Zeug“ handele. 

Auch für K und S kann sich aus dem geteilten Konsum kein pflichtwidriges Verhalten ergeben, da sie völlig eigenverantwortlich und nur in Bezug auf den eigenen Konsum handelten.  

Anmerkung: Freiverantwortliche Selbstgefährdung
Selbst wenn man eine Pflichtwidrigkeit trotz dessen bejahen würde, begründet sie nicht die naheliegende Gefahr, dass der M den Joint konsumieren würde. Denn selbst bei dem Zusammentreffen mit dem M auf dem Schulgelände war die eigenmächtige Wegnahme durch den M nicht für den A vorhersehbar.[15] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 22 f. Auch für K und S lässt sich eine Vorhersehbarkeit kaum verneinen. Auf die freiverantwortliche Selbstgefährdung des M wird bei der Gefahrenherrschaft näher eingegangen.

Ein anderes positives Tun, mit dem K und S die Gefahr der Gesundheitsschädigung des M verursachten kann auch insbesondere nicht in der Weigerung der Übergabe des Joints gesehen werden, da diese gerade der Vermeidung einer Gefahrschaffung und einer Garantenpflicht aus Ingerenz dient.[16]BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 24. Die Nichtverhinderung der Wegnahme oder ein mögliches Herausgabeverlangen stellen indessen keine positiven Handlungen dar und bedürften zu ihrer Beachtlichkeit ihrerseits eine Handlungspflicht.[17]BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 25. Daher ist auch eine Garantenpflicht aus Ingerenz zu verneinen.

dd) Gefahrenherrschaft

Letztlich kommt eine Garantenpflicht aus der Herrschaft über eine Gefahrenquelle in Betracht. Werden die gebotenen Schutzvorkehrungen, die nach Würdigung der Gesamtumstände, insbesondere des Gefahrengrades, notwendig und zumutbar sein müssen, nicht getroffen, kann sich eine Unterlassensstrafbarkeit ergeben.[18] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 27; BGH NStZ 2012, 319, 320. Ob sich diese sodann aus der Nichtvornahme von Rettungshandlungen ergeben kann ist umstritten, weil sich die Pflicht zunächst einmal auf die Absicherung der Gefahrenquelle bezieht. Letztlich lässt sich aber eine Rettungspflicht, bei Realisierung der Gefahr zumindest über die Ingerenzdogmatik begründen, wenn man in der Nichtvornahme ausreichender Sicherungsmaßnahmen ein pflichtwidriges Vorverhalten erblickt.[19]Brüning ZJS 2017, 727, 731; Kudlich JA 2012, 470, 472; Kudlich JA 2017, 229, 231; Og˘lakcιog˘lu NStZ-RR 2012, 246, 247.

Anmerkung: Aufbau
Aus diesem Grund wäre es auch mit entsprechender Erläuterung gut vertretbar folgende Ausführungen innerhalb der Ingerenz zu prüfen und hinsichtlich des Anknüpfungspunktes zwischen der Herstellung, Weitergabe, Herausholen des Joints und der nicht hinreichenden Sicherung zu differenzieren.

Eine solche Gefahrenquelle könnte A durch die Herstellung und K durch das Herausholen des Joints geschaffen haben.

(1) Freiverantwortliche Selbstgefährdung
(a) Verhältnis von freiverantwortlicher Selbstgefährdung und Garantenpflicht

Fraglich ist, ob eine freiverantwortliche Selbstgefährdung des M eine Garantenpflicht ausschließen kann. Nach der herrschenden Meinung in der Literatur schließt eine freiverantwortliche Selbstgefährdung auch das Entstehen einer Garantenpflicht aus. Der Grund dafür liegt in Folgendem: Die objektive Zurechnung eines Körperverletzungs- oder gar Tötungserfolges zu einem Dritten ist gestört, weil dem Opfer aufgrund seines Verhaltens die Verantwortung für den Erfolg zugeschrieben wird. Eine Verantwortung des Dritten im Rahmen der Unterlassungshaftung zu begründen, sobald sich das Risiko realisiert hat, ist dann zumindest nicht ohne weiteres erklärbar.[20] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 19; Vgl. auch Fünfsinn StV 1985, 57. Die Rechtsprechung nimmt dann eine Ausnahme an, wenn sich das Gefahrenpotential für das Leben des Selbstgefährdenden zu realisieren beginnt. In einem solchen Fall soll die eigenverantwortliche Selbstgefährdung die Entstehung einer Erfolgsabwendungspflicht nicht hindern.[21]BGH NStZ 2016, 406, 407; vgl. auch bereits BGH NStZ 1984, 452; sowie BGH NStZ 2017, 219, 220; NStZ 2017, 223, 225. Die Rechtsprechung begründet diese Ansicht damit, dass bei der Selbstgefährdung anders als bei der Selbsttötung nur das Risiko eines Erfolgseintritts eingegangen wird. Entwickle sich das auf die Gefährdung angelegte Geschehen jedoch erwartungswidrig in Richtung auf den Verlust des Rechtsguts, erfasse die ursprüngliche Entscheidung der Hinnahme des Risikos nicht den Verzicht auf Maßnahmen zum Erhalt des Rechtsguts.[22]BGH NStZ 2016, 406, 407; vgl. zum Rechtssprechungswandel im Fall des Tatherrschaftswechsel bei der freiverantwortlichen Selbsttötung BGH NJW 2019, 3089. Diese Auffassung wird im Schrifttum überwiegend als wertungswidersprüchlich kritisiert.[23]Eisele JuS 2016, 276Jäger JA 2016, 392Lorenz NStZ 2017, 226; Roxin StV 2016, 428; Schiemann NJW 2016, 176, 178. Sie droht die nach der freiverantwortlichen Selbstgefährdung gefundene Verteilung von  Verantwortung zu unterlaufen und dem Herrschenden über eine Gefahrenquelle zum „Vormund und Hüter all derer zu machen, die sich freiverantwortlich dieser Gefahrenquelle aussetzen.“[24]Jäger JA 2016, 392, 394. Eine Stellungnahme kann hier unterbleiben, wenn gar keine freiverantwortliche Stellungnahme vorliegt.

(b) Vorliegen einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung

Ob eine freiverantwortliche Selbstgefährdung vorliegt, ist in zwei Schritten zu prüfen: Damit es sich um eine Selbst- nicht um eine Fremdgefährdung handelt muss der Geschädigte die Tatherrschaft über die letztlich gefährdende Handlung innehaben.[25]Vgl. Rönnau JuS 2019, 119 f.; vgl. auch für die freiverantwortliche Selbsttötung BGH NJW 2019, 3089 f. Hier hat der M ohne Zweifel die Tatherrschaft über den letztlich gefährdenden Akt des Konsums. 

Sodann ist zu prüfen, ob die Selbstgefährdung auch freiverantwortlich ist. Umstritten ist indessen, anhand welcher Kriterien Freiverantwortlichkeit zu prüfen ist. Nach der zum Teil vertretenen „Exkulpationslösung“ soll mit Blick auf die §§ 19, 20, 35 StGB und § 3 JGG maßgebend sein, ob der Geschädigte schuldhaft handeln würde, wenn er jemand anderen schädigen bzw. gefährden würde.[26]Vgl. Brand/Lotz JR 2011, 513, 517. Die von der wohl überwiegenden Auffassung und Rechtsprechung vertretene „Einwilligungslösung“ setzt einen strengeren Maßstab und fragt, wie bei der Einwilligung, danach, ob der Geschädigte Inhaber des Rechtsguts ist, frei von Willensmängeln und in Kenntnis der Reichweite seiner Entscheidung handelt.[27]BGH NJW 2019, 3089 m.w.N.; Eser/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, Vorb. §§ 211 ff. Rn. 36; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht Allgemeiner Teil, 49. Aufl. … Continue reading  Im Hinblick auf die Exkulpationslösung ist zu fragen, ob die Alkoholisierung des M eine Schuldunfähigkeit begründen würde gesetzt dem Fall, dass er Dritte gefährden würde. Bei BAK-Werten zwischen 2 und 3 pro Mille ist das Bild jedoch recht uneinheitlich und kann hier mangels weiterer Angaben kaum abschließend geklärt werden. [28]Vgl. eingehend Perron/Weißer, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 16b.Ob der M tatsächlich die Reichweite der Gefährdung i.S.d. Einwilligungslösung nachvollziehen kann, dürfte zweifelhaft sein. Zwar schließt eine erhebliche Alkoholisierung allein eine Freiverantwortlichkeit noch nicht aus. Jedoch konnte der M sich kein Vorstellungsbild von der konkreten Gefährlichkeit des Konsums machen, wurde er doch nicht einmal von A gewarnt, dass es sich um „starkes Zeug“ handele. Die Kombination aus Alkoholisierung und mangelnder Kenntnis über den konkreten Wirkstoff muss zu einer Ablehnung der Freiverantwortlichkeit nach der Einwilligungslösung führen. Eine Garantenstellung kann nicht aus diesem Grund entfallen.

Vernetztes Lernen: Wie ist weiter zu prüfen, wenn die Freiverantwortlichkeit zu verneinen ist?
Liegt nach diesen Kriterien keine Freiverantwortlichkeit vor, ist zu differenzieren: Täuscht der Handelnde das Opfer, sodass ein (beachtlicher) Irrtum entsteht, nutzt seinen Einwilligungsunfähigkeit aus oder erkennt die Tragweite seiner Entscheidung besser, so ist eine mittelbare Täterschaft gem. § 25 I Alt. 2 StGB zu prüfen.[29]Letztlich wird so überprüft, ob dem Handelnden nicht doch eine Willens- oder Wissensherrschaft zukommt. Daher ist die Freiverantwortlichkeit auch keine von der Tatherrschaft losgelöster … Continue reading Er macht den selbstgefährdenden Geschädigten zum Werkzeug gegen sich selbst. Hätte der Handelnde bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt einen Wissensvorsprung erlangen können (etwa weil ihn eine Prüfpflicht trifft), so steht eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Frage.[30]BGH NJW 2009, 2611; Lange/Wagner NStZ 2011, 67; sowie ferner BGH, NStZ 2011, 341. Hier nutzt zwar der Handelnde die Verantwortungsmängel des Geschädigten nicht aus, hätte aber in einem besseren Maße als der Geschädigte die Gefährlichkeit erkennen können und müssen.
(2) Unvorhersehbare Selbstgefährdung

Dennoch ist es sowohl für den A als auch für K und S nicht vorhersehbar gewesen, dass sich der M (ungeachtet der Freiverantwortlichkeit) selbst gefährden würde. Die Verletzung einer Pflicht zur Absicherung der Gefahrenquelle kann aber nur dann angenommen werden, wenn die Gefahr der Realisierung nahegelegen hat. So war für den A zwar eine Gefährdung der Rechtsgüter des K und des S auf dem Schuldgelände vorhersehbar. Nach Verweigerung der Übergabe des Joints an den M war eine eigenmächtige Wegnahme jedoch kaum vorherzusehen. Daher ist eine unzureichende Gefahrverhütung in Richtung des M abzulehnen. 

Anmerkung: Parallele zum Begehungsdelikt
Insofern zeigt sich hier auch die Kohärenz zur Begehungsstrafbarkeit: Da der M nicht freiverantwortlich handelte, bleiben zumindest gedanklich einen mittelbare Täterschaft und eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu prüfen. § 25 I 2 StGB kann aber schon nicht angenommen werden, weil die A, S und K nicht über überlegenes Wissen verfügten und den M durch den Joint schädigen wollten. Im Gegenteil: sie versuchten ihn vom Konsum abzuhalten. Interessant ist deshalb die parallele zur Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, die aber ebenfalls abzulehnen wäre, weil die Selbstgefährdung des M nicht vorhersehbar war und die Beteiligten deshalb kein Fahrlässigkeitsvorwurf treffen kann.
ee) Zwischenergebnis

Eine Garantenpflicht der A, S und K liegt mithin nicht vor.

b) Zwischenergebnis

Der objektive Tatbestand liegt nicht vor.

2. Zwischenergebnis

Der Tatbestand ist nicht erfüllt.

II. Ergebnis

A, S und K sind nicht gem. §§ 222 I, 13 I StGB strafbar.

B. Strafbarkeit der A, S und K gem. § 323c I StGB

A, S und K könnten sich jedoch (nebentäterschaftlich) der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323c I StGB strafbar gemacht haben, indem sie keinen Notruf absetzten.

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand
a) Unglücksfall

Dafür müsste ein Unglücksfall vorgelegen haben. Ein Unglücksfall ist jedes plötzliche Ereignis, das erhebliche Gefahren für Personen oder Sachen von bedeutendem Wert mit sich bringt oder zu bringen droht.[31]Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 21. Aufl. 2020, § 42 Rn. 3. Bei dem Zusammenbruch des M handelt es sich um ein unvorhersehbares Ereignis, das Lebensgefahren mit sich bringt. Dass sich dieser Zustand aus einer Selbstgefährdung des M realisiert, ändert daran insofern nichts, als dass es sich nicht um eine freiverantwortliche Selbstgefährdung handelt, die sich schon gar nicht mit einem freiverantwortlichen Selbsttötungsversuch vergleichen lässt.[32]Hecker, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 323c Rn. 8.Daher liegt ein Unglücksfall vor.

b) Unterlassene Hilfeleistung

T müsste auch mit Vorsatz gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller wesentlicher Tatumstände zum Zeitpunkt der Tat.[33]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2019, § 14 Außerdem müsste die unterlassene Hilfeleistung, also das Nichtabsetzen eines Notrufes erforderlich und zumutbar gewesen sein. Erforderlich ist die Hilfeleistung, wenn sie nach dem Urteil eines verständigen Beobachters geeignet und notwendig ist, um drohende weitere Schäden abzuwenden.[34]Hecker, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 323c Rn. 14. Nicht zumutbar ist die Hilfeleistung, wenn sich der Täter durch sie einer erheblichen eigenen Gefahr aussetzt oder andere wichtige Pflichten verletzt.[35]Hecker, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 323c Rn. 19. Ein verständiger Dritter hätte es in Anbetracht des gesundheitlichen Zustandes des M, namentlich dem mehrmaligen Erbrechen und dem Ausbleiben der Besserung für nötig erachtet, einen Notarzt zu rufen, um schwerwiegende Folgen für den M abzuwenden. Die A, S und K hätten sich auch selbst keinen Gefahren, nicht einmal der Strafverfolgung ausgesetzt, wenn sie ärztliche Hilfe herbeigerufen hätten. Schließlich haben sie sich durch ihr Vorverhalten nicht strafbar gemacht. (s.o.) Daher liegt eine unterlassene erforderliche und zumutbare Hilfeleistung vor.

Anmerkung: Gefahr der Strafverfolgung
Selbst hätten sich die Beteiligten durch ein Vorverhalten strafbar gemacht, so wäre ihnen die Hilfeleistung dennoch zumutbar, da ihr Vorverhalten im direkten Zusammenhang mit dem Unglücksfall stehen würde und zudem eine Gefahr für das Leben des M im Raum stand. Unzumutbarkeit wegen der Gefahr der Strafverfolgung kann nur vorliegen, wenn die Straftat in keinerlei Beziehung zu dem Unglücksfall steht.[36]Hecker, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 323c Rn. 20.

2. Subjektiver Tatbestand

A, S und K müssten auch mit Vorsatz gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller wesentlicher Tatumstände zum Zeitpunkt der Tat.[37]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 5. Hier wussten die drei Beteiligten um die Gefahren für die Gesundheit des M und davon, dass eine Hilfeleistung erforderlich und zumutbar gewesen wäre. Daher liegt auch der subjektive Tatbestand vor.

II. Rechtswidrigkeit

T könnte jedoch durch eine rechtfertigende Einwilligung des G geRechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. A, S und K handelten rechtswidrig.

III. Schuld

Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Daher handeln A, S und K auch schuldhaft.

IV. Ergebnis

A, S und K machen sich (nebentäterschaftlich) gem. § 323c I StGB strafbar.


Zusatzfragen

Auf welchem Gedanken baut die Strafbarkeit nach 323c StGB auf? Fällt dir eine weitere Ausprägung dieses Gedankens aus dem StGB ein?
Das echte Unterlassungsdelikt des § 323c StGB fußt auf dem Gedanken der „Solidarität“ eines jeden in Unglückssituationen. Eine parallele Ausprägung findet sich in § 34 StGB. Hier hat der Inhaber des Eingriffsrechtsguts unter Umständen Verletzungen zu dulden, wenn sie in einer Interessenabwägung den gefährdeten Rechtsgütern unterliegen.[38]Kühl JuS 2007, 497, 499.
Im Originalfall konnte das Tatgericht nicht feststellen, ob ein Notruf zu einer Rettung des M geführt hätte. Welches Problem stellt sich also neben der Garantenpflicht?
Ebenso wie bei dem Begehungsdelikt ergeben sich dann Probleme, wenn die Kausalität, bzw. beim unechten Unterlassen die Quasikausalität nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen ist. Nach der h.M. gehen Unsicherheiten zu Gunsten des Täters (in dubio pro reo). Nach einer anderen Ansicht aber kann es genügen, wenn der Täter durch sein Tun oder Unterlassen das Risiko des Erfolgseintritts nicht nur unwesentlich erhöht hat (Risikoerhöhungslehre bzw. im Unterlassen Risikoverringerungslehre).[39]Vgl. Roxin ZStW 1974, 430 m.w.N.; sowie Otto, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 7. Aufl. 2004, § 9 Rn. 101. Gerade in der Unterlassensstrafbarkeit spricht gegen diese Ansicht jedoch, dass dem Täter ein Erfolg zugeschoben wird, den er möglicherweise gar nicht hätte verhindern können.[40]Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 63. Für diese Ansicht wird angeführt, dass der „konkrete“ Erfolg ein anderer sei, wenn die Erfolgswahrscheinlichkeit verringert worden wäre.[41]Otto, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 7. Aufl. 2004, § 9 Rn. 101. Das kann jedoch nicht überzeugen, da in der Regel nicht festzustellen sein wird, ob der Kausalverlauf tatsächlich ein anderer geworden wäre. Anders kann es nur liegen, wenn durch das Untätigbleiben sichtlich eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes stattgefunden hat.[42]Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 63. Dann aber verbleibt jedenfalls eine Strafbarkeit nach §§ 223 I, 13 I StGB. Letztlich muss aufgrund des Gewichts des Grundsatzes in dubio pro reo ein strenger Kausalitätsnachweis auch im Unterlassungsdelikt gefordert werden.

Zusammenfassung

1. Eine Garantenstellung aus der Zugehörigkeit einer Gefahrengemeinschaft liegt nicht bei einfachen Konsumgemeinschaften vor. Soll etwas anderes gelten, müssen alle Mitkonsumenten um die Gefährlichkeit des Vorhabens wissen und das Vertrauen auf das gegenseitige Einstehen zur „Geschäftsgrundlage des Vorhabens“ werden.

2. Eine Garantenpflicht aus tatsächlicher Übernahme lässt sich regelmäßig nicht aus der Einleitung von Erste-Hilfe-Maßnahmen ableiten. Darin kann lediglich der (ungenügende) Versuch gesehen werden, der Pflicht aus § 323c StGB nachzukommen. Eine Schlechterstellung des Hilfeleistenden gegenüber dem gar nicht Tätigwerdenden kann nicht überzeugen. Anders kann es nur bei einer Lageveränderung des Geschädigten liegen.

3. Eine Garantenstellung aus Ingerenz scheitert bei der Herstellung, Weitergabe und dem eigenständigen Konsum bereits, wenn die keine Pflichtwidrigkeit besteht. Gründe dafür sind, dass der in Frage stehende Wirkstoff nicht dem BtMG untersteht und ein Konsum durch Dritte nicht vorhersehbar ist.

4. Die Garantenpflicht aus Gefahrenherrschaft bedarf keines pflichtwidrigen Vorverhaltens. Von einer ungenügenden Absicherung der Gefahrenquelle kann jedoch dann nicht gesprochen werden, wenn sich die Gefahr durch eine unvorhersehbare Selbstgefährdung in die Richtung eines Dritten bewegt.

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