{"id":7989,"date":"2024-08-12T23:42:26","date_gmt":"2024-08-12T21:42:26","guid":{"rendered":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/?p=7989"},"modified":"2024-08-15T09:48:07","modified_gmt":"2024-08-15T07:48:07","slug":"polizeifestigkeit-von-unfriedlichen-versammlungen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/polizeifestigkeit-von-unfriedlichen-versammlungen\/","title":{"rendered":"Polizeifestigkeit von unfriedlichen Versammlungen"},"content":{"rendered":"
BVerwG, Beschluss vom 27.3.2024 – 6 C 1.22, NVwZ 2024, 1008\n\n\n\n (Gekürzt und abgewandelt)\n\n\n\n Am 30.04.2016 und 01.05.2016 jeweils von 8 – 18 Uhr findet auf dem Messegelände der Stadt S in Bundesland BW der Bundesparteitag der AfD-Partei (A) statt.\n\n\n\n Der L ist politischer Gegner der A-Partei und will verhindern, dass deren Parteitag in S stattfinden kann. Dazu hat er sich einer Gruppe angeschlossen, die einen entscheidenden Kreisverkehr zwischen Flughaften und Messegelände besetzen will, um die Anreise der Parteimitglieder zu stören oder sogar zu verhindern.\n\n\n\n Als die in schwarz oder in einmal verwendbaren weißen Overalls gekleideten, mehrheitlich vermummten Mitglieder der Gruppe in den frühen Morgenstunden des 30.04. an dem ausgewählten Kreisverkehr ankommen, versperren sie alle Ausfahrten des Kreisels mit von umliegenden Baustellen herangeschafften Baumaterialien. Die Mitglieder der Gruppe haben Transparente und Plakate dabei auf denen u.a. geschrieben steht: „AfD-Parteitag verhindern – Nationalismus ist keine Alternative“. Außerdem zünden Mitglieder der Gruppe Pyrotechnik.\n\n\n\n Die Polizei hatte bereits im Vorfeld herausgefunden, dass 850 – 1000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum derartige Ziele verfolgen würden und vorhätten an Gewalttaten bei der Eröffnung der EZB 2015 (also ein Jahr zuvor) anzuknüpfen.\n\n\n\n Die Polizei machte sich sodann auf den Weg zu dem Kreisverkehr. Als die Polizei in die Nähe des Kreisels kam, setzte sich die Gruppe von Aktivisten in Richtung des Messegeländes in Bewegung und es wurde eine sog. Rauchbombe in Richtung der Polizei gezündet und geworfen.\n\n\n\n Die Polizei kesselte sodann die Gruppe gegen 7:00 Uhr morgens ein, in dem sie von nebeneinander aufgereihten Polizist:innen umringt wurde. Aus einem der Polizeiwagen wurde dann über die Lautsprecher folgende Durchsage gemacht: „An alle Teilnehmer, die den friedlichen Verlauf der Versammlung stören: Sie genießen wegen ihrer Vermummung und der Errichtung von Barrikaden nicht mehr den Schutz des Versammlungsrechts. Sie befinden sich in polizeilichem Gewahrsam und werden in Kürze polizeilich behandelt.“\n\n\n\n Die eingekesselten rund 400 Personen wurden sodann einzeln abgeführt. Der L wurde gegen 8:00 Uhr aus dem Kessel geführt, in sog. Einwegschließen (Kabelbindern) gefesselt und in einem bereitstehenden Bus in die nahe gelegene Gefangenensammelstelle gebracht.\n\n\n\n Dort angekommen, kam es aufgrund der Vielzahl der abgeführten Personen zu Verzögerungen im Ablauf, so dass L erst gegen ca. 13:30 Uhr von der Polizei einer Identitätsfeststellung und der Erkennungsdienstlichen Behandlung (Fingerabdrücke, Fotoaufnahme) unterzogen wurde. Danach wurden ihm die Handfesseln abgenommen und er wurde in eine Einzelzelle in einen Gefangenenbus gesperrt.\n\n\n\n Der Polizei war es wegen weiterer Großeinsätze nicht möglich, weitere Kräfte für eine schnellere Bearbeitung hinzuzuziehen.\n\n\n\n Die Polizei vor Ort entschied zu diesem Zeitpunkt, dass mit einer richterlichen Entscheidung durch die ortsansässigen (und erreichbaren) Richter nicht vor Wegfall des Gewahrsamsgrundes zu rechnen war, weshalb eine richterliche Entscheidung nicht eingeholt wurde.\n\n\n\n Gegen 18 Uhr wurde dem L ein Platzverweis für das Messegelände bis zum 01.05.2016 um 20 Uhr erteilt. Er wurde zum 16 km entfernten Bahnhof in E gebracht, wo er dann gegen 20 Uhr aus dem polizeilichen Gewahrsam entlassen wurde.\n\n\n\n Während des gesamten Zeitraums wurde L kein Toilettengang ermöglicht und Trinkwasser vorenthalten.\n\n\n\n Kurz nach dem Vorfall lässt L durch seinen Anwalt Akteneinsicht nehmen. Ein Jahr später, am 02.05.2017 erhebt der L Klage. Er macht geltend, dass die polizeiliche Einkesselung, der polizeiliche Gewahrsam, die Fesselung, die Identitätsfeststellung und das Vorenthalten des Trinkwassers und die Nichtermöglichung eines Toilettengangs rechtswidrig waren. Er macht insbesondere geltend, dass das Versammlungsrecht diese Maßnahmen gar nicht zulasse. Damit die Polizei aber Maßnahmen auf Grundlage des Polizeirechts treffen könnte, müsste sie zunächst die Versammlung auflösen, was nicht geschehen war.\n\n\n\n Hat die Klage des L gegen die Ingewahrsamnahme und gegen das Nichtermöglichen des Trinkens Aussicht auf Erfolg?\n\n\n\n Bearbeitervermerk: Grundlage der Entscheidung ist das Versammlungsgesetz des Bundes (anwendbar in Bundesland BW) und das Polizeigesetz Baden-Württemberg. Auf entsprechende Vorschriften in anderen Bundesländern wird in der Lösung jeweils hingewiesen.\n\n\n\n \n\n\n\n\n\n Die Klage des L hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.\n\n\n\n Die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges richtet sich mangels aufdrängender Sonderzuweisung nach § 40 I 1 VwGO. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit ist dabei nach der modifizierten Subjektstheorie eine solche, bei der die streitentscheidenden Normen einseitig einen Träger öffentlicher Gewalt berechtigen oder verpflichten. Streitentscheidend sind hier das VersG und das PolG, die die zuständige Behörde als Träger öffentlicher Gewalt einseitig berechtigen und verpflichten. Die Streitigkeit ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art. Es könnte indes eine abdrängende Sonderzuweisung nach § 23 EGGVG vorliegen. Dafür müsste die Polizei repressiv, also zur Strafverfolgung und nicht präventiv, also zur Gefahrenabwehr, tätig geworden sein. Die Polizei hat die Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Straftaten ausgesprochen und ist somit nicht repressiv tätig geworden. Auch wenn die Identitätsfeststellung und die erkennungsdienstliche Behandlung Teil eines repressiven Vorgehens sein könnten, stellt sich der Einsatz im Ganzen als Maßnahme zur Gefahrenabwehr dar. Darum findet auch insbesondere die abdrängende Sonderzuweisung von § 23 EGGVG keine Anwendung. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet.\n\n\n\n Der L müsste eine statthafte Klage erhoben haben.\n\n\n\n Die statthafte Klageart richtet sich nach dem klägerischen Begehren, § 88 VwGO. L möchte die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen festgestellt haben. Die Maßnahmen haben sich bereits vor Klageerhebung erledigt. Soweit es sich um Maßnahmen mit Verwaltungsaktsqualitäten handelt, kommt eine Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I S. 4 VwGO (analog) in Betracht. Bei Maßnahmen, die sich in Realakten erschöpfen, kommt eine Feststellungsklage nach § 43 I VwGO in Betracht.\n\n\n\n Die Ingewahrsamnahme enthält ausdrücklich oder konkludent eine Duldungspflicht, also ein verbindliches Ge- und Verbot. Damit handelte es sich um eine Maßnahme mit Verwaltungsaktsqualität.\n\n\n\n Bei Maßnahmen mit Verwaltungsaktsqualität ist vor der Erledigung eine Anfechtungsklage nach § 42 VwGO statthaft. Die Ingewahrsamnahme hat sich jedoch spätestens mit der Entlassung des L aus der Maßnahme gegen 20 Uhr erledigt.\n\n\n\n Statthaft könnte damit eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog[1]Analog, weil § 113 I 4 VwGO direkt nur die Erledigung nach Klageerhebung aber vor Aufhebungserklärung durch das VG erfasst.Sachverhalt\n\n\n\n
\n\n\n\nSkizze\n\n\n\n\n\n
Gutachten\n\n\n\n
A. Zulässigkeit\n\n\n\n
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs\n\n\n\n
II. Statthafte Klageart\n\n\n\n
1. Klageart\n\n\n\n
a) Ingewahrsamnahme\n\n\n\n