{"id":7899,"date":"2024-07-24T11:11:50","date_gmt":"2024-07-24T09:11:50","guid":{"rendered":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/?p=7899"},"modified":"2024-07-24T23:21:30","modified_gmt":"2024-07-24T21:21:30","slug":"viertaegige-fesselung","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/viertaegige-fesselung\/","title":{"rendered":"Viertägige Fesselung"},"content":{"rendered":"

BVerfG, Beschluss v. 19.01.2023 – 2 BvR 1719\/21; BeckRS 2023, 2734\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n
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(Gekürzt und abgewandelt)\n\n\n\n

Der Beschwerdeführer B befindet sich nach Absitzen seines Strafvollzuges in der JVA seit neustem in Sicherungsverwahrung. In der JVA hatte er alle Ausführungen beanstandungsfrei absolviert; in der Sicherheitsverwahrung war es bislang nur zu einer gefesselten Ausführung gekommen, die aber unauffällig verlief. B leidet unter verschiedenen Krankheiten, die die Beweglichkeit sowie Biegungsfähigkeit seiner Gelenke stark beeinträchtigen, zu einer Arbeitsunfähigkeit seinerseits führten und bereits in der Vergangenheit Behandlungen in Krankenhäusern außerhalb des Vollzugs erforderlich machten. Laut der Anstaltsärztin ist durch diese gesundheitlichen Einschränkungen auch sein Ausbruchsrisiko gemindert. Wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden wurde B zwischen dem 13. und dem 16.10.2023 in die stationäre Behandlung im Krankenhaus aufgenommen. \n\n\n\n

Auf Grundlage einer allgemeinen Fesselungsanordnung der Anstalt erfolgten die Fahrten zwischen dem Ort der Sicherheitsverwahrung und dem Krankenhaus am 13.10. mit armverschränkender Handfesselung in einem vollvergitterten Transporter, der in einzelne Boxen unterteilt war, in Begleitung zweier bewaffneter Bediensteter. Bei der darauffolgenden Voruntersuchung war B durchgängig mit überkreuzten Händen gefesselt. Am Morgen des 14.10.2023 wurde er in Begleitung einer Bediensteten ohne Handfesselung, aber gefesselt am Fuß im eigenen Bett in den OP-Vorraum verbracht, wo ihm die Fußfessel abgenommen und durch eine über Kreuz angelegte Fesselung an den Händen ersetzt wurde. Auf dem OP-Tisch wurde ihm dann ein Venenzugang gelegt. Während der Vollnarkose wurde die Fesselung der Hände entfernt und nach dem Aufwachen erneut eine Handfessel angelegt. Nach zwei Stunden im Aufwachraum wurde die Handfessel durch eine am Bettrahmen befestigte Fußfessel ausgetauscht, die während der Nachsorge für weitere drei Tage angelegt blieb. Bei täglichen, durch zwei bewaffnete Bedienstete begleiteten Spaziergängen wurde B an den Händen statt an den Füßen gefesselt. Insgesamt wurde er also 96 Stunden ununterbrochen – wenn auch auf verschiedene Art und Weise – gefesselt. \n\n\n\n

Im Angesicht dieser Umstände entscheidet sich B im Nachgang der OP, die noch für ihn anstehenden und geplanten Operationen außerhalb des Vollzugs nicht mehr wahrnehmen zu wollen. Es sei menschenunwürdig und stigmatisierend, die zukünftigen Operationen und Untersuchungen in Krankenhäuser durchgängig gefesselt absolvieren zu müssen, obwohl er sich kein Fehlverhalten habe zu Schulden kommen lassen. Dies verstoße sowohl gegen das Folterverbot aus der EMRK als auch gegen seine Grundrechte. B gibt an, dass die lange und ununterbrochene Fesselung sein allgemeines Wohlempfinden und seinen Schlaf beeinträchtigt hätten: Wegen der Fesselung am Bettrahmen sei ein Drehen oder Anwinkeln der Beine unmöglich gewesen und die schweren Fußfesseln haben ihm, gerade auch wegen seiner Vorerkrankung, Schmerzen bereitet. Ebenso seien die Spaziergänge auf dem Klinikgelände durch die Handfesselung schmerzhaft gewesen. Überhaupt versteht B nicht, wieso die Fesselung notwendig gewesen sei, da er ohnehin neben seiner Fesselung auch stets durch zwei Vollzugsbedienstete bewacht worden sei. Die JVA habe gar nicht begründet, wieso er gefesselt werden müsse. Dass an die Begründung hohe Anforderungen zu stellen seien, hätte schon der EGMR festgestellt – was stimmt: So müssen bei Fesselungen die individuelle Vorgeschichte und der Gesundheitszustand des betroffenen Gefangenen sowie etwaiges gefährliches Vorverhalten in der Haft berücksichtigt werden. Auch die Dauer und öffentliche Wahrnehmbarkeit der Fesselung spielt nach Ansicht des EGMR eine Rolle – jedenfalls sei die mit der Fesselung verbundene Zwangsanwendung auf das unausweichliche Maß zu beschränken\n\n\n\n

Die zuständige JVA begründet, dass sie den B noch nicht lange kennen würde und ihn daher hinsichtlich seiner Missbrauchs- und Fluchtgefahr nicht ausreichend einschätzen könnte. Bei Ausführungen zum Arzt würden die Sicherheitsverwahrten generell aus Sicherheitsgründen gefesselt, da sich die Verhältnisse vor Ort im Vorfeld nicht immer abschließend bestimmen ließen und von Sicherheitsverwahrten eine besondere Gefahr ausginge. Außerdem hätten sich Fuß- und Handfessellungen abgewechselt, sodass er nicht unverhältnismäßig lange in einer bestimmten Hand- oder Fußposition ausharren musste. Insofern sei die Fesselung „sicherlich nicht angenehm“, aber „medizinisch unbedenklich“ gewesen.\n\n\n\n

Alle Rechtsmittel des B waren erfolglos. Die Instanzgerichte haben die Fesselung des B allesamt für verhältnismäßig befunden. Nun möchte er Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Entscheidung erheben.\n\n\n\n

Mit Erfolg?\n\n\n\n

Hinweis: Von der formellen Verfassungsmäßigkeit der Normen ist auszugehen.\n\n\n\n

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§ 69 Gesetz zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe (GRVF) – Besondere Sicherungsmaßnahmen\n\n\n\n

(1) Gegen Gefangene können besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn nach ihrem Verhalten oder auf Grund ihres seelischen Zustandes in erhöhtem Maße die Gefahr der Entweichung, von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr der Selbstverletzung oder Selbsttötung besteht. \n\n\n\n

(2) Als besondere Sicherungsmaßnahmen sind zulässig […] 6. die Fesselung oder Fixierung.\n\n\n\n

(7) Fixierungen dürfen nur angeordnet werden, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen erheblichen Selbstgefährdung oder einer von den Gefangenen ausgehenden erheblichen Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer unerlässlich ist und nach dem Verhalten der Gefangenen oder auf Grund ihres seelischen Zustandes andere, weniger einschneidende Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.\n\n\n\n

(8) Fesseln dürfen in der Regel nur an Händen oder Füßen angelegt werden. Bei Art und Umfang der Fesselung und Fixierung sind die Gefangenen zu schonen. Die Fesselung oder Fixierung ist unverzüglich zu lockern oder zu entfernen, sobald die Gefahr nicht mehr fortbesteht oder durch mildere Mittel abgewendet werden kann. \n\n\n\n

(9) Bei einer Ausführung, Vorführung oder beim Transport ist die Fesselung auch dann zulässig, wenn die Beaufsichtigung nicht ausreicht, eine Entweichung zu verhindern.\n\n\n\n

§ 69 Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz (SVVG) – Besondere Sicherungsmaßnahmen\n\n\n\n

Die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes über die besonderen Sicherungsmaßnahmen (§ 69), die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen und das Verfahren (§ 70) sowie die medizinische und psychologische Überwachung (§ 71) gelten entsprechend.\n\n\n\n\n\n


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Skizze\n\n\n\n\n\n

Gutachten\n\n\n\n
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Die Verfassungsbeschwerde des B hat Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.\n\n\n\n

A. Zulässigkeit\n\n\n\n

I. Zuständigkeit des BVerfG\n\n\n\n

Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG für Individualverfassungsbeschwerden zuständig. \n\n\n\n

II. Beschwerdefähigkeit\n\n\n\n

Gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG ist „jedermann“ und somit auch B als natürliche Person beschwerdefähig. \n\n\n\n

III. Beschwerdegegenstand\n\n\n\n

Beschwerdegegenstand kann gem. § 90 I BverfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. B möchte gegen die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung vorgehen. Mithin handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.\n\n\n\n

IV. Beschwerdebefugnis\n\n\n\n

B müsste nach § 90 I BVerfGG hinreichend geltend machen durch die Entscheidung des Gerichts in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt zum einen die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten und zum anderen eine Beschwer voraus.[1]Epping, Grundrechte, 10. Aufl. 2024, Rn. 178.