{"id":7821,"date":"2024-06-05T13:42:38","date_gmt":"2024-06-05T11:42:38","guid":{"rendered":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/?p=7821"},"modified":"2024-06-05T13:43:32","modified_gmt":"2024-06-05T11:43:32","slug":"die-todliche-klassenfahrt","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/die-todliche-klassenfahrt\/","title":{"rendered":"Die tödliche Klassenfahrt"},"content":{"rendered":"

LG Mönchengladbach, Urteil v. 15.2.2024 – 23 KLs 6\/23, BeckRS 2024, 1971\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n
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Zur Vorbereitung einer Schulfahrt an einer Gesamtschule in Mönchengladbach nach London hatte die Lehrerin S, die schon einige Klassenfahrten begleitet und organisiert hat und ihre Pflichten diesbezüglich kennt, eine unverbindliche Informationsveranstaltung für die teilnehmenden Schüler und ihre Eltern durchgeführt. Im Einladungsschreiben war darauf hingewiesen worden, dass die Möglichkeit zur Beantwortung etwaiger Fragen bestehe, nicht aber darauf, dass auch gesundheitliche Themen erörtert würden. S hatte im Plenum nach gesundheitlichen Besonderheiten der Teilnehmenden gefragt und darauf hingewiesen, dass etwaig erforderliche Medikamente selbst mitgeführt werden müssten. Im Anschluss daran hatte sie den Anwesenden Gelegenheit zur Nachfrage und zu einem Gespräch unter vier Augen gegeben. Das hatten einige Eltern genutzt, um S auf Vorerkrankungen oder Reiseübelkeit ihrer Kinder hinzuweisen. An der Informationsveranstaltung hatten auch E sowie der Lebensgefährte (M) ihrer Mutter teilgenommen. Weder E noch M hatten S an dem Informationsabend mitgeteilt, dass E unter Diabetes Typ I litt. Ob sie die mündliche Abfrage der P nach gesundheitlichen Besonderheiten der Teilnehmer und den Hinweis auf die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs überhaupt wahrgenommen hatten, konnte nicht festgestellt werden. Anders als bei Klassenfahrten an der Gesamtschule verpflichtend, hatte S vor, während oder nach dem Informationsabend das Vorliegen von Erkrankungen oder gesundheitlichen Besonderheiten und die Notwendigkeit einer bestimmten Medikation bei den Erziehungsberechtigten der minderjährigen Schüler nicht schriftlich abgefragt. Wäre eine solche verbindliche schriftliche Abfrage erfolgt, hätte die Mutter der E jedenfalls die Diabeteserkrankung ihrer Tochter angegeben, wenn nicht sogar das erforderliche Diabetesmanagement ergänzend mündlich oder schriftlich dargelegt.\n\n\n\n

Hätte S diese schriftliche Abfrage durchgeführt, in die Schulakte Einsicht genommen oder sich bei den Lehrern der E informiert, wäre ihr deren Diabeteserkrankung vor Beginn der Schulfahrt bekannt gewesen. Tatsächlich erfuhr S hiervon erst am Tag der Rückfahrt aus London. \n\n\n\n

Am ersten Tag der Klassenfahrt ging E mit ihren Freundinnen, darunter K, in einem chinesischen Restaurant essen. Nach der Rückkehr ins Hotel fühlten sich E und K unwohl und mussten sich jeweils übergeben. Während es K bereits am gleichen Abend wieder besser ging, wird der gesundheitliche Zustand von E über die nächsten drei Tage immer schlechter. E erbrach sich weiterhin und verbrachte die meiste Zeit auf ihrem Hotelzimmer im Bett. K informierte in dieser Zeit mehrfach die S über den schlechten Gesundheitszustand der E. Eine Nachschau seitens von S erfolgte, trotz anders getätigter Aussage gegenüber K, nicht. \n\n\n\n

Am letzten Tag der Klassenfahrt war E schläfrig, matt, verwirrt und kaum noch ansprechbar ist. Als S dies im Rahmen einer Zimmerkontrolle nach dem Frühstück erkannte, verständigte sie den Notarzt. Gleichzeitig telefonierte sie mit der Mutter der E, die ihnen dabei mitteilte, dass E unter Diabetes leide. Die Rettungskräfte veranlassten eine umgehende Krankenhauseinweisung. E verstarb am noch am selben Tag infolge eines durch eine schwerwiegende Stoffwechselentgleisung ausgelösten Herzinfarkts. Hätte S von der Diabeteserkrankung der E gewusst, hätte sie den wiederholten Mitteilungen von K stärkere Beachtung geschenkt und bereits am ersten Tag hierauf reagiert. Der Tod der E hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert werden können, wenn sie spätestens am Abend des ersten Tages stationär aufgenommen und (intensiv- )medizinisch versorgt worden wäre.\n\n\n\n

Wie hat sich S strafbar gemacht? Ggf. erforderliche Strafanträge gelten als gestellt.\n\n\n\n

Bearbeitungsvermerk: Es ist davon auszugehen, dass alle Personen deutsche Staatsangehörige sind.\n\n\n\n

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§ 42 SchulG NRW – Allgemeine Rechte und Pflichten aus dem Schulverhältnis (Auszug)\n\n\n\n

(1) Die Aufnahme der Schülerin oder des Schülers in eine öffentliche Schule begründet ein öffentlich-rechtliches Schulverhältnis. Aus ihm ergeben sich für alle Beteiligten Rechte und Pflichten. Dies erfordert ihre vertrauensvolle Zusammenarbeit.\n\n\n\n

§ 57 SchulG NRW – Lehrerinnen und Lehrer (Auszug)\n\n\n\n

(1) Lehrerinnen und Lehrer unterrichten, erziehen, beraten, beurteilen, beaufsichtigen und betreuen Schülerinnen und Schüler in eigener Verantwortung im Rahmen der Bildungs- und Erziehungsziele (§ 2), der geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften, der Anordnungen der Schulaufsichtsbehörden und der Konferenzbeschlüsse; sie fördern alle Schülerinnen und Schüler umfassend.\n\n\n\n

Sachverhalt als .pdf\n\n\n\n\n\n
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Skizze\n\n\n\n\n\n

Gutachten\n\n\n\n
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A. Strafbarkeit gemäß § 222, 13 I StGB\n\n\n\n

S könnte sich der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen gem. §§ 222, 13 I StGB strafbar gemacht haben, indem sie sich vor der Fahrt nicht über die gesundheitliche Information von E informiert sowie deren schlechten Gesundheitsstatus nicht überprüft hat und E anschließend aufgrund verspäteter (intensiv-)medizinischer Versorgung verstarb.\n\n\n\n

I. Anwendbarkeit deutschen Strafrechts\n\n\n\n

Da die Klassenfahrt in London stattgefunden hat und somit der Tod der E auch dort eingetreten ist, ist fraglich, ob das deutsche Strafrecht Anwendung findet. Nach § 9 I StGB ist eine Tat an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. Wird eine Tat wenigstens teilweise in der Bundesrepublik Deutschland begangen (§ 9 I StGB), reicht dies aus, um sie zu einer Inlandstat zu machen.[1]vgl. BGH NStZ 1986, 415 (Ls:); BGH NStZ 2016, 414 (414).