{"id":7797,"date":"2024-05-28T08:24:10","date_gmt":"2024-05-28T06:24:10","guid":{"rendered":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/?p=7797"},"modified":"2024-05-28T08:32:52","modified_gmt":"2024-05-28T06:32:52","slug":"verkehrssicherungspflichten-beim-aufstellen-von-e-rollern","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/verkehrssicherungspflichten-beim-aufstellen-von-e-rollern\/","title":{"rendered":"Verkehrssicherungspflichten beim Aufstellen von E-Rollern"},"content":{"rendered":"

OLG Bremen, Urteil vom 15.11.2023 – 1 U 15\/23, NJW 2024, 681\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n
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Der V vermietet gewerblich E-Roller in der Stadt B im sogenannten free-floating-Modell, das heißt ohne festen Standort der E-Roller. Das Ordnungsamt B erteilte dem V hierzu Ende 2019 eine auf § 18 Abs. 1 BremLStrG beruhende Sondernutzungserlaubnis zur Einbringung von bis zu 500 E-Rollern im öffentlichen Straßenraum der Stadt. In den Nebenbestimmungen unter Nr. 3 (Aufstellen der Fahrzeuge) heißt es unter anderem:\n\n\n\n

3 a) Bei der Auswahl der Standorte sowie bei Aufstellen der Fahrzeuge hat die Erlaubnisinhaberin die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zu gewährleisten. Die Belange von Senioren, Kindern und Menschen mit Behinderung sind dabei besonders zu berücksichtigen.\n\n\n\n

3 b) Werden die Fahrzeuge durch die Erlaubnisinhaberin aufgestellt oder umverteilt, muss am neuen Standort eine Restgehwegbreite von 1,50m verbleiben […]\n\n\n\n

Am frühen Morgen des 28.07.2020 stellt der V in der C-Straße zwei Roller nebeneinander an einer Hauswand auf. An dieser Stelle ist der Gehweg 5,50m breit. Die Roller stehen allerdings nicht parallel zur Hauswand, sondern in einem 90 Grad Winkel zu dieser, sodass die Roller in den Gehweg reichen. Die Roller selbst sind 1,15m lang. Besonderheiten der Örtlichkeit bestehen nicht.\n\n\n\n

Am selben Tag begeht K den Gehweg. K ist seit seiner Geburt an blind. Er nutzt zur Orientierung einen weißen Langstock, mit welchem er die Hauswände an einem Gehweg erfühlt und sich an diesen entlang orientiert. An den Rollern angekommen, welche bisher nicht wieder bewegt wurden, erkennt K den ersten Roller mit seinem Stock. Um das Hindernis zu überwinden will K einen Ausfallschritt über den ersten Roller machen. Dabei tritt er auf den zweiten Roller, rutscht aus und stürzt zu Boden. Durch den Sturz erleidet K einen Oberschenkelhalsbruch. K ist empört und will nunmehr Schadensersatz in Höhe von 20.000,00 EUR von V. Er ist der Meinung, dass V beim Aufstellen der Roller entgegen der erteilten Sondernutzungserlaubnis, § 18 Abs. 1 BremLStrG und letztlich Art. 20 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die Belange von Sehbehinderten nicht ausreichend bedacht hat. Die Roller hätten parallel zur Hauswand und nicht etwa quer zum Gehweg aufgestellt werden müssen. Seine Erfolgsaussichten schätzt K zudem gut ein, schließlich hat er von einem Freund gehört, dass es beispielsweise Autofahrer aufgrund der Gefährlichkeit des Fahrzeugs „quasi immer haften“. K ist der Meinung, dass dies auch für diese gefährlichen E-Roller gelten müsse. Jedenfalls habe der V die Roller in den Verkehr gebracht und müsse nun für seinen Schaden aufkommen.\n\n\n\n

Hat K einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 20.000,00 EUR gegen V?\n\n\n\n

(Anmerkung: Die Höhe des Schadensersatzes ist nicht zu beanstanden. Bei den Rollern handelt es sich um Elektrokleinstfahrzeuge i.S.d. § 1 eKFV)\n\n\n\n

§ 1 eKFV – Anwendungsbereich\n\n\n\n

(1) Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne dieser Verordnung sind Kraftfahrzeuge mit elektrischem Antrieb und einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht weniger als 6 km\/h und nicht mehr als 20 km\/h […]\n\n\n\n

§ 18 BremLStrG\n\n\n\n

(1) Der Gebrauch der Straße über den Gemeingebrauch hinaus (Sondernutzung) bedarf der Erlaubnis. Eine Erlaubnis soll nicht erteilt werden, wenn behinderte Menschen durch die Sondernutzung in der Ausübung des Gemeingebrauchs erheblich beeinträchtigt werden.\n\n\n\n

Art. 20 UN-BRK\n\n\n\n

Die Vertragsstaaten treffen wirksame Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen, indem sie unter anderem\n\n\n\n

a) die persönliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen in der Art und Weise und zum Zeitpunkt ihrer Wahl und zu erschwinglichen Kosten erleichtern;\n\n\n\n

b) den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu hochwertigen Mobilitätshilfen, Geräten, unterstützenden Technologien und menschlicher und tierischer Hilfe sowie Mittelspersonen erleichtern, auch durch deren Bereitstellung zu erschwinglichen Kosten;\n\n\n\n

c) Menschen mit Behinderungen und Fachkräften, die mit Menschen mit Behinderungen arbeiten, Schulungen in Mobilitätsfertigkeiten anbieten; d) Hersteller von Mobilitätshilfen, Geräten und unterstützenden Technologien ermutigen, alle Aspekte der Mobilität für Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen.\n\n\n\n

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Sachverhalt als .pdf\n\n\n\n\n\n
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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n
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A. Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG, § 253 Abs. 2 BGB\n\n\n\n

K könnte gegen V ein Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 EUR aus § 7 Abs. 1 StVG haben. Dazu dürfte allerdings der Anspruch nicht bereits aufgrund des § 8 StVG von vornherein ausgeschlossen sein. Gem. § 8 Nr. 1 StVG gelten die Vorschriften des § 7 StVG nämlich dann nicht, wenn der Unfall durch ein Kraftfahrzeug verursacht wurde, das auf ebener Bahn mit keiner höheren Geschwindigkeit als 20 Km\/h fahren kann. Bei den Rollern handelte es sich um solche i.S.d. § 1 eKFV, weshalb die Geschwindigkeit auf 20 Km\/h begrenzt ist. Die Anwendung des § 7 Abs. 1 StVG ist daher – unabhängig seiner weiteren Voraussetzungen – gem. § 8 Nr. 1 StVG ausgeschlossen. \n\n\nAnmerkung: Prüfungsreihenfolge

\nGrundsätzlich ist im Zivilrecht immer die verschuldensunabhängige Haftung (hier § 7 StVG) vor der verschuldensabhängigen Haftung (bspw. § 823 BGB) zu prüfen.
\n\n\n\nVernetztes Lernen:Verkehrsunfälle – gegen wen können sich Ansprüche ergeben und woraus folgen sie?
\n1) Gegen den Halter des Fahrzeugs nach § 7 Abs. 1 StVG\n

2) Gegen den Fahrer des Fahrzeugs nach § 18 StVG und § 823 BGB\n

3) Gegen die Haftpflichtversicherung, § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 VVG
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B. Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB\n\n\n\n

Möglich erscheint aber ein Anspruch des K gegen V aus § 823 Abs. 1 BGB.\n\n\n\n

I. Rechtsgutsverletzung\n\n\n\n

Eine Rechtsgutsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB in Form der Gesundheitsverletzung ist gegeben, da der K durch den Sturz einen Oberschenkelhalsbruch erlitt.\n\n\n\n

II. Verletzungshandlung\n\n\n\n

Allerdings müsste auch eine Verletzungshandlung vorliegen. Diese kann entweder in einem aktiven Tun oder aber Unterlassen liegen. Eine aktive Handlung des V, welche unmittelbar zum Sturz des K führte, liegt nicht vor. Insoweit kommt allenfalls ein Unterlassen in Frage. Ein Unterlassen ist aber nur dann eine taugliche Verletzungshandlung, wenn den Schädiger eine Verkehrssicherungspflicht trifft.[1]BeckOGK\/Spindler, 1.11.2022, BGB § 823 Rn. 79; LG Bremen Urt. v. 16.3.2023 – 6 O 697\/21, BeckRS 2023, 4342 Rn. 25