{"id":6989,"date":"2024-01-23T07:29:33","date_gmt":"2024-01-23T06:29:33","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=6989"},"modified":"2024-01-24T13:49:11","modified_gmt":"2024-01-24T12:49:11","slug":"schritt-fuer-schritt-zum-menschenraub","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/schritt-fuer-schritt-zum-menschenraub\/","title":{"rendered":"Schritt für Schritt zum Menschenraub"},"content":{"rendered":"

BGH, Beschluss vom 10.05.2023 – 4 StR 515\/22 – NStZ 2023, 677\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n
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A verschafft sich unter einem Vorwand Zutritt zu dem Wohnhaus der O. Als O für A ersichtlich bemerkt, dass sie getäuscht wird, fesselt A sie mit Klebeband an einen Stuhl, um sie dazu zu bringen, ihm aus Sorge um ihr Wohl das Versteck des Tresorschlüssels zu nennen. Mit diesem will er den ihm bekannten Tresor öffnen und das darin befindliche Bargeld entwenden. Unter dem Eindruck der Fesselung und des Gesamtgeschehens erklärt O sich bereit, das Versteck des Tresorschlüssels zu nennen. Der Tresor lässt sich mit dem Schlüssel aber nicht öffnen, weil O ihn unbemerkt nach der letzten Benutzung verbogen hat. A sieht keine andere Möglichkeit, an das Bargeld zu gelangen. Er sperrt O in ein Badezimmer ihres Hauses ein und verlässt das Haus. \n\n\n\n

Strafbarkeit von A?      \n\n\n\n\n\n


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Skizze\n\n\n\n\n\n

Gutachten\n\n\n\n
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A. Strafbarkeit gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b) StGB\n\n\n\n

A könnte sich der schweren räuberischen Erpressung gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b) StGB schuldig gemacht haben, indem er O an den Stuhl fesselte, um sie dazu zu bringen, ihm den Aufbewahrungsort des Tresorschlüssels zu zeigen. \n\n\n\n

I. Tatbestand\n\n\n\n

1. Objektiver Tatbestand\n\n\n\n

a) Qualifiziertes Nötigungsmittel\n\n\n\n

Als qualifiziertes Nötigungsmittel kommen sowohl Gewalt als auch Drohung in Betracht. Gewalt ist die nicht unerhebliche körperliche Kraftentfaltung, die bei dem Opfer einen körperlich wirkenden Zwang erzielt und der Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands dient. Indem A die O fesselt, entfaltet er körperliche Kraft, die sich unmittelbar bei O physisch äußert und ihre Fortbewegung und Verteidigung hindert. Es kann an dieser Stelle dahinstehen, ob auf die Fesselung noch eine konkludente Drohung mit weiterer Gewaltanwendung folgt. Ein qualifiziertes Nötigungsmittel liegt vor.\n\n\nAnmerkung: Zur Unterscheidung der Fesselungsgewalt von der konkludenten Drohung

\nDie Unterscheidung der Fesselungsgewalt von konkludenter Drohung wird erst im Rahmen von § 239a I StGB relevant.
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b) Nötigungserfolg (Vermögensverschiebung)\n\n\n\n

Sodann müsste durch das qualifizierte Nötigungsmittel ein Nötigungserfolg eingetreten sein. Ob das jedes Handeln, Dulden oder Unterlassen sein kann, das letztlich zu einem Vermögensschaden führt oder eine Vermögensverschiebung darstellt, ist umstritten. Da die Rechtsprechung davon ausgeht, dass es sich bei dem Raub um eine Qualifikation der räuberischen Erpressung handelt, fordert sie keine Vermögensverschiebung. Sowohl der Raub als auch die räuberische Erpressung seien demnach Fremdschädigungsdelikte. Die überwiegende Literatur hingegen will die Strukturähnlichkeit von räuberischer Erpressung und Betrug anerkennen, behandelt beide als Selbstschädigungsdelikte und erfordert demnach eine Vermögensverfügung. In der Folge stehen Raub und räuberische Erpressung in einem Exklusivitätsverhältnis.\n\n\n\n

Eine Stellungnahme könnte hier dahinstehen, falls beide Ansichten die Abgrenzungsfrage im Ergebnis gleich beantworten. Die Rechtsprechung will es dafür auf das äußere Erscheinungsbild ankommen lassen: Nimmt der Täter, so handelt es sich um einen Raub; übergibt das Opfer, geht es um eine räuberische Erpressung. In der Literatur wird hingegen überwiegend – nämlich ausgehend von dem Erfordernis einer Vermögensverfügung – darauf abgestellt, ob das Opfer aus seiner Perspektive noch Schlüsselperson für die Erlangung der Sache durch den Täter ist. Wenn nämlich dem Opfer aus seiner Sicht ohnehin keine Möglichkeit verbleibt, handelt es sich um einen Raub; die Erlangung der Sache ist nicht mehr von der Willensbildung des Opfers abhängig. Unabhängig davon, ob man auf den Erhalt des Tresorschlüssels oder den des Tresorinhalts abstellt, ist nach dem äußeren Erscheinungsbild von einem Raub auszugehen. Der A nimmt sich nämlich den Tresorschlüssel. Nach der Literaturauffassung hingegen ist dadurch, dass der Schlüssel in der Wohnung versteckt ist, der A davon abhängig, dass die O den Aufenthaltsort preisgibt. Sie bleibt also Schlüsselperson für die Erlangung der Sache. Da beide Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist eine Stellungnahme notwendig.\n\n\n\n

Für die Rechtsprechung könnte zunächst sprechen, dass sich das Merkmal der Vermögensverfügung und damit der Grund dafür, auf die innere Willensrichtung des Opfers abzustellen, nicht dem Wortlaut entnehmen lässt. Dem ist jedoch zu erwidern, dass auch dem § 263 StGB das Merkmal der Vermögensverschiebung nicht zu entnehmen ist, ihre Zugehörigkeit zum tatbestandlichen Programm derweil aber unbestritten bleibt. Die Rechtsprechung argumentiert weiter, dass durch die Forderung der Vermögensverschiebung Strafbarkeitslücken entstehen, wenn etwa eine Zueignungsabsicht zu verneinen ist und zum Zwecke der Gebrauchsanmaßung einer Sache vis absoluta eingesetzt wird. Das aber ist ein kriminalpolitisches Anliegen und kann nicht über die dogmatischen, insbesondere systematischen Schwächen hinwegtäuschen, will man von einem lex specialis-lex generalis-Verhältnis von § 249 StGB zu §§ 253, 255 StGB ausgehen: Erstens ist es unüblich – und ansonsten nur nach dem kritikwürdigen Rechtsprechungsverständnis von §§ 211 f. StGB bekannt –, dass das Grunddelikt hinter der Qualifikation verortet werden soll. Ebenso ist es zweitens fragwürdig, dass das Grunddelikt auf die Qualifikation verweist. Daraus ergibt sich drittens, dass es nicht überzeugt, dass Grunddelikt und Qualifikation den gleichen Strafrahmen haben sollen. Es ist daher vorzugswürdig, mit der überwiegenden Literatur von einem Exklusivitätsverhältnis und damit zusammenhängend von einer Abgrenzung nach der inneren Willensrichtung auszugehen.[1]Zum Gesamten vgl. Schladitz, JA 2022, 89; Bode, JA 2017, 110.