{"id":6716,"date":"2023-09-27T07:43:19","date_gmt":"2023-09-27T05:43:19","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=6716"},"modified":"2024-01-23T10:28:47","modified_gmt":"2024-01-23T09:28:47","slug":"reisende-eltern-hungerndes-kind","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/reisende-eltern-hungerndes-kind\/","title":{"rendered":"Reisende Eltern, hungerndes Kind"},"content":{"rendered":"

BGH, Beschluss vom 17.01.2023 – 2 StR 459\/21 NJW 2023, 2209 \n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n
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Mutter M und Vater V richten ihren gemeinsamen Alltag nach der Geburt des Kindes K nicht nach dessen Bedürfnissen aus. Als sich nach einem halben Jahr zusätzlich die finanzielle Situation von M und V verschlechtert, entscheiden sie gemeinsam, ihre verbleibenden Mittel in Reisen und Ausflüge, nicht hingegen in notwendige Babynahrung zu investieren. K entwickelt dramatische Symptome einer Mangelernährung (starkes Untergewicht, Hungerdarm) und schwebt zwischenzeitlich in Lebensgefahr. Dass Ks Symptome auf die Mangelernährung zurückzuführen sind, erkennen M und V; dass es zu einer Lebensgefahr kommen kann, erkennen sie und nehmen es jedenfalls billigend Kauf. \n\n\n\n

Strafbarkeit von M und V?      \n\n\n\n\n\n


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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n
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A. Strafbarkeit von M und V gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 4, Nr. 5, 13 I, 25 II StGB\n\n\n\n

M und V könnten sich der gefährlichen Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 4, Nr. 5, 13 I, 25 II StGB schuldig machen, indem sie K nicht mit der notwendigen Babynahrung füttern und K daraufhin an einer Mangelernährung leidet.\n\n\n\n

I. Tatbestand\n\n\n\n
1. Objektiver Tatbestand\n\n\n\n
a) Grunddelikt\n\n\n\n

Zunächst müsste der Taterfolg des Grunddelikts erfüllt sein. Bei K tritt eine Gesundheitsschädigung ein, weil sich eine fortentwickelnde Mangelernährung mit entsprechender Symptomatik (Untergewicht und Hungerdarm) einstellt. Darin liegt auch die Verschlechterung des körperlichen Wohlbefindens, das eine körperliche Misshandlung voraussetzt. Der Taterfolg der Körperverletzung ist daher erfüllt. \n\n\n\n

M und V versorgen K nicht angemessen mit Babynahrung, obwohl sie dazu die physisch-reale Möglichkeit hätten. Die angemessene Ernährung des K ist auch nicht hinzuzudenken, ohne dass die Symptomatik der Mangelernährung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Außerdem wirken M und V gerade nicht auf das Risiko der Mangelernährung abwendend ein, indem sie eine angemessene Versorgung vornehmen. Die sog. Quasi-Kausalität und die objektive Zurechnung sind zu bejahen. \n\n\n\n

Da sich M und V zur mangelhaften Versorgung zugunsten anderer Annehmlichkeiten des Lebens verabreden, liegt ein gemeinsamer Tatplan vor. Beide unterlassen eine angemessene Versorgung absprachegemäß zeitgleich, weshalb auch eine gemeinsame Tatausführung zu bejahen ist. M und V unterlassen folglich mittäterschaftlich. \n\n\n\n

Eine Pflicht zur angemessenen Versorgung des K ergibt sich aus der elterlichen Fürsorgepflicht (§ 1626 BGB). Sowohl M als auch V sind jeweils Beschützergaranten des K. \n\n\nVernetztes Lernen: Kommt es für eine Beschützergarantenstellung aus familiärer Verbundenheit auf die gesetzliche Verbundenheit oder auf die tatsächlich ausgestaltete Beziehung an?

\nZum Verhältnis von formeller und materieller Rechtspflichtenlehre vgl. den Fall „Der rücksichtslose Sohn“.
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b) Qualifikation\n\n\n\n
aa) § 224 I Nr. 4 StGB\n\n\n\n

Fraglich ist, ob M und V die Körperverletzung gemeinschaftlich i.S.v. § 224 I Nr. 4 StGB begehen. Die Frage, ob eine mittäterschaftliche Begehung erforderlich ist, kann hier offen bleiben, weil V und K mittäterschaftlich zusammenwirken. \n\n\n\n

Deutlich problematischer ist die Frage, ob einer Verwirklichung der Nr. 4 die Entsprechungsklausel des § 13 I Hs. 2 StGB entgegensteht. Nach herrschender Auffassung kommt der Entsprechungsklausel die Funktion einer sog. Modalitätenäquivalenz zu.[1]Überblick über den unergiebigen Streitstand zu Bedeutung der Entsprechungsklausel bei Satzger, Jura 2011, 749 ff.