{"id":525,"date":"2020-06-16T23:33:00","date_gmt":"2020-06-16T21:33:00","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=525"},"modified":"2022-04-28T22:27:23","modified_gmt":"2022-04-28T20:27:23","slug":"infrastrukturabgabe-oder-auch-auslaender-maut","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/infrastrukturabgabe-oder-auch-auslaender-maut\/","title":{"rendered":"Infrastrukturabgabe oder auch ‚Ausländer-Maut‘"},"content":{"rendered":"

EuGH Urt. v. 18.6.2019 – C-591\/17; EuGH NJW 2019, 2369\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n

In Deutschland verabschiedete der Bundestag im Jahr 2015 das Infrastrukturabgabengesetz (InfrAG). §1 InfrAG sieht eine Abgabe für die Benutzung der Bundesfernstraßen (Autobahnen und Bundesstraßen) für PKW bis 3,5 t zulässigem Gesamtgewicht vor. Um diese zu begleichen, müssen Vignetten erworben werden. Diese kann man für zehn Tage, zwei Monate oder ein Jahr erwerben. Grundlage für den Preis sind die Leistung des Motors und die Emissionsklasse. Jeder Halter und jede Halterin eines in Deutschland zugelassenen Fahrzeugs muss – unabhängig von der tatsächlichen Nutzung von Bundesfernstraßen – eine Jahresvignette erwerben. Bei einem im Ausland zugelassenen Fahrzeug entsteht die Pflicht zur Entrichtung der Infrastrukturabgabe mit der erstmaligen Nutzung einer Bundesfernstraße nach dem Grenzübertritt.\n\n\n\n

In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass dies zum einen dem Umweltschutz dienen solle und man außerdem einen Systemwechsel vollziehe: Die Bundesfernstraßen würden bisher ausschließlich aus Steuermitteln finanziert, so dass ausländische Nutzerinnen und Nutzer der Straßen bisher nichts zu deren Erhalt und Instandsetzung beitrügen. Man wolle von der Steuerfinanzierung zur Nutzungsfinanzierung.\n\n\n\n

Damit deutsche Halter*innen und Fahrer*innen durch KfZ-Steuern und Infrastrukturabgabe nicht doppelt belastet werden, erließ der Bundestag am gleichen Tag, an dem er auch das InfrAG verabschiedete, eine Änderung der KfZ-Steuern (KfZ-StG). Die Änderung sieht vor, dass die Steuer für KfZ-Halter*innen um den Betrag geringer ist, den Halterinnen und Halter für die obligatorische Jahresvignette zahlen müssen. Die Verringerung der KfZ-Steuer soll ab dem Zeitpunkt gelten, ab dem die Infrastrukturabgabe erhoben wird.\n\n\n\n

Österreich hält das InfrAG für unionsrechtswidrig. Eine Infrastrukturabgabe an sich sei in Ordnung, man habe eine solche selbst. Jedoch müsse man das InfrAG und das KfZ-StG zusammen betrachten. Zusammen führten das InfrAG und die KfZ-StG dazu, dass ausschließlich PKW-Halter*innen mit im Ausland registrierten Fahrzeugen für die Infrastrukturabgabe aufkommen müssten. Österreich sieht darin eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und des allgemeinen Diskriminierungsverbots. Deshalb befasst Österreich gem. Art. 259 AEUV die Kommission mit der Angelegenheit, und fordert diese zu einer Stellungnahme auf. Es findet eine Anhörung bei der Kommission statt, daraufhin gibt die Kommission jedoch keine begründete Stellungnahme ab. Fünf Monate nach der Anhörung erhebt Österreich Klage vor dem EuGH aus den genannten Gründen.\n\n\n\n

Hat eine Klage vor dem EuGH Aussicht auf Erfolg?\n\n\n\n

Bearbeitungshinweis: Art. 92 AEUV und sekundäres Unionsrecht sind nicht zu prüfen.\n\n\n\n


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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

Das Vertragsverletzungsverfahren in Form der Staatenklage Österreichs gegen Deutschland hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.\n\n\n\n

A. Zulässigkeit\n\n\n\n

I. Sachliche Zuständigkeit\n\n\n\n

Der EuGH ist gem. Art. 259 AEUV für ein Vertragsverletzungsverfahren in Form der Staatenklage zuständig. Eine Zuständigkeit des Gerichts oder von Fachgerichten nach Art. 256 AEUV ist nicht gegeben.\n\n\nAnmerkung: Rolle der EU Kommission

\nDie Kommission als „Hüterin der Verträge“ ist gem. Art. 258 AEUV berechtigt ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Hier hatte die Kommission nach einigen Änderungen Deutschlands nach Einleitung des Verfahrens von einer Klageerhebung Abstand genommen.
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II. Partei- und Beteiligtenfähigkeit\n\n\n\n

Art. 259 AEUV bestimmt, dass jeder Mitgliedsstaat aktiv parteifähig ist, also fähig ist vor dem EuGH zu klagen. Passiv parteifähig (also möglicher Klagegegner) ist der Mitgliedsstaat, dem die Verletzung von Unionsrecht vorgeworfen wird. Österreich ist als Mitgliedsstaat aktiv parteifähig und Deutschland als Mitgliedsstaat passiv parteifähig.\n\n\n\n

III. Vorverfahren\n\n\n\n

Das nach Art. 259 AEUV notwendige Vorverfahren müsste durchgeführt worden sein.\n\n\n\n

1. Vertragsverletzungsrüge\n\n\n\n

Dafür müsste Österreich zunächst eine Vertragsverletzungsrüge nach Art. 259 Abs. 2 AEUV gegenüber der Kommission erhoben haben. Dies geschah in Form der Aufforderung zur Stellungnahme an die Kommission.\n\n\n\n

2. Möglichkeit der Stellungnahme\n\n\n\n

Die Kommission hat daraufhin Deutschland und Österreich die Möglichkeit gegeben im Rahmen der Anhörung sich zum Verfahren zu äußern und ist damit den Anforderungen aus Art. 259 Abs. 3 HS. 2 nachgekommen.\n\n\nVernetztes Lernen: Möglichkeit der Stellungnahme

\nDer Staat, dem die Vertragsverletzung vorgeworfen wird muss die Möglichkeit haben eine Stellungnahme abzugeben. Erst wenn das passiert ist, ist das Verfahren vor dem EuGH zulässig. Leitet die Kommission dieses Verfahren also nicht ein, muss der anklagende Staat zunächst eine Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV gegen die Kommission erheben. Der uneindeutige Begriff Beschluss in Art. 265 AEUV ist weit auszulegen und kann gegen jede Art von Unterlassen gerichtet werden. [1]Pechstein in Frankfurter Kommentar EUV\/GRC\/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 265 AEUV Rn. 38 ff.