{"id":4562,"date":"2022-10-12T20:26:51","date_gmt":"2022-10-12T18:26:51","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=4562"},"modified":"2023-10-18T15:00:48","modified_gmt":"2023-10-18T13:00:48","slug":"insulin","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/insulin\/","title":{"rendered":"Insulin"},"content":{"rendered":"

BGH, Beschluss vom 28.06.2022 – 6 StR 68\/21 – NJW 2022, 3021\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n

Die Krankenschwester S reichte ihrem aufgrund schwerer Krankheit freiverantwortlich sterbewilligen Ehemann E absprachegemäß diverse Medikamente, teils in Tabletten-, teils in gelöster Form. Nachdem E die Medikamente eigenständig zu sich genommen hatte, bat er S, alle im Haus vorhandenen Insulinspritzen zu holen. Nun bat E die S alle Insulinspritzen zu injizieren, um den Tod sicher herbeizuführen. Dabei gingen beide davon aus, dass die zuvor eingenommenen Medikamente für sich die frühere Todesursache darstellen würden. Nach der Injektion durch S, versicherte sich E, ob dies auch alle vorrätigen Spritzen gewesen seien, „nicht, dass er noch als Zombie“ zurückkehre. In den nächsten Stunden wurde E schwächer, schlief ein und verstarb. S, wie auch der E verzichteten absprachegemäß darauf, medizinische Hilfe zu holen, die den E noch hätte retten können. Todesursache war eine Unterzuckerung infolge der Insulinspritzen. Die zuvor von E selbst eingenommenen Medikamente waren ebenfalls geeignet, den Tod herbeizuführen, jedoch wäre dieser erst später eingetreten.\n\n\n\n

Strafbarkeit der S?\n\n\n\n

Sachverhalt als .pdf\n\n\n\n
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Skizze\n\n\n\n\n\n

Gutachten\n\n\n\n

A. Strafbarkeit gem. § 216 I StGB – Anreichen der Medikamente \n\n\n\n

Zunächst könnte sich S gem. § 216 I StGB strafbar gemacht haben, indem sie dem E die Medikamente reichte, dieser sie einnahm und später verstarb. Eine Vollendungsstrafbarkeit muss jedoch bereits mangels Kausalität des Anreichens für den Tod des E ausscheiden. Dass der Tod später aufgrund der zunächst angereichten Medikamente eingetreten wäre, stellt einen unbeachtlichen hypothetischen Kausalverlauf dar. \n\n\n\n

B. Strafbarkeit gem. §§ 216 I, II, 22, 23 I StGB – Anreichen der Medikamente\n\n\n\n

Jedoch könnte das Anreichen der Medikamente eine versuchte Tötung auf Verlangen gem. §§ 216 I, 22, 23 I StGB darstellen. Der Versuch ist gem. § 216 II StGB strafbar. Die Tat ist mangels Kausalität des Anreichens nicht vollendet. \n\n\n\n

Fraglich ist das Vorliegen des Tatentschlusses. Die S ging davon aus, dass bereits die ersten angereichten Medikamente zum Todeseintritt führen würden. Der Tatentschluss müsste sich hier jedoch zudem auf die objektive Zurechenbarkeit des Todeserfolges erstrecken. Die S könnte davon ausgegangen sein, dass sich der E freiverantwortlich durch die Einnahme der Medikamente selbst tötet und daher eine Zurechnungsunterbrechung vorliegt. Dass der E freiverantwortlich handelt steht ohne Zweifel fest. Die Abgrenzung einer Selbst- von einer Fremdtötung wird anhand des Tatherrschaftskriteriums vorgenommen. Die Tötung ist demjenigen zuzurechnen, der den letzten todbewirkenden Akt vornimmt.[1]BGH NJW 2022, 3021, 3022.