{"id":448,"date":"2020-06-07T17:26:08","date_gmt":"2020-06-07T15:26:08","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=448"},"modified":"2022-02-01T21:52:36","modified_gmt":"2022-02-01T20:52:36","slug":"recht-auf-vergessen-i-ii","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/recht-auf-vergessen-i-ii\/","title":{"rendered":"Recht auf Vergessen I & II"},"content":{"rendered":"

BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 16\/13; NJW 2020, 300 – Recht auf Vergessen I;
BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 –
1 BvR 276\/17; NJW 2020, 314 – Recht auf Vergessen II\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n

Teil I\n\n\n\n

A wurde 1982 wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 1982 und 1983 veröffentlichte das Magazin Der Spiegel unter Auseinandersetzung mit der Person und Nennung des Namens von A drei Artikel in gedruckter Ausgabe. Seit 1999 werden die Berichte von der S-GmbH in einem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zur Verfügung gestellt. Gibt man den Namen von A in bekannten Suchmaschinen ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt. A verlangte – gestützt auf §§ 823 I, 1004 I 2 BGB i.V.m. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG – gerichtlich, dass der S-GmbH untersagt werde, über die Straftat unter Nennung des Namens zu berichten. Der BGH wies die Klage ab. Der Schutz der Persönlichkeit müsse hinter dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und der freien Meinungsäußerung der S-GmbH zurücktreten.\n\n\n\n

A erhebt form- und fristgemäß Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BGH.\n\n\n\n

Mit Erfolg?\n\n\n\n

Bearbeitervermerk:
Bitte beachte folgende Verordnung der EU, von deren Geltung zum fraglichen Zeitpunkt auszugehen ist; andere Vorschriften der DS-GVO sind für die Fallbearbeitung irrelevant:\n\n\n\n

Artikel 85 DS-GVO: Verarbeitung und Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
(2) Für die Verarbeitung, die zu journalistischen Zwecken […] erfolgt, sehen die Mitgliedstaaten Abweichungen oder Ausnahmen von Kapitel II (Grundsätze), Kapitel III (Rechte der betroffenen Person) […] vor, wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.\n\n\n\n

Teil II\n\n\n\n

2010 strahlte der NDR einen Beitrag mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ aus. Geschäftsführerin F wird darin ein unfairer Umgang mit einem gekündigten Mitarbeiter vorgeworfen. Auf der Internetseite des NDR wurde der Beitrag mit obigem Titel eingestellt. Gab man den vollständigen Namen von F bei der Suchmaschine der Betreiberin G an, wurde als eines der ersten Suchergebnisse der Link zu dem Beitrag des NDR angezeigt. F klagte gegen G auf Unterlassung – gestützt auf §§ 823 I, 1004 I 2 BGB –, war aber letztinstanzlich erfolglos.\n\n\n\n

F erhebt form- und fristgemäß Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil. Das Bundesverfassungsgericht gibt der Suchmaschinenbetreiberin G Gelegenheit zur Äußerung (§ 94 III BVerfGG). Diese hält die Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig, da der Rechtsstreit vollständig unionsrechtlich vereinheitlicht sei. Denn hier greife das Medienprivileg des § 85 II DS-GVO (s.o.) nicht. Eine Suchmaschinenbetreiberin werde nicht journalistisch tätig. Diese Ausführungen sind zutreffend.\n\n\n\n

Ist die Verfassungsbeschwerde zulässig?\n\n\n\n


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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

Teil I\n\n\n\n

Die Verfassungsbeschwerde von A hat gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 23 I, 90 ff. BVerfGG Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.\n\n\n\n

A. Zulässigkeit\n\n\n\n

I. Beteiligtenfähigkeit\n\n\n\n

Beteiligtenfähig ist gem. § 90 I BVerfGG „Jedermann“, d.h. jeder der Träger von Grundrechten (oder grundrechtsgleichen Rechten) ist. Als natürliche Person (wohl) deutscher Staatsangehörigkeit ist A Träger aller Grundrechte. Damit ist er beteiligtenfähig.\n\n\n\n

II. Beschwerdegegenstand\n\n\n\n

Tauglicher Beschwerdegegenstand ist gem. § 90 I BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt, d.h. Akte der Legislative, Exekutive oder Judikative. A wendet sich vorliegend gegen das Urteil des BGH, einen Akt der Judikative als Teil der deutschen Staatsgewalt.\n\n\n\n

III. Beschwerdebefugnis\n\n\n\n

A müsste gem. § 90 I BVerfGG behaupten in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Dafür muss die Möglichkeit einer Verletzung bestehen, d.h. eine solche darf nicht von vornherein und nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen sein (sog. Möglichkeitstheorie).[1]Vgl. Sodan\/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 8. Aufl. 2018, § 51 Rn. 23.