{"id":3618,"date":"2022-08-31T09:59:07","date_gmt":"2022-08-31T07:59:07","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=3618"},"modified":"2022-09-01T09:25:27","modified_gmt":"2022-09-01T07:25:27","slug":"die-zahnextraktionszange","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/die-zahnextraktionszange\/","title":{"rendered":"Die Zahnextraktionszange"},"content":{"rendered":"

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.03.2022 – 1 Ws 47\/22 – BeckRS 2022, 6692\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n

A ist Zahnärztin. Um ihrem Patienten P eine kostspielige prothetische Behandlung anbieten zu können, erklärt sie ihm, dass die Extraktion eines Zahnes medizinisch erforderlich sei, obwohl es hinreichend aussichtsreiche Behandlungsalternativen gegeben hätte. Im Vertrauen auf die Angabe, dass der Eingriff zwingend notwendig sei, willigt P in die Extraktion ein. A entfernt den Zahn mit Hilfe einer Zahnextraktionszange kunstgerecht. Dabei entstehen dem P erhebliche Verletzungen im Mundraum durch die Durchtrennung der Nerven. Die Schwellung und Schmerzen halten etwa für eine Woche an.\n\n\n\n

Strafbarkeit der A?\n\n\n\n

Sachverhalt als .pdf\n\n\n\n
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Skizze\n\n\n\n\n\n

Gutachten\n\n\n\n

Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2  StGB \n\n\n\n

A könnte sich der gefährlichen Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB schuldig gemacht haben, indem sie dem P einen Zahn mittels Zahnextraktionszange entfernte.\n\n\n\n

I. Tatbestand\n\n\n\n

1. Objektiver Tatbestand\n\n\n\n

a) Grunddelikt\n\n\n\n

Zunächst müsste der objektive Tatbestand des § 223 I StGB erfüllt sein. Das setzt eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung voraus, die kausal durch die A herbeigeführt und ihr objektiv zurechenbar sein müssten. Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene körperliche Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines krankhaften Zustandes. Vorliegend entfernt die A dem P einen Zahn, was sogar zu erheblichen Verletzungen im Mundraum führt. Dadurch wird auch in kausaler und objektiv zurechenbarer Form ein krankhafter Zustand hervorgerufen. Handelt es sich bei der Körperverletzung um einen ärztlichen Heileingriff, ist es umstritten, ob ausnahmsweise der Tatbestand zu verneinen ist oder ob auf einen dogmatischen Sonderweg zu verzichten ist und eine Straflosigkeit des Behandelnden auf Ebene der Rechtswidrigkeit zu suchen ist. Zu dieser Frage braucht hier nicht Stellung genommen werden, weil es bereits an einer medizinischen Indikation für den Eingriff fehlt und deshalb kein Heileingriff vorliegt.\n\n\nVernetztes Lernen: Würde es sich um eine tatbestandliche Körperverletzung handeln, wenn der kunstgerecht durchgeführte Eingriff medizinisch indiziert wäre, die Einwilligung aber aufgrund von schweren Aufklärungsmängeln unwirksam wäre?

\nDie Frage, ob der Heileingriff eine tatbestandliche Körperverletzung ist, ist seit über 130 Jahren umstritten.[1]Zum Streitstand Bollacher\/Stockburger, Jura 2006, 908 ff.