{"id":2927,"date":"2022-04-27T17:27:32","date_gmt":"2022-04-27T15:27:32","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=2927"},"modified":"2022-04-28T10:44:34","modified_gmt":"2022-04-28T08:44:34","slug":"europaeischer-haftbefehl","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/europaeischer-haftbefehl\/","title":{"rendered":"Europäischer Haftbefehl"},"content":{"rendered":"

BVerfG, Beschluss vom 01.12.2020– 2 BvR 1845\/18, 2 BvR 2100\/18; NJW 2021, 1518\n\n\n\n

Sachverhalt – gekürzt und abgewandelt\n\n\n\n

Gegen den rumänischen Staatsangehörigen R steht auf Grund einer Verurteilung zu fünf Jahren Haft wegen versuchten Mordes ein europäischer Haftbefehl aus Rumänien aus. R wird während eines Aufenthaltes in Deutschland von deutschen Behörden aufgegriffen. Das Kammergericht ordnete daher am 29.11.2017 die Auslieferungshaft an. Vor einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung müssen aber wegen etwaig unzureichender Haftbedingungen die rumänischen Behörden um Auskunft ersucht werden: Klärungsbedürftig ist in welcher Haftanstalt die Freiheitsstrafe vollzogen würde und wie die Haftbedingungen in dieser Anstalt ausgestaltet seien. Die rumänischen Behörden teilten daraufhin mit, dass die Haftstrafe höchstwahrscheinlich im geschlossenen Vollzug in Haftanstalt A vollstreckt werde, wo R einen individuellen Raum von 3 m² erhalte. Alle Räume seien mit WC, Waschbecken und Duschen ausgestattet, Tageslicht sei garantiert, kaltes Trinkwasser ständig zugänglich, Hofgang möglich und alle Räume würden regelmäßig desinfiziert. Nach der Vollstreckung eines Fünftels der Strafe werde R insbesondere unter Berücksichtigung seines Verhaltens neu beurteilt, sodass die, üblicherweise gewährte, Möglichkeit eines halboffenen Vollzugsregime in Haftanstalt B besteht. Im halboffenen Vollzug sei ihm ein persönlicher Raum von 2 m2 zugewiesen. Die Türen seien aber tagsüber offen, und es bestehe Zugang zum Hof. \n\n\n\n

Der Entscheidung des Kammergerichts tritt R entgegen und beantragt die Auslieferung für unzulässig zu erklären sowie die Auslieferungshaft aufzuheben. Das Kammergericht wies dies am 10.08.2018 zurück und erklärte auch die Auslieferung für zulässig. Nach § 79 I 1 IRG, der insoweit den voll-determinierten Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHb) umsetzt, sei Deutschland grundsätzlich zur Auslieferung verpflichtet. Eine Ausnahme gelte nur dann, wenn dies der GRCh entgegenliefe, § 73 S. 2 IRG. In der Rechtsprechung des EuGH sei insoweit umfassend geklärt, dass der Vollzug eines europäischen Haftbefehls beendet werden muss, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der Person i.S.v. Art. 4 GRCh führt. Grundsätzlich sei wegen des gegenseitigen Vertrauens in der EU aber die Einhaltung der GRCh zu unterstellen. Das Gericht träfe nur Aufklärungspflichten, soweit tatsächlich systemische Mängel in dem anderen Mitgliedsstaat vorliegen und auch im konkreten Fall von einer menschenunwürdigen Behandlung auszugehen sei.   
Zur rechtlichen Würdigung der Haftbedingungen rekurriert das Gericht auch auf die Rechtsprechung des EGMR. Laut dieser spreche eine starke Vermutung für eine Verletzung von
Art. 3 EMRK, wenn der bei einer Unterbringung im halboffenen oder offenen Regime einem Gefangenen in einer Gemeinschaftsunterkunft zustehende persönliche Raum 3 m² unterschreite. Die Haftumstände in A entsprächen daher mit einem Mindesthaftraumanteil von 3 m² pro Gefangenen unproblematisch den Mindestvorschriften aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK. Auch seien die Ausführungen der rumänischen Behörden, auf die es ja vertrauen muss, zu den weiteren Haftbedingungen positiv.\n\n\n\n

Bezüglich der Haftanstalt B führt das Gericht folgendes aus: Auch wenn der Haftraum die 2 m2 unterschreite, könnte die oben genannte Vermutung laut EGMR im Rahmen einer Gesamtbetrachtung widerlegt werden, wenn die folgenden Anforderungen kumulativ erfüllt seien: Es dürfe sich lediglich um eine kurzzeitige, gelegentliche und geringfügige Unterschreitung des persönlichen Raums von 3 m² handeln, es müssten eine ausreichende Bewegungsfreiheit und Betätigungsmöglichkeiten außerhalb des Haftraums gewährleistet sein, und der Beschwerdeführer müsse insgesamt in einer angemessenen Haftanstalt ohne zusätzliche erschwerende Umstände untergebracht sein. Das Kammergericht schließt nicht aus, dass diese Voraussetzungen hier erfüllt sein könnten. Der EGMR habe in einem anderen Fall einen persönlichen Raum von lediglich 2,1 m² aufgrund umfassender Öffnungszeiten als rechtmäßig angesehen. Es sei zu klären gewesen, ob ähnliche Umstände auch im vorliegenden Fall bestünden. Auf Nachfrage hätte Rumänien mitgeteilt, dass die Häftlinge sich im halboffenen Vollzug zwischen 8 und 11.30, 13 bis 18 und 19 bis 22 Uhr in der Anstalt und auf dem Hof frei bewegen können. Nachts müssten sich die Gefangenen in ihrer Zelle aufhalten. \n\n\n\n

Ohnehin beschränke sich die Prüfpflicht der Haftbedingungen aber auf die Anstalten, in denen der Verfolgte nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich inhaftiert sein werde. Dies legt das Kammergericht so aus, dass lediglich die Unterbringung in der ersten Vollzugsanstalt, also im geschlossenen Vollzug in Haftanstalt A zu prüfen ist. Ob es zu einer Verlegung in den halboffenen Vollzug in B kommen werde, sei noch ungewiss und hänge vom nicht vorauszusehenden Verhalten des R ab. Die Überprüfung der Haftbedingungen in B, wo R später inhaftiert werden könnte, falle deshalb in die alleinige Zuständigkeit der rumänischen Gerichte. In Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sei Deutschland gerade nicht verpflichtet, die Vereinbarkeit der Haftbedingungen in anderen Haftanstalten, in denen die genannte Person gegebenenfalls später inhaftiert werden könne, zu überprüfen. Danach hätte das Gericht nur die Haftbedingungen im geschlossenen Vollzug in A zu berücksichtigen, die ja mit 3m2 aber den Standards des EGMR entsprächen.\n\n\n\n

Insgesamt bestünden daher zwar abstrakte Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer Mängel im rumänischen Strafvollzug, so sind bei konkreter Betrachtung nur die Umstände in A relevant und diese hinsichtlich Raumgröße und Haftbedingung auch unionskonform. Weitere Nachforschungen, ob die Angaben Rumäniens stimmen, stellt es nicht an. \n\n\n\n

R ist mit der gerichtlichen Würdigung unzufrieden. Deutschland dürfe mit seiner Auslieferung nicht Handlanger des rumänischen Staates werden. Denn dieser sei, auch im Hinblick auf die Haftanstalt, in der er untergebracht werden solle, erst jüngst vom EGMR in vier Fällen verurteilt worden: Die Gefängnisse seien überfüllt und es bestünden mangelhafte hygienische Bedingungen. Insofern seien die Angaben des rumänischen Staates hier nicht vertrauenswürdig. Auch sei es unerheblich, wenn seine Zelle im geschlossenen Vollzug 3m2 groß sei, da weitere erschwerende Haftumstände hinzuträten. Das Kammergericht hat sich seiner Ansicht nach diesbezüglich nicht ausreichend mit den ihm drohenden Haftbedingungen auseinandergesetzt und ist daher seinen Prüfpflichten nicht hinreichend nachgekommen. Auch die nach der Rechtsprechung des EGMR bestehende Vermutung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK werde vorliegend nicht entkräftet. Die Haftraumgröße in B sei menschenunwürdig und verstoße gegen die Rechtsprechung des EGMR. Insbesondere seien die prekären Haftbedingungen im halboffenen Vollzug dem Gericht aus den bereits eingeholten Angaben der rumänischen Behörden bekannt. Dass er auch unter diesen Haftbedingungen im halboffenen Vollzug leben wird, sei keine nur abstrakte Möglichkeit, sondern wahrscheinlich und somit prüfbedürftig. Umso mehr, als dass seine 9 Monate in deutscher Untersuchungshaft auf seine Strafe angerechnet würden. Das Gericht hätte die Auslieferung nicht als zulässig befinden dürfen.\n\n\n\n

Nach Ausschöpfung des Rechtswegs wendet sich R mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 10. August 2018. Er rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK und Art. 1 I GG. Von einer fristgemäßen Erhebung sowie der Richtigkeit der genannten Rechtsprechung ist auszugehen.\n\n\n\n

Hat die Verfassungsbeschwerde des R Erfolg?\n\n\n\n

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§ 73 IRG – Grenze der Rechtshilfe\n\n\n\n

[…] 2Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten, Zehnten und Dreizehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.\n\n\n\n

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§ 79 IRG – Grundsätzliche Pflicht zur Bewilligung; Vorabentscheidung \n\n\n\n

(1) 1Zulässige Ersuchen eines Mitgliedstaates um Auslieferung oder Durchlieferung können nur abgelehnt werden, soweit dies in diesem Teil vorgesehen ist. […]\n\n\n\n

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Sachverhalt als .pdf\n\n\n\n
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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

Die Verfassungsbeschwerde des R hat Erfolg, sofern sie zulässig und soweit sie begründet ist. \n\n\n\n

A. Zulässigkeit\n\n\n\n

Zuerst müsste die Verfassungsbeschwerde zulässig sein. \n\n\n\n

I. Zuständigkeit\n\n\n\n

Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG für Individualverfassungsbeschwerden zuständig. \n\n\n\n

II. Beschwerdefähigkeit\n\n\n\n

Gem. § 90 I BVerfGG ist „jedermann“ und somit auch R als natürliche Person beschwerdefähig. Auf seine Staatsbürgerschaft kommt es nicht an. \n\n\n\n

III. Beschwerdegegenstand \n\n\n\n

Beschwerdegegenstand kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. R möchte gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 10.08.2018 vorgehen. Mithin handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.\n\n\n\n

IV. Beschwerdebefugnis \n\n\n\n

R müsste hinreichend geltend machen durch die Entscheidung des Gerichts in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt zum einen die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten und zum anderen eine Beschwer voraus.[1]Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 178.