{"id":2473,"date":"2022-04-06T13:02:49","date_gmt":"2022-04-06T11:02:49","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=2473"},"modified":"2022-04-28T22:21:05","modified_gmt":"2022-04-28T20:21:05","slug":"platzverweis-fuer-eine-ganze-stadt","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/platzverweis-fuer-eine-ganze-stadt\/","title":{"rendered":"Platzverweis für eine ganze Stadt"},"content":{"rendered":"

OVG NRW, Urt. v. 27.09.2021 – 5 A 2807\/19 – BeckRS 2021, 34137\n\n\n\n

Sachverhalt – abgewandelt und gekürzt\n\n\n\n

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L, der in der süddeutschen Stadt M wohnt, ist seit Jahren aktiv in der linksalternativen Szene und beteiligt sich regelmäßig – auch überregional – an Gegendemonstrationen gegen rechte und rechtsextremistische Demonstrationen. Dazu ist er gut vernetzt. Als L von den geplanten Aufzügen zum sogenannten „Deutschen Zukunftstag“ hört, zu dem auch diverse als rechtsextrem eingestufte Parteien und Organisationen aufrufen, will er dagegen demonstrieren. Der „Deutsche Zukunftstag“ soll in diesem Jahr zum letzten Mal stattfinden, weshalb besonders viele Teilnehmende erwartet werden.\n\n\n\n

Der rechtsextreme Aufzug soll in der nordrheinwestfälischen Stadt S am 04.06.2016 von 13 bis 20 Uhr stattfinden. Der Demonstrationszug soll in der Stadtmitte ablaufen, so dass in den Stadtteilen S1, S2 und S3 Abschnitte der Demonstration ablaufen. Die Polizei erwartet zu der angemeldeten Demonstration mehr als 1.000 Teilnehmende aus dem rechtsextremen Spektrum.\n\n\n\n

Um 12 Uhr kontrolliert eine Einheit von Polizisten der Stadt S in dem nahe zum Zentrum gelegenen Stadtteil S 4 eine Gruppe von rund 100 vermummten – nach Einschätzung der Polizei – Linksextremisten. Während der Kontrolle greifen Mitglieder der Gruppe die Polizisten mit massiven Holzscheiten und nägelgespickten Knüppeln an. Die Gruppe kann letztlich von hinzukommender Unterstützung gestellt werden. Einige werden festgenommen, von allen werden die Personalien aufgenommen.\n\n\n\n

Allen Mitgliedern der Gruppe wird ein Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet (S 1 – S 16) bis zum Ende des Tages (24 Uhr) ausgesprochen. Der weitest entfernteste Stadtteil S 16 ist ungefähr 15 km von der Demonstration entfernt. Die Polizei begründet den Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet damit, dass Sie davon ausgehen müsste, dass die Mitglieder der linksextremen Gruppe versuchen würden Nebenschauplätze zu schaffen, um damit die Polizist:innen, die zur Einhegung der Spannungen bei der Demonstration gebraucht würden, dazu zu zwingen ihre Stellungen nahe dem Demonstrationszug zu verlassen. So solle einer „Hauptgruppe“ ermöglicht werden den Demonstrationszug zu stören. Die Polizei nimmt dies an, weil dieses Vorgehen bei einer anderen Demonstration in einem anderen Bundesland auch beobachtet wurde.\n\n\n\n

L ist Teil der Gruppe und bestreitet auch nicht beteiligt gewesen zu sein. Er will sich aber gegen den weitreichenden Platzverweis wehren. Er hält es nicht für angemessen, dass ihm der Aufenthalt im gesamten Stadtgebiet untersagt wurde. Schließlich würde die Polizei lediglich Mutmaßungen anstellen. Es gäbe keine Belege, dass die Gruppe einen Plan verfolge, wie ihn sich die Polizei „ausgedacht“ habe. L sieht sich durch die Maßnahme auch in seiner Demonstrationsfreiheit verletzt. Schließlich könnte die Polizei mit einer derartigen Begründung auch künftiges politisches Engagement völlig unterbinden.\n\n\n\n

L geht vier Monate nach dem Platzverweis mit Rechtsmitteln gegen diesen vor. Er befürchtet insbesondere, dass die Polizei in S, aber auch in anderen Städten, in Zukunft gleichermaßen vorgehen könnte. Außerdem fühle er sich durch die Maßnahme „wie ein Gesetzesbrecher“ ausgegrenzt und wolle daher rehabilitiert werden.\n\n\n\n

Hat eine Klage Aussicht auf Erfolg?\n\n\n\n

Bearbeitervermerk: Grundlage der Bearbeitung ist das nordrheinwestfälische Polizeigesetz. Entsprechende Vorschriften finden sich jedoch in jedem Bundesland: Baden-Württemberg: § 30 I, II PolG; Bayern: Art. 16 I, II 1 BayPAG; Berlin: § 29 I, II ASOG; Brandenburg: § 16 I, II BbgPolG; Bremen: § 11 I, II BremPolG; Hamburg: §§ 12a, 12b II SOG; Hessen: § 31 I, III HSOG; Mecklenburg-Vorpommern: §§ 52, 52a SOG M-V; Niedersachsen: § 17 I, III NPOG; Rheinland-Pfalz: § 13 I, III POG; Saarland: § 12 I, III SPolG; Sachsen: §§ 18, 21 PVDG; Sachsen-Anhalt: § 36 I, II SOG; Schleswig-Holstein: § 201 I, II LVwG; Thüringen: § 18 I, III ThürPAG\n\n\n\n

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§ 34 NRW PolG – Platzverweisung\n\n\n\n

(1) Die Polizei kann zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten. Die Platzverweisung kann ferner gegen eine Person angeordnet werden, die den Einsatz der Feuerwehr oder von Hilfs- oder Rettungsdiensten behindert.\n\n\n\n

(2) Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann ihr für eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung oder nimmt dort berechtigte Interessen wahr. Örtlicher Bereich im Sinne des Satzes 1 ist ein Gemeindegebiet oder ein Gebietsteil innerhalb einer Gemeinde. Die Maßnahme ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu beschränken. Sie darf die Dauer von drei Monaten nicht überschreiten.\n\n\n\n

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Sachverhalt als PDF\n\n\n\n
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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

Die Klage von L hat Aussicht auf Erfolg, wenn diese zulässig und soweit sie begründet ist.\n\n\n\n

A. Zulässigkeit\n\n\n\n

Zunächst müsste die Klage zulässig sein.\n\n\n\n

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs\n\n\n\n

Die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges richtet sich mangels aufdrängender Sonderzuweisung nach § 40 I 1 VwGO. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit ist dabei nach der modifizierten Subjektstheorie eine solche, bei der die streitentscheidenden Normen einseitig einen Träger öffentlicher Gewalt berechtigen oder verpflichten. Streitentscheidend ist hier § 34 I, II NRW PolG, der die zuständige Behörde als Träger öffentlicher Gewalt einseitig berechtigt. Die Streitigkeit ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art. Die Polizei hat den Platzverweis auch zur Verhinderung weiterer Straftaten ausgesprochen und ist somit nicht repressiv tätig geworden. Darum findet auch insbesondere die abdrängende Sonderzuweisung von § 23 EGGVG keine Anwendung. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet.\n\n\n\n

II. Statthafte Klageart (P)\n\n\n\n

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers, § 88 VwGO. L wendet sich hier gegen den Platzverweis. Dieser stellt einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG dar, welcher sich durch Zeitablauf erledigt hat. Statthaft könnte damit eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I 4 VwGO [1]Analog, weil § 113 I 4 VwGO direkt nur die Erledigung nach Klageerhebung aber vor Aufhebungserklärung durch das VG erfasst.