{"id":2399,"date":"2022-03-15T21:18:34","date_gmt":"2022-03-15T20:18:34","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=2399"},"modified":"2022-04-25T10:59:01","modified_gmt":"2022-04-25T08:59:01","slug":"triage-und-diskriminierung","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/triage-und-diskriminierung\/","title":{"rendered":"Triage und Diskriminierung"},"content":{"rendered":"

BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541\/20; NJW 2022, 380\n\n\n\n

Sachverhalt – abgewandelt und gekürzt\n\n\n\n

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In der Corona-Pandemie sind Menschen mit Behinderung besonders gefährdet, da sie bei der häufigen Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko und im Falle einer Infektion einem erhöhten Risiko einer schweren Erkrankung an COVID-19 oder dem Tod unterliegen. Für den Fall einer Triage, also einer erforderlichen Auswahlentscheidung in einer Knappheitssituation in der Intensivmedizin, bei der die Ressourcen nicht ausreichen, um alle Behandlungsbedürftigen lebensrettend zu versorgen, gibt es bislang keine gesetzlichen Regelungen für die Zuteilung der Behandlungsressourcen. Es existieren auch keine internationalen Vorgaben, die allgemein anerkannt und verbindlich sind.\n\n\n\n

Nach den rechtlich unverbindlichen, in der Praxis weithin beachteten Fachempfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ist im Falle einer Triage die klinische Erfolgsaussicht maßgebend, also die Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung zu überleben. Nach diesen Empfehlungen ist eine nachrangige Behandlung aufgrund einer Behinderung unzulässig, gleichwohl sind schwere Erkrankungen Indikatoren für schlechte Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung.\n\n\n\n

Bei einer Triage-Entscheidung können sich – wie Sachverständige darlegen – subjektive Momente einschleichen, die Diskriminierungsrisiken bergen. Das Gesundheitspersonal ist zudem oft unzureichend für die Situation behinderter Menschen sensibilisiert. Eine unbewusste Stereotypisierung kann zu einer Benachteiligung bei intensivmedizinischen Entscheidungen führen.\n\n\n\n

Die deutsche A ist schwer behindert und auf Assistenz angewiesen. Sie befürchtet, dass sie im Falle einer Triage im Laufe der Corona-Pandemie aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt wird. A beantragt beim Bundesverfassungsgericht festzustellen, dass das Untätigbleiben des Gesetzgebers sie in ihrem Grundrecht aus Art. 3 III 2 GG verletzt.\n\n\n\n

Mit Erfolg?\n\n\n\n

Bearbeitungsvermerk: Es ist davon auszugehen, dass im Zeitpunkt der Antragsstellung und der Entscheidung des BVerfG ein konkretes Risiko besteht, dass eine Situation eintritt, die Triage-Entscheidungen erforderlich macht. Völkerrechtliche Verpflichtungen sind nicht zu berücksichtigen. [1]Zur Bedeutung völkerrechtlicher Verpflichtungen insb. aus der Behindertenrechtskonvention der UN für den Fall: BVerfG NJW 2022, 380, 384 f.