{"id":2247,"date":"2022-02-24T16:55:31","date_gmt":"2022-02-24T15:55:31","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=2247"},"modified":"2022-04-06T22:12:27","modified_gmt":"2022-04-06T20:12:27","slug":"turban-statt-schutzhelm-auf-dem-motorrad","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/turban-statt-schutzhelm-auf-dem-motorrad\/","title":{"rendered":"Turban statt Schutzhelm auf dem Motorrad"},"content":{"rendered":"

BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 3 C 24.17\n\n\n\n

Sachverhalt – abgewandelt und gekürzt\n\n\n\n

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S ist praktizierender Sikh und trägt aus religiösen Gründen in der Öffentlichkeit stets einen Turban. Die Religionsgemeinschaft hat heute rund 25 Millionen Anhänger, wovon die Mehrheit in Indien lebt. Der Turban (Dastar) gehört fest zu der Religion des Sikhismus. Die Kopfbedeckung samt Haar drückt entsprechend dem Selbstverständnis der Sikhs Weltzugewandtheit, Nobilität und Respekt vor der Schöpfung aus.\n\n\n\n

Der S ist zudem begeisterter Motorradfahrer. Sein Motorrad benutzt er überwiegend zur Freizeitbeschäftigung, beruflich nutzt er sein Auto oder seinen Lieferwagen. Durch seinen Turban ist ihm aber das Tragen eines Helms nicht möglich.\n\n\n\n

Insofern beantragt er bei der zuständigen Behörde der Stadt K eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 I Nr. 5b StVO, mit der er von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms beim Motorradfahren befreit wird. Als Argument führte er an, dass ihm, was den Tatsachen entspricht, nicht möglich sei über den Turban einen Helm zu tragen. Die Schutzhelmpflicht aus § 21a II 1 StVO verletze ihn als gläubigen Sikh in seiner grundrechtlich geschützten Religionsfreiheit, da er verpflichtet sei, einen Turban zu tragen. Zudem hatte der S gehört, dass die Stadt bereits Ausnahmen von der Helmpflicht aus gesundheitlichen Gründen genehmigt habe, z.B. wenn das Tragen eines Helmes mit Nackenschmerzen verbunden sei. Deshalb sollte doch wohl gerade eine Ausnahme aufgrund der im Grundgesetz geschützten Religionsfreiheit möglich sein.\n\n\n\n

Die zuständige Behörde lehnte nach vorheriger Rücksprache mit K den Antrag fristgerecht am 20.1.2022 ab. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass die Ausnahmegenehmigung nur aus gesundheitlichen Gründen erfolgen könnte und die Helmpflicht nicht nur den S schütze, sondern auch die anderen Verkehrsteilnehmenden. Des Weiteren führt die Behörde aus, dass der S auch eine andere Kopfbedeckung tragen könne, die es ihm ermögliche, darüber auch einen Schutzhelm zu tragen.\n\n\n\n

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren klagt S auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung. Er erhebt formgerecht am 15.2.2022 Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht.\n\n\n\n

Hat die Klage Aussicht auf Erfolg?\n\n\n\n

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§ 21a StVO\n\n\n\n

Sicherheitsgurte, Rollstuhl-Rückhaltesysteme, Rollstuhlnutzer-Rückhaltesysteme, Schutzhelme\n\n\n\n

(1) […]\n\n\n\n

(2) Wer Krafträder führt sowie auf oder in ihnen mitfährt, muss während der Fahrt einen geeigneten Schutzhelm tragen.\n\n\n\n

§ 46 StVO\n\n\n\n

Ausnahmegenehmigung und Erlaubnis\n\n\n\n

(1) Die Straßenverkehrsbehörden können in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen\n\n\n\n

[…]
Nr. 5 b: von den Vorschriften über das Anlegen von Sicherheitsgurten und das Tragen von Schutzhelmen (
§ 21a StVO).\n\n\n\n

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Sachverhalt als .pdf\n\n\n\n
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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

Die Klage des S hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist. \n\n\n\n

A. Zulässigkeit\n\n\n\n

Die Klage müsste zunächst zulässig sein. \n\n\n\n

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs\n\n\n\n

Der Verwaltungsrechtsweg müsste eröffnet sein. Da keine aufdrängende Sonderzuweisung vorliegt, müsste es sich nach der Generalklausel § 40 I 1 VwGO bei dem zugrundeliegenden Sachverhalt um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht-verfassungsrechtlicher Art handeln und es dürfte keine abdrängende Sonderzuweisung vorliegen.\n\n\n\n

Eine Streitigkeit ist nach der modifizierten Subjektstheorie öffentlich-rechtlich, wenn die streitentscheidende Norm eine solche des öffentlichen Rechts ist, also einen Hoheitsträger berechtigt oder verpflichtet. Die streitentscheidende Norm ist die Ausnahmeregelung des § 46 I Nr. 5b StVO, welche die Behörden berechtigt eine Ausnahmegenehmigung von der Helmpflicht zu erlassen. Damit liegt eine Norm des öffentlichen Rechts vor und es handelt sich folglich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit.\n\n\n\n

Die Streitigkeit ist auch nicht-verfassungsrechtlicher Art. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist ebenfalls nicht ersichtlich.\n\n\n\n

Der Verwaltungsrechtsweg ist gem. § 40 I 1 VwGO eröffnet.\n\n\n\n

II. Statthafte Klageart\n\n\n\n

Es müsste eine statthafte Klageart vorliegen. Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers, § 88 VwGO. Hier begehrt S eine Ausnahmegenehmigung von der Verpflichtung zum Tragen eines Schutzhelms. Die Verpflichtungsklage ist statthaft, wenn der Kläger die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes begehrt, vgl. § 42 I 2. Fall VwGO. Bei der Ausnahmegenehmigung handelt es sich um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG. Somit ist die Verpflichtungsklage gem. § 42 I VwGO in der Form der Versagungsgegenklage statthaft.\n\n\nAnmerkung: Arten der Verpflichtungsklage

\nBei der Verpflichtungsklage unterscheidet man zwischen zwei verschiedenen Arten, die Versagungsgegenklage und die Untätigkeitsklage. Die Art ist maßgeblich von dem behördlichen Handeln abhängig. Dies verdeutlicht ein einfaches Beispiel: Der A beantragt bei der zuständigen Behörde eine Baugenehmigung.
\nWenn die Behörde den Antrag ablehnt, ist die Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage statthaft.
\nWenn die Behörde auf den Antrag gar nicht reagiert, ist die Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage statthaft.
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III. Klagebefugnis\n\n\n\n

S müsste klagebefugt nach § 42 II VwGO sein. Dazu müsste für S die Möglichkeit eines Anspruchs auf die Ausnahmegenehmigung bestehen. S könnte einen Anspruch aus § 46 I StVO auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung haben. Diese Vorschrift dient zumindest auch seinen individuellen Interessen. Der S ist mithin klagebefugt.\n\n\nVernetztes Lernen: Klagebefugnis bei der Verpflichtungsklage

\nBei der Verpflichtungsklage kann nicht ohne weiteres auf den Adressatengedanken abgestellt werden, d.h. der Adressat des Verwaltungsakts ist nicht grundsätzlich klagebefugt. Die Ablehnung eines für den Antragstellenden begünstigenden Verwaltungsakts führt nur zur Klagebefugnis, wenn auch die Möglichkeit für den Antragsstellenden besteht einen Anspruch auf den begünstigenden Verwaltungsakt zu haben. [1]Schaks\/Friedrich, JuS 2018, 860, 865