{"id":2164,"date":"2022-02-01T11:46:30","date_gmt":"2022-02-01T10:46:30","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=2164"},"modified":"2023-01-12T10:04:10","modified_gmt":"2023-01-12T09:04:10","slug":"bundesnotbremse","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/bundesnotbremse\/","title":{"rendered":"Bundesnotbremse I"},"content":{"rendered":"

BVerfG, Beschl. vom 19.11.2021 – 1 BvR 781\/21; NJW 2022, 139\n\n\n\n

Sachverhalt – abgewandelt und gekürzt\n\n\n\n

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Am 23.04.2021 trat in Deutschland das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in Kraft, welches dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) mehrere bundeseinheitliche Maßnahmen hinzufügte. Dazu gehörte z.B. die sogenannte „Bundesnotbremse“ des § 28b IfSG. Gekoppelt an eine Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 pro 100.000 Einwohner in Landkreisen sowie kreisfreien Städten entfalten die in § 28b I 1 1 IfSG niedergelegten Bestimmungen automatisch Wirkung, die auch mit Bußgeldern geahndet werden konnten. Die Eheleute A und B befürchten, dass die Bestimmungen bei den schnell steigenden Inzidenzen bald auch in ihrem Landkreis gelten. Sie fühlen sich durch die in § 28b I 1 Nr. 1 IfSG und § 28b I 1 Nr. 2 IfSG enthaltenen Kontakt- sowie Ausgangsbeschränkungen in ihren Grundrechten verletzt und erheben daher Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgesetz. Die Maßnahmen würden ihr familiäres Zusammenleben mit ihren drei erwachsenen und nicht ihrem Haushalt angehörigen Kindern stören. Außerdem würden sie in ihrem Haus „eingesperrt“ und durch die umfassenden Kontaktbeschränkungen vereinsamen.\n\n\n\n

Hat die Verfassungsbeschwerde der Eheleute Erfolg?\n\n\n\n

Bearbeitungsvermerk: Etwaige Bußgeldvorschriften sind nicht zu prüfen.\n\n\n\n

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§ 28b IfSG Bundesweit einheitliche Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) bei besonderem Infektionsgeschehen, Verordnungsermächtigung\n\n\n\n

(1) 1Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die durch das Robert Koch-Institut veröffentlichte Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) den Schwellenwert von 100, so gelten dort ab dem übernächsten Tag die folgenden Maßnahmen:\n\n\n\n

1. private Zusammenkünfte im öffentlichen oder privaten Raum sind nur gestattet, wenn an ihnen höchstens die Angehörigen eines Haushalts und eine weitere Person einschließlich der zu ihrem Haushalt gehörenden Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres teilnehmen; Zusammenkünfte, die ausschließlich zwischen den Angehörigen desselben Haushalts, ausschließlich zwischen Ehe oder Lebenspartnerinnen und -partnern, oder ausschließlich in Wahrnehmung eines Sorge- oder Umgangsrechts oder im Rahmen von Veranstaltungen bis 30 Personen bei Todesfällen stattfinden, bleiben unberührt;\n\n\n\n

2. der Aufenthalt von Personen außerhalb einer Wohnung oder einer Unterkunft und dem jeweils dazugehörigen befriedeten Besitztum ist von 22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetags untersagt; dies gilt nicht für Aufenthalte, die folgenden Zwecken dienen:\n\n\n\n

a) der Abwendung einer Gefahr für Leib, Leben oder Eigentum, insbesondere eines medizinischen oder veterinärmedizinischen Notfalls oder anderer medizinisch unaufschiebbarer Behandlungen,\n\n\n\n

b) der Berufsausübung im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit diese nicht gesondert eingeschränkt ist, der Ausübung des Dienstes oder des Mandats, der Berichterstattung durch Vertreterinnen und Vertreter von Presse, Rundfunk, Film und anderer Medien,\n\n\n\n

c) der Wahrnehmung des Sorge- oder Umgangsrechts,\n\n\n\n

d) der unaufschiebbaren Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger oder der Begleitung Sterbender,\n\n\n\n

e) der Versorgung von Tieren,\n\n\n\n

f) aus ähnlich gewichtigen oder unabweisbaren Zwecken oder\n\n\n\n

g) zwischen 22 und 24 Uhr der im Freien stattfindenden allein ausgeübten körperlichen Bewegung, nicht jedoch in Sportanlagen;\n\n\n\n[…]\n\n\n\n

(10) 1Diese Vorschrift gilt nur für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 durch den Deutschen Bundestag, längstens jedoch bis zum Ablauf des 30. Juni 2021. […]\n\n\n\n

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Sachverhalt als .pdf\n\n\n\n
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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist. \n\n\n\n

A. Zulässigkeit\n\n\n\n

Zuerst müsste die Verfassungsbeschwerde zulässig sein. \n\n\n\n

I. Zuständigkeit\n\n\n\n

Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG für Individualverfassungsbeschwerden zuständig. \n\n\n\n

II. Beschwerdefähigkeit\n\n\n\n

Gem. § 90 I BVerfGG ist „jedermann“ und somit auch die Eheleute A und B als natürliche Personen beschwerdefähig.\n\n\n\n

III. Beschwerdegegenstand \n\n\n\n

Beschwerdegegenstand kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. Vorliegend steht mit § 28b I 1 Nr. 1 und 2 IfSG eine gesetzliche Regelung des Bundestags in Frage, also ein Akt der Legislative. Die Eheleute erheben mithin eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde.\n\n\n\n

IV. Beschwerdebefugnis \n\n\n\n

Die Beschwerdeführenden müssten hinreichend geltend machen, dass sie durch die in § 28b I 1 IfSG niedergelegten Maßnahmen in ihren Grundrechten verletzt worden sind.\n\n\n\n

1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung\n\n\n\n

Die Grundrechtsverletzung müsste möglich, also nicht von vorneherein ausgeschlossen sein. \n\n\n\n

a) Die Kontaktbeschränkungen verbieten und beschränken persönliche Treffen in einem umfassenden Maß und auch im familiären Rahmen. Es erscheint daher nicht unmöglich, dass die Eheleute durch die Maßnahme in ihrem Recht auf Familie aus Art. 6 I GG, ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG und der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG verletzt sind. \n\n\n\n

b) Durch die Ausgangsbeschränkungen ist es untersagt die Wohnung ohne einen der in Nr. 2 genannten Ausnahmen zu verlassen. Sie könnten die Beschwerdeführenden somit in ihrem Recht auf Fortbewegungsfreiheit aus Art. 2 II 2 GG i.V.m. Art. 104 I GG tangieren. \n\n\nAnmerkung: Beeinträchtigung anderer Grundrechte

\nDas BVerfG hat andere in Betracht kommende Grundrechte wie Art. 2 II 1, Art. 8 oder Art. 11 GG damit verworfen, dass der Vortrag der Beschwerdeführenden nicht den Begründungsanforderungen des BVerfGs entsprechen. Teils haben diese nur damit argumentiert, dass die Grundrechtsverletzungen „auf der Hand“ lägen.[1]Vgl. BVerfG NJW 2022, 139, 140 Rn. 92 ff.