{"id":1901,"date":"2021-12-01T07:30:00","date_gmt":"2021-12-01T06:30:00","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=1901"},"modified":"2022-04-25T11:50:39","modified_gmt":"2022-04-25T09:50:39","slug":"altes-haus-neue-freud","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/altes-haus-neue-freud\/","title":{"rendered":"Altes Haus – neue Freud"},"content":{"rendered":"

VGH München, Urteil vom 02.11.2020 – 15 B 19.2210; NVwZ 2021, 1637\n\n\n\n

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Sachverhalt\n\n\n\n

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A ist seit 1988 Eigentümerin eines in Bayern gelegenen Grundstücks im Außenbereich mit einem ehemaligen Wohngebäude, das A zunächst nicht als solches nutzte. Die zuständige Behörde wendet sich an sie und verpflichtet sie, das Gebäude vollständig zu beseitigen. Zur Begründung führt die Behörde an, dass A am Gebäude Um- und Instandsetzungsarbeiten durchgeführt habe, welche einer Wohnnutzungsaufnahme gedient hätten. Das sei genehmigungspflichtig. Das Gebäude, dessen Wohnnutzung seit langem aufgegeben wurde, sollte mit den Baumaßnahmen (Einbau einer Heizungsanlage, Austausch von Türen und Fenster, Erneuerung der Dachhaut, Errichtung eines Kamins) wieder bewohnbar gemacht werden. Diese „Wiederwohnbarmachung“ sei bauplanungsrechtlich nicht genehmigungsfähig. Die Bauruine sei nicht mehr bestandsgestützt gewesen. Die Baugenehmigung aus 1912 sei wirkungslos geworden.\n\n\n\n

A ist hingegen der Ansicht, die Voraussetzungen zum Erlass einer Beseitigungsverfügung seien nicht gegeben.\n\n\n\n

Ist eine Klage der A gegen die Beseitigungsverfügung begründet?\n\n\n\n

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Bayerische Bauordnung (BayBauO)\n\n\n\n

Art. 76 Beseitigung von Anlagen, Nutzungsuntersagung\n\n\n\n

1Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert, so kann die Bauaufsichtsbehörde die teilweise oder vollständige Beseitigung der Anlagen anordnen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. 2Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt, so kann diese Nutzung untersagt werden. 3Die Bauaufsichtsbehörde kann verlangen, dass ein Bauantrag gestellt wird.\n\n\n\n

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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

Die Klage von A ist begründet, wenn der Bescheid rechtswidrig ist und sie in ihren Rechten verletzt, § 113 I 1 VwGO.\n\n\nVernetztes Lernen: Welche Klageart wäre statthaft? Hätte eine Klage aufschiebende Wirkung?

\nStatthaft wäre eine Anfechtungsklage gem. § 113 I 1 VwGO, da es um die Aufhebung eines Verwaltungsaktes i. S. v. § 35 S. 1 BayVwVfG (entspricht § 35 S. 1 VwVfG) geht. Anfechtungsklagen haben nach § 212a I BauGB i. V. m. § 80 II 1 Nr. 3 VwGO im Baurecht bisweilen keine aufschiebende Wirkung i.S.v. § 80 I 1 VwGO. § 212a BauGB erfasst aber nur Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens. Für Klagen gegen Beseitigungsanordnungen seitens der adressierten Person greift § 212a I BauGB nicht, sodass die aufschiebende Wirkung nur entfällt, wenn die sofortige Vollziehung besonders angeordnet wird, § 80 II 1 Nr. 4 VwGO.
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A. Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung\n\n\n\n

Die Beseitigungsanordnung wäre rechtswidrig, wenn sie nicht auf die Ermächtigungsgrundlage des Art. 76 S. 1 BayBauO gestützt werden kann.\n\n\nAnmerkung: Regelungen in anderen Ländern

\nVergleichbare Regelungen zu Art. 76 S. 1 BayBauO in anderen Ländern finden sich in § 79 BremLBO, § 65 BWLBO § 82 HBO, § 80 LBauO M-V, § 79 NBauO, § 82 BauO NRW, § 8 RhPfLBauO, § 82 SaarLBO, § 80 SächsBO, § 79 BauO LSA, § 59 SchlHLBO, § 79 ThürBO.
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Art. 76 S. 1 BayBauO fordert einen Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften und meint formelle und materielle Baurechtswidrigkeit (=Illegalität).\n\n\n\n

I. Formelle Baurechtswidrigkeit\n\n\n\n

Das Wohngebäude als bauliche Anlage wäre formell illegal, wenn es nicht auf eine Baugenehmigung gestützt werden kann. Im Jahr 1912 wurde für das Wohngebäude eine Baugenehmigung erteilt. Die Baugenehmigung bleibt als Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist, Art. 43 II BayVwVfG (entspricht § 43 II VwVfG).\n\n\n\n

1. Erledigung infolge Nichtweiterführung einer genehmigten Nutzung\n\n\n\n

Eine Erledigung auf andere Weise gem. Art. 43 II BayVwVfG kann in einem Verzicht liegen. Mangels eines ausdrücklichen Verzichts kommt nur ein konkludenter Verzicht auf die Baugenehmigung in Betracht.[1]Vgl. Gilcher\/Alberts, NVwZ 2021, 1639.