{"id":1556,"date":"2021-06-30T10:40:29","date_gmt":"2021-06-30T08:40:29","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=1556"},"modified":"2021-06-30T10:50:42","modified_gmt":"2021-06-30T08:50:42","slug":"menschwerdung","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/menschwerdung\/","title":{"rendered":"Menschwerdung"},"content":{"rendered":"
BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 256\/20 – NJW 2021, 645\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n

Die mit Zwillingen schwangere P wird im siebten Schwangerschaftsmonat im Klinikum H. untersucht, wo festgestellt wird, dass ein Fötus eine erhebliche Entwicklungsstörung aufweist, während der andere sich nahezu unauffällig entwickelt. P wird zu diesem Zeitpunkt über die Möglichkeit eines selektiven Fetozids, also die Abtötung des geschädigten Fötus durch Verschluss der Nabelschnur, aufgeklärt. Zunächst entscheidet sich die P für einen solchen selektiven Fetozid, nimmt jedoch wenig später Abstand, da sie sich in dem Klinikum H. nicht gut betreut fühlte und glaubte, man wolle den Abbruch gar nicht vornehmen. Einen Monat später setzten die Wehen ein und P wird in das Klinikum K. eingewiesen. Es lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen, ob es sich bei diesen Wehen bereits um Eröffnungs- oder lediglich Vorwehen handelte. A, die von dem Wunsch der P wusste, nur das gesunde Kind zur Welt zu bringen, leitete die Entbindung mittels Kaiserschnittes ein. Sie schnitt in die Bauchdecke, dann in den Uterus der P ein und durchtrennte sodann die Nabelschnur des gesunden Zwillings und übergab ihn der Neonatologie. Anschließend klemmte sie die Nabelschnur des lebensfähigen, aber geschädigten Zwillings ab und injizierte in die Nabelschnur Kaliumchlorid, was das Kind absterben ließ. Dabei war der A bewusst, dass diese Methode, einen selektiven Fetozid durchzuführen in medizinischen Fachkreisen nicht anerkannt ist. Sie ging davon aus, sich damit über geltendes Recht hinwegzusetzten und einen Menschen zu töten, entschied sich aber gleichsam dafür, da sie keine andere Möglichkeit sah, dem Wunsch der P zu entsprechen.\n\n\n\n

Strafbarkeit der A gem. § 212 I StGB?\n\n\nAnmerkung: Weitere Strafbarkeiten

\nIm Folgenden soll sich das Gutachten vor allem auf die Strafbarkeit des (späten) selektiven Fetozids richten. Daneben kommt eine Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung zu Lasten der P durch den operativen Eingriff in Betracht. Bejaht man die Tatbestandsmäßigkeit des ärztlichen Heileingriffs, so wäre auf Ebene der Rechtswidrigkeit sodann die rechtfertigende Einwilligung zu prüfen.
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Skizze\n\n\n\n\n\n

Gutachten\n\n\n\n

Strafbarkeit gem. § 212 I StGB\n\n\n\n

A könnte sich gem. § 212 I StGB strafbar gemacht haben, indem sie nach der Öffnung des Uterus und der Entbindung des gesunden Zwillings, dem geschädigten Zwilling Kaliumchlorid injiziert, sodass dieser stirbt.\n\n\n\n

I. Tatbestand\n\n\n\n

1. Objektiver Tatbestand \n\n\n\n

Problematisch ist indessen, ob es sich bei dem geschädigten, noch in der Gebärmutter befindlichen Zwilling bereits um einen Menschen im Sinne der §§ 211 ff. StGB handelt oder um einen Nasciturus i.S.d. §§ 218 ff. StGB.\n\n\nVernetztes Lernen: Welche wesentlichen Unterschiede ergeben sich zwischen dem Schutz des menschlichen Lebens in den Para. 211 ff. StGB und den Para. 218 ff. StGB?

\nDer Schutz der §§ 211 ff. StGB lässt sich insgesamt als umfassender bezeichnen. Dies lässt sich im Strafrahmen bemerken. Daneben kennt der Schutz des vorgeburtlichen Lebens keine Fahrlässigkeitstat wie § 222 StGB. Zudem bestehen eine Reihe von Tatbestandsausschlüssen und Rechtfertigungsgründe für den Schwangerschaftsabbruch in § 218a StGB. Die vorsätzlichen Tötungsdelikte durch aktives Tun lassen sich hingegen nur in den deutlich engeren Grenzen der §§ 32, 34 StGB rechtfertigen. Aus diesen Gründen ist die Frage, wo die Grenze zwischen dem Schwangerschaftsabbruch und den Tötungsdelikten zu ziehen ist, von besonderem Gewicht.
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Die Frage, ab wann der strafrechtliche Schutz der §§ 211 ff. StGB greift, ist bis jetzt nicht einheitlich beurteilt. Streitig ist, ob es auf den Beginn oder vielmehr auf das Ende des Geburtsvorganges ankommen soll.[1]Nachweise bei Schneider, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. 2021, Vor § 211 Rn. 7 ff.