{"id":1489,"date":"2021-05-26T11:42:18","date_gmt":"2021-05-26T09:42:18","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=1489"},"modified":"2022-04-28T22:23:17","modified_gmt":"2022-04-28T20:23:17","slug":"paritaetsgesetz-gleichberechtigung-auf-der-wahlliste","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/paritaetsgesetz-gleichberechtigung-auf-der-wahlliste\/","title":{"rendered":"Paritätsgesetz – Gleichberechtigung auf der Wahlliste"},"content":{"rendered":"

ThürVerfGH, Urt. v. 15.07.2020 – VerfGH 2\/20 – NVwZ 2020, 1266; zugleich: VerfG Bbg, Urt. v. 23.10.2020 – VfGBbg 9\/19 – NJW 2020, 3579\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n

(leicht verändert und gekürzt)\n\n\n\n

In der 19. Wahlperiode des deutschen Bundestages lag der Anteil der weiblichen Abgeordneten bei 30,9 %. In den Landesparlamenten sieht es nicht anders aus. Weil damit auch die Perspektive von Frauen im Gesetzgebungsprozess zu kurz komme, finden sich im Parlament des Bundeslands B die Koalitionsfraktionen zusammen und beschließen in formell einwandfreier weise ein sog. Paritätsgesetz. Darin wird für die kommenden Landtagswahlen vorgeschrieben, dass auf den von den Parteien zu beschließenden Landeslisten jeweils abwechselnd Frauen und Männer gesetzt werden müssen. So soll sichergestellt werden, dass zumindest die Kandidat*innen, die über die Landeswahllisten in das Parlament gewählt werden zu (annähernd) 50 % weiblich sind. Auf die Auswahl der Direktkandidat*innen in den Wahlkreisen hat das Gesetz keine Auswirkungen.\n\n\n\n

Die Regelung in § 12 B-LWahlG lautet nun wie folgt:\n\n\n\n

(1) Die Landesliste ist abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen. Der erste Platz kann entweder mit einer Frau oder einem Mann besetzt werden. Die jeweils einem Geschlecht zur Verfügung stehenden Listenplätze können in Ausnahmefällen mit Personen des anderen Geschlechts besetzt werden, z.B. falls nicht genügend Kandidatinnen bzw. Kandidaten zur Verfügung stehen. Personen, die im Personenstandsregister als „divers“ eingetragen sind, können unabhängig von der Reihenfolge kandidieren. Nach einer diversen Person setzt sich die abwechselnde Reihenfolge von dem vorhergehenden Platz aus betrachtet fort.\n\n\n\n

(2) Dies gilt nicht für diejenigen Parteien, die die aus programmatischen Gründen ausschließlich einem Geschlecht zugeordnet sind.\n\n\n\n

(3) …\n\n\n\n

Außerdem enthält § 13 B-LWahlG folgende Regelung:\n\n\n\n

(1) Wahllisten, die nicht den Anforderungen des § 12 B-LWahlG entsprechen, werden zurückgewiesen. Wahlvorschlage, die § 12 B-LWahlG zum Teil entsprechen, werden nur bis zu dem Listenplatz zugelassen, mit dessen Besetzung den Vorgaben des § 12 B-LWahlG entsprochen wurde.\n\n\n\n

(2) …\n\n\n\n

Die Koalitionsfraktionen argumentieren, dass mehr als 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts 1918 endlich dem Auftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG entsprochen werden müsste. Es könne nicht angehen – und sei auch verfassungsrechtlich bedenklich – dass Frauen, die 51,5 % der wahlberechtigten Bevölkerung ausmachen, derart unterrepräsentiert seien. Frauen sollte durch das Gesetz die chancengleiche Teilnahme am politischen Prozess ermöglicht werden. Das Gesetz sei schon aus Gründen der gleichberechtigten demokratischen Teilhabe geboten.\n\n\n\n

Die Oppositionsfraktionen A und F meinen hingegen, dass damit das passive und aktive Wahlrecht und die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl verletzt würden. Außerdem würden die Parteien übermäßig in ihrer Autonomie beeinträchtigt. Wenn eine Partei nur einen geringen Anteil an Frauen habe, die bereit seien sich aufstellen zu lassen, könnte es im Zweifel dazu kommen, dass eine Partei weniger Sitze im Parlament erhalte, als ihr nach dem Anteil der Stimmen zustehe – dies verletze fundamentale Grundsätze der Wahl.\n\n\n\n

Dem hält die Koalitionsfraktion entgegen, dass etwaige Beschränkungen gerechtfertigt seien. Schließlich sei in Art. 3 Abs. 2 GG der verfassungsrechtliche Auftrag zur Herstellung der tatsächlichen Gleichberechtigung ausdrücklich vorgesehen – und dies im Wesentlichen seit 1949 (ergänzt 1994). Außerdem komme kein Bewerber zu kurz: Männer wie Frauen könnten sich auf die Hälfte der Listenplätze bewerben und hätten damit die gleichen Chancen.\n\n\n\n

Dem wiederum entgegnen die Abgeordneten der A und der F Fraktion, was zutrifft, dass in fast allen Parteien bereits heute der Anteil der Frauen auf den Landeswahllisten höher sei, als in den Parteien insgesamt. Man bemühe sich also schon Frauen besonders zu fördern. Es sollte den Parteien selbst überlassen sein, ob sie hier weitere Maßnahmen ergreifen wollten.\n\n\n\n

Die Abgeordneten der A und der F Fraktion erheben beim – mangels prozessualer Mittel vor dem Landesverfassungsgericht in B – zuständigen Bundesverfassungsgericht eine zulässige abstrakte Normenkontrolle.\n\n\n\n

Ist die abstrakte Normenkontrolle begründet?\n\n\n\n

Bearbeitervermerk: Prüfen Sie gutachterlich am Maßstab des Grundgesetzes.\n\n\n\n


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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

A. Begründetheit \n\n\nSchema der Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle vor dem BVerfG
\nI.\tZulässigkeit \n

1.\tZuständigkeit, Art. 93 Abs. I Nr. 2 GG, §§ 13, Nr. 6, 76 ff. BVerfGG\n

BVerfG ist zuständig für die Überprüfung von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht. \n

2.\tAntragsberechtigung, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, § 76 Abs. 1 BVerfGG \n

Bundesregierung, eine der Landesregierungen, ein Viertel der Mitglieder des Bundestages \n

3.\tAntragsgegenstand \n

Jedes in Kraft getretene (oder im Ausnahmefall zumindest verkündete) Bundes- oder Landesrecht, geschrieben oder ungeschrieben, in formeller und materieller Hinsicht, vor- und nachkonstitutionelles Recht \n

4.\tAntragsbefugnis, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG \/ § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG \n

Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG reichen Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel aus; nach § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG bedarf es eines „für nichtig halten“. Auch wenn das BVerfGG auf das „für nichtig halten“ abstellt, ist die Literatur einhellig der Meinung, dass lediglich die vom Grundgesetz aufgestellte Forderung der „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“ eingehalten werden müssen. Dafür spricht nicht zuletzt die Normenhierarchie.
\nIst eine Norm bereits für nichtig erklärt, mangelt es am Klarstellungsinteresse. \n

5.\tForm, § 23 Abs. 1 BVerfGG\n

Schriftform, aber keine Frist. \n

6.\tErgebnis \n\n\n\n\n

Die abstrakte Normenkontrolle der Fraktionen ist begründet, wenn die Vorschriften des B-LWahlG gegen Vorschriften des Grundgesetzes verstoßen. Das ist der Fall, wenn der Gewährleistungsgehalt einer verfassungsrechtlichen Vorschrift beeinträchtigt wird und dies verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist.\n\n\n\n

I. Beeinträchtigung von Art. 38 Abs. 1 S. 1\n\n\n\n

Durch die §§ 12, 13 B-LWahlG könnten die grundrechtsgleichen Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG beeinträchtigt sein. Die Abgeordneten des Parlaments werden gem. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in allgemeinen, unmittelbaren, freien und geheimen Wahlen gewählt. Hier kommt eine Beeinträchtigung des Grundsatzes der Freiheit der Wahl und der Gleichheit der Wahl in Betracht.\n\n\nAnmerkung: Begrifflichkeiten

\nDas Bundesverfassungsgericht spricht bei grundrechtsgleichen Rechten nicht von Eingriffen, sondern von Beeinträchtigungen. Dies kann man, muss man aber nicht in der Klausur machen.
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1. Beeinträchtigung der Freiheit der Wahl, Art. 38 Abs. 1 S. 1 (aktiv)\n\n\n\n

Das sog. Paritätsgesetz könnte den Wahlrechtsgrundsatz der Freiheit der Wahl beeinträchtigen. Die Freiheit der Wahl verlangt, dass Wahlen nicht durch Zwang und Druck von staatlicher Seite beeinflusst werden und dass der Prozess der Willensbildung des Volkes „staatsfrei“ verläuft.[1]so ThürVerfGH, NVwZ 2020, 1266, 1267 Rn. 78; VerfG Bbg, NJW 2020, 3579, 3584 Rn. 138.