{"id":1138,"date":"2021-01-13T12:00:00","date_gmt":"2021-01-13T11:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=1138"},"modified":"2022-04-25T12:00:32","modified_gmt":"2022-04-25T10:00:32","slug":"organspendeskandal","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/organspendeskandal\/","title":{"rendered":"Organspendeskandal"},"content":{"rendered":"
BGH-Urteil vom 28.06.2017 – 5 StR 20\/16 – NJW 2017, 3249\n\n\n\n

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Sachverhalt\n\n\n\n

A ist betreuende Ärztin in einem Transplantationszentrum und betreut die Patienten B und C. Beide benötigen dringend eine Spenderleber. Damit ihre Patienten eine neue Leber erhalten können, veranlasste A die Aufnahme auf die Warteliste von Eurotransplant. Eurotransplant ist eine privatrechtliche Stiftung, welche Organe im Rahmen eines internationalen Austausches vermittelt auf Grundlage des TPG. Wahrheitswidrig gab sie dabei gegenüber Eurotransplant an, dass sich B bereits in Dialysetherapie befindet und der Kreatin-Wert sehr hoch ist (dieser zeigt die Dringlichkeit einer Transplantation an). C wiederum hat Leberprobleme aufgrund von übermäßigem Alkoholkonsum, sodass die Bundesärztekammerrichtlinie vorsieht, dass solche Patienten erst nach sechs Monaten Abstinenz auf die Transplantationsliste gesetzt werden dürfen. Diese sechs Monate waren in diesem Zeitpunkt noch nicht vergangen, was A gegenüber Eurotransplant nicht mitteilte. A weiß, dass ihre Patienten ohne diese wahrheitswidrigen Angaben nicht auf die Warteliste der Eurotransplant aufgenommen worden wären. Sie wollte jedoch die Überlebenschancen ihrer Patienten erhöhen. Sie hielt es für möglich, dass diese anderen Patienten im Rang vorgezogen werden könnten und die dahinterliegenden Ränge gegebenenfalls keine Organspende erlangen und dadurch versterben könnten. Das Sterberisiko hielt sie jedoch für gering, zudem wusste A, dass trotz einer Organspende die Patienten versterben können. A wusste, dass nicht für alle Patienten auf der Liste eine Spenderleber vorhanden ist, ging jedoch davon aus, dass für die dringenden Fälle stets ein Organ zur Verfügung steht. Ihre Patienten haben eine Organspende erhalten. Ob tatsächlich jemand infolgedessen gestorben ist, kann nicht ermittelt werden. \n\n\n\n

Strafbarkeit der A nach dem StGB? § 278 StGB ist nicht zu prüfen. \n\n\n\n


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Skizze\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

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A. Strafbarkeit aufgrund der Angaben zu B: §§ 212 I, 22, 23 I StGB\n\n\n\n

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Indem A veranlasste, dass B aufgrund wahrheitswidriger Angaben in die Warteliste von Eurotransplant aufgenommen wurde, könnte sie sich wegen versuchten Totschlags an den „überholten“ Patienten gemäß §§ 212 I, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben. \n\n\n\n

I. Vorprüfung\n\n\n\n

Die Tat wurde nicht vollendet, weil nicht festgestellt werden kann, ob infolge der Handlung der A andere Patienten gestorben sind, sodass in dubio pro reo davon auszugehen ist, dass der Tod eines anderen nicht verursacht wurde. Die Strafbarkeit des Versuchs folgt aus § 23 I, 12 I iVm. 212 I BGB.\n\n\nVernetztes Lernen: In welcher Weise können unklare Sachverhalte im Strafrecht noch relevant werden?

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1. Postpendanzfeststellung
\nLiegt vor, wenn lediglich das Nachtatgeschehen sicher ist, wobei die rechtliche Bewertung der ungewissen Vortat notwendig ist.
\nBsp.: A war entweder am Diebstahl mittäterschaftlich beteiligt und hat das Diebesgut auf diese Weise erlangt oder er hat das Diebesgut als Hehler erhalten. Sicher ist nur, dass A das Diebesgut an den gutgläubigen B verkauft hat. Für die Beurteilung der Hehlerei ist jedoch wichtig, ob A am Diebstahl beteiligt war (Stichwort: Stehler ist nie Hehler). \n

2. Prädendanzfeststellung
\nLiegt vor, wenn lediglich das Vorgeschehen sicher ist, wobei die rechtliche Bewertung der ungewissen Nachtat notwendig ist.
\nBsp.: Unklar ist, ob A an einem Mord beteiligt war oder nicht. Sicher ist nur, dass er von dem Mord wusste und diesen nicht angezeigt hat. \n

3. Echte Wahlfeststellung
\nLiegt vor, wenn kein Beweis für eine bestimmte Tat geführt werden kann. Es steht jedoch fest, dass zwangsläufig eine von mehreren möglichen Taten begangen wurde. Sicher ist, dass ein strafloser Hergang ausscheidet.
\nBsp.: A war entweder am Diebstahl mittäterschaftlich beteiligt und hat das Diebesgut auf diese Weise erlangt oder er hat das Diebesgut als Hehler durch Ankauf erhalten. \n

4. Unechte Wahlfeststellung
\nLiegt vor, wenn die verwirklichte Strafnorm feststeht, jedoch nicht klar ist, durch welche Handlung die Strafnorm verwirklicht wurde.
\nBsp.: A hat als Zeuge in zwei verschiedenen Verhandlungen völlig unterschiedlich ausgesagt, wobei seine Aussage sich in beiden Verhandlungen auf denselben Sachverhalt bezog. Es steht damit nur fest, dass er in einer der beiden Verhandlungen gelogen haben muss, in welcher kann nicht festgestellt werden.\n\n\n\n\n

II. Tatentschluss\n\n\n\n

A müsste Tatentschluss hinsichtlich der Tötung eines anderen Patienten gehabt haben. Tatentschluss liegt vor, wenn der Täter Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale hatte und auch alle sonstigen subjektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Vorsätzlich handelt, wer bei Begehung der Tat zumindest für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, dass durch sein Verhalten alle Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, verwirklicht werden. A erkannte, dass die Rangliste sich aufgrund ihrer Angaben verändern würde und möglicherweise ein Patient keine oder erst später eine Organspende erhält und die Möglichkeit eines Todesfalles bestand. Fraglich ist, ob A sich auch vorstellte, den Tod des „überholten Patienten“ kausal herbeizuführen. \n\n\n\n

1. Vorsatz hinsichtlich der Kausalität\n\n\n\n

Nach der Äquivalenztheorie ist eine Handlung kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. [1]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2019, § 13, Rn. 3.