{"id":1039,"date":"2020-11-11T00:46:43","date_gmt":"2020-11-10T23:46:43","guid":{"rendered":"https:\/\/examensgerecht.de\/?p=1039"},"modified":"2022-04-28T22:27:42","modified_gmt":"2022-04-28T20:27:42","slug":"kopftuchverbot-fur-richterinnen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/staging.examensgerecht.de\/kopftuchverbot-fur-richterinnen\/","title":{"rendered":"„Kopftuchverbot“ für Richterinnen"},"content":{"rendered":"

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BayVerfGH, 14.03.2019 – Vf. 3 VII-18; NJW 2019, 2151
sehr ähnlich für Rechtsreferendarinnen: BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020
2 BvR 1333\/17; NJW 2020, 1049
anders die Urteile zu Lehrerinnen mit Kopftuch: BVerfG
NJW 2015, 1359\n\n\n\n

Sachverhalt\n\n\n\n

abgewandelt und gekürzt\n\n\n\n

M ist Richterin am VG in Land L. Sie ist Muslima und nach ihrem Verständnis ihres Glaubens ist es für sie zwingend ein Kopftuch in der Öffentlichkeit zu tragen. In mündlichen Verhandlungen trägt sie ihr Kopftuch. Im Jahr 2018 erlässt das Land L Neuerungen für sein Richter- und Staatsanwaltsgesetz (LRiStAG). \n\n\n\n

§ 11 LRiStAG lautet wie folgt:\n\n\n\n

Richterinnen und Richter dürfen in allen Amtshandlungen mit Außenkontakt keine sichtbaren religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole oder Kleidungsstücke tragen, die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen könnten.\n\n\n\n

Der Gesetzgeber verwies zur Begründung darauf hin, dass es zum Wesen richterlicher Tätigkeit gehöre, dass sie von einem nichtbeteiligten Dritten in sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit ausgeübt werde. Das Vertrauen der Bürger*innen in die Unabhängigkeit, Neutralität und strikte Bindung einzig an Recht und Gesetz sei für einen funktionierenden Rechtsstaat von wesentlicher Bedeutung. Dies könnte durch das Tragen von religiösen Symbolen bzw. weltanschaulich konnotierter Kleidungsstücke in Frage gestellt sein. Dieser Konflikt zwischen Glaubensfreiheit und Neutralitätsgebot müsse zu Gunsten der Neutralität aufgelöst werden. Die Glaubensfreiheit müsse entsprechend eingeschränkt werden. Die Regelung sei verhältnismäßig, da sie sich auf den Außenkontakt beschränke. Außerdem seien nur sichtbar getragene Kleidungsstücke und Symbole von der Regelung umfasst. Da die institutionelle Neutralität der Justiz ein wesentlicher Grundpfeiler der verfassungsrechtlichen Werteordnung sei, müsse diese besonders geschützt werden.\n\n\n\n

M hält § 11 LRiStAG für verfassungswidrig. Schließlich sei diese Regelung anscheinend geschaffen worden, um Richterinnen mit Kopftuch von den Verhandlungen auszuschließen. Im Widerspruch dazu, sei ein Kruzifix in den Verhandlungsräumen erlaubt, solange die Beteiligten nicht widersprechen. Ein Gesetz allein für eine bestimmte Religionsgruppe zu schaffen, stelle ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar. Außerdem fehle es der Regelung an Bestimmtheit, da nicht erkennbar sei, welche Kleidungsstücke genau verboten seien. Ihre von Art. 4 I GG geschützte Glaubensfreiheit würde hierdurch verletzt. Außerdem werde dadurch der Zugang zum Richterinnenamt für Muslima erschwert.\n\n\n\n

Ist § 11 LRiStAG verfassungskonform?\n\n\n\n


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Skizze\n\n\n\n\n\n
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Gutachten\n\n\n\n

§ 11 LRiStAG ist verfassungskonform, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungskonform ist.\n\n\n\n

A. Formelle Verfassungsmäßigkeit\n\n\n\n

Die Vorschrift müsste zunächst formell verfassungskonform sein. Insbesondere stellt sich die Frage, ob das Land L die Gesetzgebungskompetenz hat. Die Länder haben die Gesetzgebungskompetenz, soweit das GG dem Bund keine Kompetenz zuordnet, Art. 30, Art. 70 GG. Nach Art. 98 III GG haben die Länder die Gesetzgebungskompetenz bezüglich der Rechtstellung der Landesrichter, soweit nicht der Bund eine Regelung aufgrund seiner Kompetenz nach Art. 74 I Nr. 27 GG erlassen hat. Rechtsstellung meint die statusrechtlichen Fragen. Bezüglich Vorschriften, die die Kleidung von Richter*innen betreffen, hat der Bund keine Kompetenz. Demnach hat das Land L die Kompetenz ein solches Gesetz zu erlassen.\n\n\n\n

B. Materielle Verfassungsmäßigkeit\n\n\n\n

§ 11 LRiStAG müsste auch materiell verfassungskonform sein.  \n\n\n\n

I. Bestimmtheit\n\n\n\n

Die Vorschrift müsste zunächst den Anforderungen an die Bestimmtheit von Gesetzen entsprechen. Das Bestimmtheitsprinzip ist Ausfluss aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG.[1]Huster\/Rux in BeckOK GG, 44. Ed., Art. 20, Rn. 182 ff.