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Windenergieanlagen in Wäldern

BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21NVwZ 2022, 861; JuS 2023, 89; KlimR 2022, 374

Sachverhalt

W ist Inhaberin eines Waldgrundstücks in Thüringen. Nach mehreren Jahren in Folge, in denen der Wald besonderem Stress aufgrund anhaltender Trockenheit ausgeliefert war, befiel im letzten Jahr der Borkenkäfer ihre angestrengten Waldbestände. Die meisten Bäume sind schwer davon beeinträchtigt, viele sind abgestorben.

Nachdem W so stark vom Klimawandel beeinträchtigt war, schaut sie sich für einen Teil ihres Waldes nach einer Nutzungsart um, die es ihr ermöglicht einen positiven Beitrag zum Klimawandel zu leisten und nach den Jahren mit hohen Verlusten wieder Geld zu verdienen. Sie will Windenergieanlagen bauen. Doch sie stellt fest, dass das Thüringische Wald Gesetz in § 10 I S. 2 grundsätzlich die Umwandlung von Waldgebieten zur Errichtung von Windenergieanlagen verbietet.

W hält dies für ungerechtfertigt. Jede andere Nutzungsart könnte unter den Voraussetzungen bzw. im Rahmen einer Abwägung nach § 10 ThürWaldG und § 9 BWaldG erreicht werden. Es könne nicht angehen, dass eine bestimmte Nutzungsart grundsätzlich ausgeschlossen wird. Es könne auch nicht rechtmäßig sein, dass sie auf ihrem eigenen Land so stark in ihrer Eigentumsfreiheit beeinträchtigt werde.

Im Gesetzgebungsverfahren wurde vor allem darauf abgestellt, dass durch die Bewirtschaftung mit Windenergieanlagen Sturmschäden in den dann nicht mehr „geschlossenen“ Waldbeständen stärker werden könnten. Dies sei nötig, um den Wald als Teil der natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, so wie es auch das Grundgesetz vorsehe. Die Opposition hatte ausgeführt, dass dies zwar richtig sei, aber ein absolutes Verbot nicht notwendig wäre. Schließlich müssten die Rechte und Interessen der Waldinhaber:innen auch berücksichtigt werden. Außerdem sei der Ausbau von Windenergieanlagen nötig, um die Treibhausgasminderungsziele des Klimaschutzgesetzes zu erfüllen.

W wendet sich – ohne vorhergehenden fachgerichtlichen Rechtsschutz – an das BVerfG mit einer Verfassungsbeschwerde. Sie meint, ihre Eigentumsfreiheit sei verletzt. Das Gesetz sei bereits deshalb nichtig, weil der Bundesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz bereits abschließend gebrauch gemacht habe und die landesgesetzliche Regelung im Widerspruch dazu (insbes. § 249 BauGB) stehe.

Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitervermerk: Art. 12 und Art. 3 GG sind nicht zu prüfen. Auf die unten abgedruckten Vorschriften wird hingewiesen.

§ 10 ThürWaldG

(1) Wald darf nur nach vorheriger Genehmigung der unteren Forstbehörde in eine andere Nutzungsart umgewandelt werden (Änderung der Nutzungsart). Eine Änderung der Nutzungsart zur Errichtung von Windenergieanlagen ist nicht zulässig. Die Genehmigung erfolgt im Einvernehmen mit der unteren Naturschutzbehörde und nach Anhörung der oberen Landesplanungsbehörde. Soll die Fläche nachfolgend landwirtschaftlich genutzt werden, ergeht die Genehmigung darüber hinaus im Einvernehmen mit der oberen Landwirtschaftsbehörde.

(1a) …

(2) Bei der Entscheidung über einen Antrag auf Änderung der Nutzungsart sind die berechtigten Interessen des Waldbesitzers und die Belange der Allgemeinheit gegeneinander und untereinander abzuwägen. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn

1. die Erhaltung des Waldes im öffentlichen Interesse Vorrang vor den Interessen des Antragsstellers hat,
2. Raumordnung und Landesplanung Wald am jeweiligen Ort zwingend vorsehen,
3. die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes nachhaltig geschädigt wird,
4. Belange des Naturschutzes, der Landschaftspflege, der Landeskultur, der Luft- und Wasserreinhaltung und der Erholung der Bevölkerung gefährdet werden,
5. erheblicher Schaden in angrenzendem Wald absehbar ist oder
6. die Bewertung der zusammenfassenden Darstellung einer Umweltverträglichkeitsprüfung im Hinblick auf eine wirksame Umweltvorsorge dies gebietet.

(3) Zur Milderung nachteiliger Wirkungen einer genehmigten Änderung der Nutzungsart ist vom Antragsteller auf eigene Kosten eine funktionsgleiche Ausgleichsaufforstung innerhalb von zwei Jahren nach bestandskräftiger Genehmigung durchzuführen. Dazu können Auflagen erteilt werden. Bei auch nachträglich nicht genehmigter Änderung der Nutzungsart wird unter Fristsetzung die Rückwandlung durch Aufforstung angeordnet. (…)

(4) Können nachteilige Wirkungen auf den Naturhaushalt nicht durch funktionsgleiche Ausgleichsaufforstung ausgeglichen werden, ist eine Walderhaltungsabgabe in Abhängigkeit von der Schwere der Beeinträchtigung und vom erzielten Vorteil des Verursachers der Beeinträchtigung zu zahlen. Die Walderhaltungsabgabe darf nur zur Erhaltung des Waldes verwendet werden. Bemessungsgrundlagen, Verfahren und Verwendung der Mittel werden im Einvernehmen mit dem für Finanzen zuständigen Ministerium durch die oberste Forstbehörde durch Rechtsverordnung geregelt. (…)

§ 9 BWaldG Erhaltung des Waldes

(1) Wald darf nur mit Genehmigung der nach Landesrecht zuständigen Behörde gerodet und in eine andere Nutzungsart umgewandelt werden (Umwandlung). Bei der Entscheidung über einen Umwandlungsantrag sind die Rechte, Pflichten und wirtschaftlichen Interessen des Waldbesitzers sowie die Belange der Allgemeinheit gegeneinander und untereinander abzuwägen. Die Genehmigung soll versagt werden, wenn die Erhaltung des Waldes überwiegend im öffentlichen Interesse liegt, insbesondere wenn der Wald für die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts, die forstwirtschaftliche Erzeugung oder die Erholung der Bevölkerung von wesentlicher Bedeutung ist.

(2) Eine Umwandlung von Wald kann auch für einen bestimmten Zeitraum genehmigt werden; durch Auflagen ist dabei sicherzustellen, daß das Grundstück innerhalb einer angemessenen Frist ordnungsgemäß wieder aufgeforstet wird.

(3) Die Länder können bestimmen, daß die Umwandlung

1. keiner Genehmigung nach Absatz 1 bedarf, wenn für die Waldfläche auf Grund anderer öffentlich-rechtlicher Vorschriften rechtsverbindlich eine andere Nutzungsart festgestellt worden ist;

2. weiteren Einschränkungen unterworfen oder, insbesondere bei Schutz- und Erholungswald, untersagt wird.



Skizze


Gutachten

A. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn W in ihrer Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG durch § 10 I S. 2 ThürWaldG verletzt ist.

I. Schutzbereich der Eigentumsfreiheit

Zunächst müsste der Schutzbereich von Art. 14 GG eröffnet sein. Art. 14 GG schützt alle vermögenswerten Rechte, die den Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass sie die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zum privaten Nutzen ausüben dürfen.[1]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 17; so ähnlich auch: Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 1030. Im Gefüge der Grundrechte kommt Art. 14 GG insbesondere die Aufgabe zu, einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu schützen. Das verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentum ist durch Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis der Eigentümerin oder des Eigentümers über den Eigentumsgegenstand gekennzeichnet. Es soll als Grundlage privater Initiative und in eigenverantwortlichem privatem Interesse von Nutzen sein. Zugleich soll der Gebrauch des Eigentums dem Wohl der Allgemeinheit dienen (Art. 14 II GG). Hierin liegt die Absage an eine Eigentumsordnung, in der das Individualinteresse von Eigentümerinnen und Eigentümern den unbedingten Vorrang vor dem Interessen der Allgemeinheit hat. Die freie Gestaltung der Nutzung eines Grundstücks unterfällt damit dem Schutzbereich der Eigentumsfreiheit.

II. Eingriff in den Schutzbereich

In den Schutzbereich müsste durch die pauschale Untersagung einer Umwandlung in Windenergienutzungsflächen eingegriffen worden sein. Ein Eingriff ist nach dem modernen Eingriffsbegriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten oder den Genuss eines Rechtsgutes, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig ob die Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich mit oder ohne Befehl und Zwang eintritt.[2]So: BVerfGE 98, 106, 117.

Vernetztes Lernen: Was ist der Unterschied zwischen dem klassischen und dem modernen Eingriffsbegriff?
Der klassische Eingriffsbegriff hat vier Voraussetzungen.

– Der Eingriff muss final sein und darf nicht bloß unbeabsichtigte Folge eines auf andere Ziele gerichteten staatlichen Handels sein.

– Der Eingriff muss unmittelbar und nicht bloß zwar beabsichtigt, aber mittelbare Folge des staatlichen Handelns sein.

– Der Eingriff muss durch einen Rechtsakt mit rechtlicher und nicht bloß tatsächlicher Wirkung erfolgen.

– Der Rechtsakt wird mit Befehl und Zwang angeordnet bzw. durchgesetzt.

Dem liegt eine Betrachtungsweise zu Grunde, die vom Staat her denkt: „Wollte der Staat die Grundrechte eines Bürgers beeinträchtigen?“ 

Dem modernen, freiheitlichen Staatsverständnis, wie es auch dem Grundgesetz zu Grunde liegt, geht es jedoch gerade darum staatliches Handeln auch dann zu kontrollieren und beschränken, wenn die Grundrechtsbeeinträchtigung unbeabsichtigte Folge des staatlichen Handelns war.

Der klassische Eingriffsbegriff versagt also immer dann, wenn staatliche Maßnahmen negative Folgen haben, dies aber nicht intendiert war. In diesem Zusammenhang ist insbesondere an die sog. „Warn“-Fälle des BVerfG zu denken, also Glykol-Warnung[3]BVerwG 26.06.2002 – 1 BvR 558/91, 1 BvR 1428/91BVerfGE 105,252 ff.; Warnung vor der sog. Osho-Bewegung (Sektenwarnung)[4]BVerfG, Beschl. v. 26.06.2002, 1 BvR 670/91. u.a.

In vielen Fällen kann auch durch die Subsumtion unter den klassischen Eingriffsbegriff ein Eingriff bejaht werden (oder unter die Kurzformel: Verkürzung des Schutzbereichs). Es ist jedoch auch möglich in jedem Fall den modernen Eingriffsbegriff anzulegen und hierdurch auch die problematischen Fälle zu erfassen.

Staatliches Handeln ist also immer dann relevant, wenn es grundrechtsrelevant ist.

Bei der Betrachtung eines Eingriffs in die Eigentumsfreiheit ist zwischen dem enteignenden Eingriff (Art. 14 III GG) und einer Inhalts- und Schrankenbestimmung zu unterscheiden.

Eine Enteignung ist auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver geschützter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet.[5]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 20. Bei einer Nutzungs- oder Verfügungsbeschränkung wird jedoch gerade nicht die Eigentumsposition des nunmehr beschränkt Berechtigten aufgehoben. Nutzungs- oder Verfügungsbeschränkungen stellen deshalb grundsätzlich keine Enteignung dar.[6]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 20. Auch ist es notwendig, dass bei einer Enteignung sich die öffentliche Hand zugleich die enteigneten Güter beschafft. Auch dies ist hier nicht der Fall. Es handelt sich bei der Maßnahme mithin nicht um eine Enteignung.

Inhaltsbestimmungen prägen das Eigentum normativ. Sie bestimmen über die Möglichkeiten zur Nutzung des Eigentums. Eine Nutzungsbeschränkung greift auch dann in die Eigentumsfreiheit ein, wenn von mehreren möglichen Nutzungen nur eine bestimmte Form verboten wird. Es ist gerade nicht notwendig, dass alle Nutzungen ausgeschlossen werden.[7]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 20. Durch das absolute Verbot Windenergieanlagen auf Waldflächen einzurichten, ist eine Form der Nutzung ausgeschlossen und damit ein Eingriff in Form einer Inhalts- und Schrankenbestimmung gegeben.

Anmerkung: Aufbau

Die Abgrenzung zwischen Enteignung und Inhalts- und Schrankenbestimmungen muss nicht bereits im Eingriff erfolgen. Dies kann auch bei der Bestimmung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Rechtfertigung erfolgen.

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Der Eingriff könnte jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Inhalts- und Schrankenbestimmungen können gem. Art. 14 I S. 2 GG durch Gesetz bestimmt werden. Der Eingriff müsste also den Anforderungen eines einfachen Gesetzesvorbehalt entsprechen.

1. Schranke

Dafür müsste § 10 I S. 2 ThürWaldG, also die Norm, die ein pauschales Verbot für die Umnutzung zu Gunsten von Windenergieanlagen aufstellt, zunächst ein formell verfassungsmäßiges Gesetz darstellen.

a) Gesetzgebungskompetenz

Dafür müsste dem Land Thüringen die Gesetzgebungskompetenz zustehen, um ein pauschales Verbot des Aufstellens von Windenergieanlagen in Waldgebieten auszusprechen.

Art. 70 I GG bestimmt, dass die Länder das Recht zur Gesetzgebung haben, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse zuweist. Die Zuweisung von Gesetzgebungsbefugnissen erfolgt insbesondere in Art. 73 und Art. 105 I GG (ausschließliche Gesetzgebungskompetenz) und in Art. 74 und Art. 105 II GG (konkurrierende Gesetzgebungskompetenz). Dem Bund werden darüber hinaus weitere Kompetenzen zugewiesen (bspw. Art. 94 II GG). Die Zuständigkeiten werden vom Grundgesetz stets alternativ dem Bund oder den Ländern zugewiesen.[8]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 22. Dies gilt auch, obwohl Zuständigkeiten – wie in Art. 72 III GG – nacheinander bestehen können. Eine gleichzeitige Zuständigkeit ergibt sich in keinem Fall.

Betrifft eine Regelung mehrere Regelungsgebiete, so ist es notwendig die Materie einem Regelungsgebiet zuzuordnen.[9]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 22. Dafür sind die in Frage kommenden Kompetenztitel auszulegen und zuzuordnen.

Es gibt keinen eigenen Kompetenztitel „Waldrecht“.

aa) Land- und forstwirtschaftliche Erzeugung

Vorab kann hier festgestellt werden, dass die land- und forstwirtschaftliche Erzeugung (Art. 74 I Nr. 17 GG) die Produktion von Rohstoffen durch die Bewirtschaftung von Feldern und Wäldern betrifft. Der Kompetenztitel betrifft damit in Bezug auf die Wälder die Gewinnung von Holz,[10]vgl. Broemel, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 74 Rn. 59 f. m.w.N. erlaubt aber nicht die grundsätzliche Regelung von Nutzungsmöglichkeiten von Waldgebieten. Er scheidet also als Kompetenztitel aus.

bb) Bodenrecht

In Betracht kommt insbesondere das Bodenrecht nach Art. 74 I Nr. 18 GG. Das Bodenrecht betrifft die flächenbezogene Ordnung der Nutzung von Grund und Boden durch öffentlich-rechtliche Normen, die Grund und Boden zum Gegenstand haben, indem sie den Flächen Nutzungsfunktionen zuweisen und diese voneinander abgrenzen.[11]Kment, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 74 Rn. 45; Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022, Einleitung Rn. 10a. Bodenrechtliche Bestimmungen regeln insbesondere die Koordinierung und ausgleichende Zuordnung konkurrierender Bodennutzungen und Bodenfunktionen (vgl. BVerfGE 145, 20 <65 Rn. 115>; s. auch BVerwGE 129, 318 <327 f. Rn. 27>). Sie vermeiden und lösen spezifische Bodennutzungskonflikte und gleichen bodenrechtliche Spannungslagen aus.[12]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 35 m.w.N.

§ 10 I S. 2 des ThürWaldG verbietet jegliche Änderung des Waldbodennutzungsrechts in Thüringen für den Bau von Windenergieanlagen. Damit umfasst ist auch eine Regelung, die die Nutzung und Nutzbarkeit des Bodens beschränkt. Damit ist es grundsätzlich möglich diesen Regelungsinhalt dem Bodenrecht zuzuordnen.

cc) Naturschutz und Landschaftspflege

Allerdings könnte auch die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 I Nr. 29 GG (Naturschutz und Landschaftspflege) relevant sein. Diese beinhaltet sowohl den Schutz durch Abwehr von Natur- und Landschaftsschäden als auch deren Pflege durch den Staat. Hierzu gehören Regelungen, die bestimmte Gebiete oder Arten schützen, wie die Sicherung natürlicher Landschaften. Daher können auf Basis von Art. 74 I Nr. 29 GG auch spezielle Nutzungs- und Zugangsbeschränkungen festgelegt werden.[13]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 45. Natur- und Landschaftsschutz betrifft nicht nur die ökologische, sondern auch die ästhetische Funktion.

Das Verbot von Windenergieanlagen in Thüringer Wäldern durch § 10 I S. 2 ThürWaldG schützt das natürliche Erscheinungsbild dieser Wälder und betrifft daher auch die Belange von Naturschutz und Landschaftspflege.

dd) (P) Abgrenzung mehrerer einschlägiger Kompetenztitel

Die Kompetenztitel des Art. 74 I Nr. 18 und Nr. 29 des GG haben unterschiedliche Voraussetzungen und Auswirkungen. Insbesondere können die Länder gemäß Art. 72 III Nr. 2 GG im Bereich Naturschutz und Landschaftspflege von Bundesrecht abweichende Regelungen treffen. Daher muss bestimmt werden, welcher Gesetzgebungskompetenz § 10 I S. 2 ThürWaldG eindeutig zugeordnet wird.

Anmerkung: Umgang in der Klausur

In der Klausur ist es häufiger der Fall, dass zwei (oder auch mehr als zwei) Kompetenztitel einschlägig sind, die – meistens – dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zusprechen. Wenn die Kompetenztitel beide in ihren Anforderungen (insbesondere Art. 72 II GG) nicht abweichen, so ist eine Abgrenzung nicht notwendig.

               

Insbesondere ist hier zwischen der Zielrichtung und dem Schutzgut der Regelungen zu unterscheiden. Kompetenztitel im Bereich von Naturschutz und Landschaftspflege haben das Ziel den notwendigen Schutz und die Entwicklung von natürlichen Eigenarten bestimmter Naturvorkommnisse oder der besonderen Lage konkreter Teile der Natur und Landschaft zu gewährleisten, wenn dies – sei es auch wegen der ästhetischen Funktion – nötig ist.[14]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 47. Demgegenüber verfolgen bodenrechtliche Regelungen das Ziel Nutzungsarten und Nutzungsfunktionen auf bestimmten Flächen zu regeln, um Nutzungskonflikte zu vermeiden.

Bei der Beurteilung kommt es auf den objektiven Gegenstand des Gesetzes an, nicht auf die Vorstellungen des Gesetzgebers oder auf verdeckte oder offen vorgetragene Motive.[15]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 48. Entscheidend für die Zuordnung kommt es auf den unmittelbaren Regelungsgegenstand, den Normzweck und die Wirkung der Norm an.

(a) Regelungsgegenstand

Der direkte Regelungsgegenstand von § 10 I S. 2 ThürWaldG könnte für eine Zuordnung zum Bodenrecht sprechen: Als flächenbezogene Regelung beschränkt es die Nutzung von Grund und Boden. Die Regelung betrifft auch nicht speziell gefährdete oder entwicklungsbedürftige Waldflächen, sondern schützt alle Waldgebiete vor Bebauung durch Windenergieanlagen – unabhängig von ihrer Bedeutung für den Schutz der Natur oder ihrer sonstigen Eigenschaften. Weder eine besonders hohe noch eine besonders niedrige Schutzwürdigkeit oder Entwicklungsbedürftigkeit im Sinne des Natur- und Landschaftsschutzes verändert die Entscheidung, die § 10 I S. 2 ThürWaldG vornimmt.

(b) Normzweck

Der Normzweck ist anhand des Wortlauts der Norm, der systematischen Stellung der Norm und nach dem Sachzusammenhang zu ermitteln.

(aa) Wortlaut

Dem Wortlaut ist keine eindeutige Zuordnung, weder zum Bodenrecht noch zur Natur- und Landschaftspflege, zu entnehmen.

(bb) Systematische Stellung

Für eine Zuordnung zum Naturschutz oder der Landschaftspflege von § 10 I S. 2 ThürWaldG könnte sprechen, dass die Norm im „Gesetz zur Erhaltung, zum Schutz und zur Bewirtschaftung des Waldes und zur Förderung der Forstwirtschaft“ verortet ist. Innerhalb des Gesetzes ist die Norm im zweiten Teil aufgeführt, welche die Überschrift hat „Forstliche Rahmenplanung, Erhaltung und Schutz des Waldes“[16]Dazu: Thüringer Landtag, Wissenschaftlicher Dienst, Gutachterliche Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen der FDP und der CDU für ein Drittes Gesetz zur Änderung des Thüringer … Continue reading

Jedoch müsste sich die Vorschrift dafür in die Regelungsmaterie einfügen und in einem systematischen Zusammenhang stehen. An sich stellt § 10 ThürWaldG ein Verbot mit Genehmigungsvorbehalt für die Nutzungsänderung auf.

Die Regelung in § 10 I S. 2 ThürWaldG stellt jedoch gerade eine Ausnahme der in § 10 ThürWaldG an sich vorgesehenen Abwägung der widerstreitenden Interessen dar. Sie ist nicht verbunden mit der in dem Paragraphen geregelten Abwägung einer entsprechenden Entscheidung. Sie würde die Nutzung von Waldflächen zur Errichtung von Windenergieanlagen auch dann ausschließen, wenn es Satz 1 nicht gäbe. Durch die Regelung wurde also in der Sache ein spezifisches Nutzungsverbot für Windenergie im Wald geschaffen, dessen kompetenzielle Zuordnung daher eigenständig erfolgt.[17]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 56.

Neben der fehlenden Verzahnung mit dem Regelungsumfeld, lassen auch generell die Überschriften von Normabschnitten- und komplexen, gerade im multifunktionalen Waldrecht, kaum Rückschlüsse auf die für einzelne Vorschriften anwendbaren Kompetenztitel zu.[18]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 57.

(cc) inhaltlicher Sachzusammenhang

Die Norm schließt die Nutzungsänderung zu Gunsten des Betreibens von Windenergieanlagen vollständig aus. Es fehlen Regelungen, die dies unter dem Gesichtspunkt des Naturschutzes und der Landschaftspflege besonders hervorheben oder eben erlauben. Der inhaltliche Sachzusammenhang liegt damit  näher am Bodenrecht als am Naturschutz- und Landschaftspflegerecht. Dafür spricht auch, dass ausschließlich die Umnutzung zur Gewinnung von Windenergie umfasst ist, aber keine andere Form der Umnutzung,sei sie auch noch so beeinträchtigend für den Naturschutz und die Landschaftspflege.

(dd) Zwischenergebnis Normzweck

Der Normzweck entspricht den Zielrichtungen des Bodenrechts und nicht denen des Naturschutzes und der Landschaftspflege.

(c) Regelungswirkung

Die Wirkung der Regelung führt dazu, dass bestimmte bodenrechtliche Nutzungen ausgeschlossen sind, wenn es sich um ausgewiesene Waldflächen handelt. Die Wirkung zielt also darauf ab bestimmte Nutzungen zu verbieten oder zuzulassen. Damit unterfällt auch die Regelungswirkung der dem Bodenrecht zugewiesenen Regelungsmaterie.

(d) Zwischenergebnis Zuordnung zum Bodenrecht

§ 10 I S. 2 ThürWaldG ist eine Regelung des Bodenrechts. Art. 74 I Nr. 18 GG ist der einschlägige Kompetenztitel.

b) Taugliche Gesetzgebungskompetenz

Die Gesetzgebungskompetenztitel des Art. 74 berechtigen gem. Art. 72 I GG die Länder nur dann zur Gesetzgebung, solange (zeitlich) und soweit (inhaltlich) der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht hat.

Der Bund hat abschließend von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht, wenn eine Regelungsmaterie erschöpfend geregelt wurde, also wenn ein Sachbereich tatsächlich umfassend und lückenlos geregelt ist oder nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers abschließend geregelt werden sollte.[19]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 27.

Die Gesetzgebungskompetenz des Bodenrechts wurde vom Bundesgesetzgeber maßgeblich durch das Baugesetzbuch ausgefüllt. Der Bundesgesetzgeber hat seine Kompetenz hier nach wohl einhelliger Meinung auch umfassend genutzt.[20]vgl. Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022, Einleitung Rn. 10a; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 74 Rn. 129; Söfker, in: … Continue reading

Insbesondere hat der Bundesgesetzgeber durch § 35 I Nr. 5 i.V.m. § 249 III BauGB und in § 35 I Nr. 5 i.V.m. § 35 III S. 3 BauGB eine Regelung geschaffen, die für die Flächenzuweisung zur Errichtung von Windenergieanlagen im Außenbereich vorsieht, dass eine besondere Privilegierung gilt.

Die Ausnahmeregelung in § 249 III BauGB, die eine Ausnahmeregelung von § 35 I Nr. 5 BauGB durch die Länder erlaubt, ist abschließend und erlaubt den Ländern gerade nur innerhalb der genannten Voraussetzungen im Außenbereich bestimmte Anforderungen an Windenergieanlagen zu stellen. Die Regelung in § 10 I S. 2 ThürWaldG unterfällt auch offensichtlich nicht dieser Ausnahmeregelung.

Auch die in § 9 III Nr. 2 BWaldG vorgesehene Möglichkeit der Länder für Schutz- und Erholungswald besondere Einschränkungen bei der Umwandlung von Waldgebieten vorzusehen kann nicht so gelesen werden, dass die vom Bundesgesetzgeber vorgesehene Privilegierung der Windkraft in ihr Gegenteil verkehrt werden darf und ausschließlich die Umwandlung von Flächen in Windenergiegewinnungsflächen ausgeschlossen werden kann. Die allgemeine Regelung in § 9 III Nr. 2 BWaldG muss vielmehr so verstanden werden, dass allgemeine Regelungen – wie sie in § 10 ThürWaldG (mit Ausnahme von § 10 I S. 2) getroffen werden – zulässig sind. Das spezifische Verbot der Umwandlung von Waldflächen in Windenergieflächen bedürfte jedoch einer ausdrücklichen Öffnung.[21]BVerfG, Beschl. v. 27.09.2022 – 1 BvR 2661/21 Rn. 76.

c) Ergebnis Gesetzgebungskompetenz

Das Land Thüringen hatte keine Gesetzgebungskompetenz für die Regelung von § 10 I S. 2 ThürWaldG.

2. Ergebnis verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung scheitert, weil bereits das Gesetz formell verfassungswidrig ist.

IV. Ergebnis Grundrechtsverletzung

W ist in ihrem Grundrecht auf Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG verletzt.

B. Ergebnis Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet und hat Erfolg.


Zusatzfragen

Wieso konnte W auch ohne vorher die Fachgerichte anzurufen die Verfassungsbeschwerde einreichen?
Diese Frage stellt sich unter dem Gesichtspunkt der Rechtswegerschöpfung – und hier genauer – unter dem Prüfungspunkt der Subsidiarität im Rahmen der Zulässigkeit. Zunächst stellt sich die Frage, welche Rechtsmittel W gegen das Gesetz zustehen. Gegen Bundes- und Landesgesetze gibt es jedoch – im Gegensatz zu (kommunalen) Satzungen (siehe § 47 VwGO) – keine Rechtsmittel. Den Rechtsweg hatte W also – mangels möglicher Rechtsmittel – erschöpft. Im Hinblick auf die Subsidiarität, also die Frage, ob vor einem Anrufen des BVerfG ein anderes Rechtsmittel in Betracht kommt mit dem das gleiche Ziel (Feststellung der Nichtigkeit des Gesetzes oder der Möglichkeit Windenergieanlagen in Waldgebieten zuzulassen) verfolgt werden kann, ist es notwendig mögliche Rechtsmittel zu betrachten. Im Regelfall kann man hier untersuchen, ob entweder ein Verstoß gegen die Norm zumutbar ist (immer dann nicht, wenn die Norm strafbewehrt ist, insbesondere OWiG und Strafrecht) oder ein Verwaltungsverfahren angestrengt werden kann, mit dem die Rechtsverletzung in einem Verwaltungsakt konkretisiert angegriffen werden kann. Hier wäre jedoch die Beantragung einer Windenergieanlage im Waldgebiet der W wegen der eindeutigen gesetzlichen Regelung, gegen die die Verwaltung auch nicht eigenständig handeln konnte (Vorrang des Gesetzes), völlig aussichtslos. Auch ein weitergehendes gerichtliches Verfahren gegen die Verwaltungsentscheidung könnte aufgrund des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts nur durch eine Richtervorlage nach Art. 100 I GG eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erreichen. Es würde also – ebenso wie bei einer direkten Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz – zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommen. In einem Fall, in dem das Erreichen des Rechtsschutzes aussichtslos ist, ist es nicht notwendig subsidiäre Rechtsmittel zu versuchen. Die Anforderungen an die Subsidiarität sind damit erfüllt. W konnte auch ohne vorhergehendes fachgerichtliches Vorgehen Verfassungsbeschwerde erheben.
Welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe wären bei einer materiellen Beurteilung der Regelung des § 10 I S. 2 ThürWaldG zu beachten gewesen?
Das Bundesverfassungsgericht hat keine Äußerung dazu abgegeben, wie es die Regelung materiell beurteilt. Jedoch hätte materiell in einer Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Abwägung zwischen den folgenden Aspekten stattfinden müssen:

– Der Schutz des Waldes als Naturschutz und damit als Ausfluss aus Art. 20a GG aufgrund der negativen Auswirkungen, die das Aufstellen von Windkraftanlagen auf die Natur haben kann.

– Schutz der berechtigten Interessen der Waldinhaber:innen als Ausfluss von Art. 14 GG, Art. 12 GG.

– Schutz des Klimas durch den Umbau der Energiegewinnung auf nachhaltige und treibhausgasneutrale Weise – bzw. die Verhinderung davon durch ein absolutes Verbot, insbesondere unter der Berücksichtigung der Maßgaben des Klima-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts aus 2021 (den wir hier besprochen haben: https://staging.examensgerecht.de/der-klima-beschluss-des-bverfg/)


Zusammenfassung

1. Es gibt zwischen Bund und Ländern eine klare Kompetenzverteilung. Es gibt – auch in den Fällen des Art. 72 III GG – keine gleichzeitige Zuständigkeit für Bund und Länder.

2. Die Regelungsmaterie muss in den Fällen, in denen mehrere Kompetenztitel in Frage kommen, die eine abweichende Zuweisung vorsehen, eindeutig einem Kompetenztitel der Art. 72 ff. GG zugewiesen werden. Dies geschieht, indem die Regelungsmaterie anhand des unmittelbaren Regelungsgenstands, dem Normzweck und der Wirkung ausgelegt wird.

3. Der Bund hat durch §§ 35 I Nr. 5 i.V.m. § 35 III S. 3 und 249 III BauGB abschließend von seiner bodenrechtlichen Regelungskompetenz in Bezug auf die Beurteilung von Windenergieanlagen im Außenbereich Gebrauch gemacht. Eine landesspezifische Regelung, die darüber hinaus pauschal das Aufstellen von Windrädern in (umgewidmeten) Waldgebieten verbietet, ist ohne Kompetenz erlassen und deshalb verfassungswidrig.

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