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Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach Freispruch
BVerfG Urt. v. 31.10.2023, 2 BvR 900/22

Sachverhalt

(abgewandelt und gekürzt)

Nach jahrelangem Ringen, entscheidet sich der Gesetzgeber ein Gesetz zur Änderung der StPO zu verabschieden. Mit dem „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, welches am 01.12.2019 in Kraft tritt, wird § 365 Nr. 5 StPO eingeführt. Dieser lautet wie folgt:

§ 365 StPO

Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,
1. (…)

5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.

Die Koalitionäre der Regierungsfraktionen sind sich darin einig, dass mit dem Gesetz ein wichtiger Schritt geschaffen würde. In Zukunft solle die untragbare Situation nicht mehr eintreten, dass die Ermittlungsbehörden nach einem rechtskräftigen Freispruch doch noch eindeutige Beweise für die Schuld eines Straftäters finden, aber dieser wegen des Strafklageverbrauchs nicht mehr verurteilt werden kann. Bei schwersten Verbrechen sei ein „ein zu Unrecht erfolgter Freispruch schlechthin unerträglich“. Die Regelung diene damit der allgemeinen Gerechtigkeit des Strafverfahrens und schaffe Vertrauen in die Rechtmäßigkeit von Strafverfahren.

Die Oppositionsfraktionen sind entsetzt. Das im Grundgesetz verankerte Verbot der Doppelbestrafung sei notwendig, um Rechtsfrieden zu schaffen, und um den Rechtsstaat absolut daran zu halten, nur dann ein Verfahren zu führen, wenn die Strafverfolgungsbehörden alle zum jeweiligen Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Beweise ausgeschöpft haben und überzeugt sind, dass eine Verurteilung erreicht werden kann. Sonst könnten Strafverfahren auf Verdacht geführt werden und Personen ihr Leben lang mit belastenden Strafverfahren überzogen werden.

Die Regierungsfraktionen halten dem entgegen, dass aufgrund der Beschränkung auf besonders schwere Straftaten des StGB und des VStGB (Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) diese Gefahren der Aushöhlung des Rechtsstaats nicht drohten.

Besonders von dem Gesetz betroffen ist der A. A war 1983 Angeklagter in einem ordnungsgemäß durchgeführten Strafverfahren und wurde rechtskräftig freigesprochen. Ihm wurde vorgeworfen eine junge Frau in seinem Wohnort getötet zu haben. Dabei verlief das Verfahren entsprechend der strafprozessualen Regeln zum Zeitpunkt des Verfahrens.

Nach Verabschiedung des Gesetzes wurde er aufgrund neuer Beweise 2023 erneut angeklagt und wegen Mordes verurteilt. Nach Abschluss des Instanzenzugs erhebt er Verfassungsbeschwerde gegen das ihn zu einer Freiheitsstrafe verurteilende Urteil. A meint, an seinem Beispiel sehe man, dass mit der Einführung des Gesetzes der Rechtsfrieden 40 Jahre nach einem Freispruch immer noch nicht hergestellt sei und dass es doch nicht sein könne, dass er aufgrund eines Gesetzes verurteilt werde, welches zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Tat noch nicht verabschiedet war.

Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde des A Aussicht auf Erfolg?


 

Skizze


Gutachten

Die zulässige[1]siehe zur Zulässigkeit: BVerfG Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 Rn. 31 ff. Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie begründet ist.

A. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der A durch das letztinstanzliche Urteil in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

I. Verletzung in grundrechtsgleichen Rechten

A könnte in seinem Recht aus Art. 103 III GG verletzt sein. Dafür müsste Art. 103 III GG ein grundrechtsgleiches Recht sein. Grundrechtsgleiche Rechte sind Rechte, die nicht im mit „Die Grundrechte“ überschriebenen I. Abschnitt des Grundgesetzes aufgeführt sind, aber aufgrund ihres Schutzgehaltes für den Einzelnen im Rang auf gleicher Ebene stehen wie die Grundrechte. Die grundrechtsgleichen Rechte sind aufgeführt in Art. 93 I Nr. 4a GG, so auch Art. 103 GG.

Vernetztes Lernen: Welche weiteren Rechte des GG werden als grundrechtsgleiche Rechte aufgefasst?
Art. 93 I Nr. 4a GG enthält eine Auflistung der grundrechtsgleichen Rechte. Diese sind: das Widerstandsrecht aus Art. 20 IV GG. Die staatsbürgerlichen Rechte und Gleichheitsrechte aus Art. 33 GG, die insbesondere garantieren, dass jede:r den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern und Behörden hat. Das Wahlrecht aus Art. 38 GG, welches sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht schützt. Die Verfahrensrechte, wie das Recht auf einen gesetzlichen Richter aus Art. 101 I S. 2 GG, sowie das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG). Außerdem das Recht, dass eine Freiheitseinschränkung nur aufgrund eines Parlamentsgesetzes erfolgen darf (Art. 104 I i.V.m. Art. 2 II S. 2 GG) sowie das absolute Folterverbot, enthalten in Art. 104 I S. 2 GG.
1. Schutzbereich

Bei Art. 103 III GG handelt es sich um ein Jedermann-Grundrecht, der persönliche Schutzbereich ist eröffnet. Darüber hinaus müsste der sachliche Schutzbereich eröffnet sein. Art. 103 III GG verbietet ausweislich seines Wortlauts die Doppelbestrafung. Fraglich ist, ob Art. 103 III GG so auszulegen ist, dass ebenfalls die mehrmalige Anklage ausgeschlossen ist. Nur dann würde die Norm ebenfalls auf frühere strafrechtliche Verfahren, an deren Ende ein Freispruch steht, Anwendung finden.

Dies könnte nicht der Fall sein, weil der Wortlaut des Art. 103 III GG lediglich lautet, dass eine Person wegen derselben Tat nicht „mehrmals bestraft werden“ darf. Eine mehrmalige Bestrafung steht jedoch im vorliegenden Fall nicht zur Debatte. Es geht gerade um den Fall, dass eine Person in der Vergangenheit angeklagt, aber freigesprochen wurde und sich nun im Nachhinein die Beweislage verändert hat und eine zweite Anklage erfolgen soll.

Für eine Auslegung, die bereits die mehrmalige Anklage wegen derselben Tat ausschließt, könnte jedoch eine systematische Auslegung sprechen. Ein ausschließliches mehrmaliges Bestrafungsverbot würde Personen nicht davor bewahren, mehrmals einem Strafverfahren wegen der gleichen Sache ausgesetzt zu sein. Selbst wenn eine Person verurteilt worden wäre, könnte danach ein erneutes Verfahren zum selben Sachverhalt begonnen werden, wenn am Ende des Verfahrens auch kein erneutes Urteil stehen dürfte. Es wäre bereits sinnwidrig, wenn eine mehrmalige Anklage erfolgen könnte, wenn am Ende des Verfahrens lediglich ein „Urteilshindernis“ bestehen würde. Die systematische Auslegung spricht deshalb dafür, dass Art. 103 III GG bereits ein Prozesshindernis begründet und bereits die mehrmalige Verfolgung einer Tat ausschließt.[2]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 70 ff.

Für eine Auslegung, die bereits eine mehrmalige Anklage ausschließt, könnte auch der Zweck des Art. 103 III GG sprechen. Der Zweck des Art. 103 III GG als Individualrecht besteht zunächst darin, den staatlichen Strafanspruch, um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen.[3]vgl. BVerfG NJW 1981, 1433; vgl. auch bereits BVerfG NJW 1954, 69. Die im Grundgesetz vorgegebenen Inhalte des Strafprozessrechts entfalten in dem Sinne eine Ausgleichswirkung zwischen dem Strafanspruch des Staates und dem Schutz des Einzelnen vor Strafverfolgung. Das grundrechtsgleiche Recht dient damit – ebenso wie Art. 103 II GG – zugleich der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen. Es verhindert, dass der Einzelne – gegebenenfalls im Rahmen eines Prozesses „ad infinitum“[4]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 88 ff. Mit Verweis auf: Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188 (190); Arnemann NJW-Spezial 2021, 440 – zum bloßen Objekt der Ermittlung der materiellen Wahrheit herabgestuft wird.

Die Belastungen, die mit einem Strafverfahren für die Beschuldigten verbunden sind, sind enorm. Deshalb liegt in der Anstrengung eines Strafverfahrens bereits ein eigener rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff. Diese Rechtfertigung fällt jedoch ungemein schwerer, wenn bereits in der Vergangenheit ein Strafverfahren durchgeführt und abgeschlossen wurde – unabhängig davon zu welcher Entscheidung das Gericht gekommen ist. Auch wenn „nur“ eine zweite Bestrafung nicht möglich wäre.[5]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 71 ff. Ein Freispruch, am Ende eines Strafverfahrens, unterscheidet sich in der Hinsicht nicht von einer Verurteilung. Es wurde jeweils, unter Berücksichtigung der strafprozessualen Regelungen, ein Verfahren durchgeführt, dessen Ziel die Wahrheitsermittlung mit den verfassungsrechtlich in Einklang zu bringenden Mitteln ist.

Die von einem Strafurteil ausgehende Rechtskraft dient außerdem dem gesellschaftlichen Bedürfnis auf Rechtsfrieden.[6]Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 346 ff.; Siehe aber zur Kritik an dem Wertungswiderspruch zwischen der Unverjährbarkeit, aber nicht Wiederholbarkeit eines … Continue reading Daher hat sich die moderne rechtsstaatliche Ordnung gegen die Erreichung des Ideals absoluter Wahrheit und für die in einem rechtsförmigen Verfahren festzustellende, stets nur relative Wahrheit entschieden. Auch das Strafrecht gebietet keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“ [7]vgl. BGH NJW 1960, 1580; BGH NJW 1983, 1570. Insoweit sichert die Rechtskraft den dauerhaften Geltungsanspruch gerichtlicher Entscheidungen. Rechtsmittel tragen dem Umstand Rechnung, dass jede Entscheidung fehlerhaft und daher korrekturbedürftig sein kann; sie erhöhen damit die Richtigkeitsgewähr. Die Möglichkeit, ein Verfahren durch Rechtsmittel unaufhörlich weiterzuführen, bzw. die Möglichkeit der Wiederaufnahme, es von Neuem zu beginnen, würde jedoch fortwährende Zweifel an der Richtigkeit des Urteilsspruchs zulassen und damit das Vertrauen in die Effektivität der Streitentscheidung durch die Rechtsprechung beeinträchtigen.[8]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 89.

Dafür spricht außerdem, dass mit dem Grundgesetz auch Abgrenzungen gegenüber den besonders schwerwiegenden Verletzungen rechtsstaatlicher Grundsätze der nationalsozialistischen Herrschaft zwischen 1933-45 entgegengetreten werden sollte. Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurden verschiedene Verfahrensgrundsätze wesentlich ausgehöhlt, darunter auch der ne bis in idem-Grundsatz, weshalb eine mehrfache Anklage gegenüber politisch unliebsamen Personen möglich war.[9]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 64.

Anmerkung: Historische und rechtspraktische Ausführungen des BVerfG
Im Regelfall gilt, dass ein historisches Argument in der Examensklausur nicht erwartet wird. Eine Ausführung zu Gegensätzen oder Widersprüchen zur Zeit des Nationalsozialismus kann aber durchaus gebracht werden, wenn in dem Moment ausreichend Wissen über die Zustände zwischen 1933-45 zur Verfügung steht.
Das Bundesverfassungsgericht geht in den Rn. 61 – 68 des Urteils auf den historischen Hintergrund der Entwicklung des Wortlauts ein. Das kann von Ihnen jedenfalls nicht erwartet werden.
Es arbeitet heraus, dass mit dem in Art. 103 III GG verwendeten Wortlaut die vom Reichsgericht (RG) aufgestellte Rechtsprechung zum ne bis in idem-Grundsatz umgesetzt werden sollte. Außerdem werde in der Rechtspraxis heute Art. 103 III GG allgemein so verstanden, dass darin ein absolutes Zweit-Verfolgungsverbot liege. Deshalb sprechen sowohl die historische Auslegung als auch das heutige Normverständnis bereits für eine Auslegung des Art. 103 III GG als allgemeine Ausprägung des ne bis in idem-Grundsatzes.

Aus diesem Verständnis ergibt sich damit die Absolutheit des sog. Strafklageverbrauchs. Ist ein Lebenssachverhalt einmal mit einer bestimmten Anklage verhandelt worden, so kann der gleiche Lebenssachverhalt nicht erneut mit dieser Anklage verfolgt werden. Der Strafklageverbrauch wirkt als Prozesshindernis von Beginn des Verfahrens an. Art. 103 III GG beschränkt damit die Durchsetzung des Legalitätsprinzips.[10]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 88. Art. 103 GG enthält damit neben den Mehrfachbestrafungsverbot auch ein Mehrfachverfolgungsverbot.

Vernetztes Lernen: Gilt der Strafklageverbrauch auch für das sog. Strafbefehlsverfahren, Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft oder eine gerichtliche Einstellungsentscheidung mangels hinreichendem Tatverdacht?
Nein, in allen drei Fällen werden Entscheidungen staatlicher Behörden getroffen, die gerade keine Aussage über den tatsächlichen bzw. den Unrechts- und Schuldgehalt eines Lebenssachverhalts ermöglichen.
Das Bundesverfassungsgericht führt dazu in den Rn. 108 ff. aus:
Das Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff. StPO) dient der Vereinfachung und Beschleunigung des Strafverfahrens. Im Gegensatz zum Urteilsverfahren fehlt dem Gericht die Möglichkeit, den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat frei und umfassend zu ermitteln und so das öffentliche Interesse an einer gerechten Entscheidung uneingeschränkt zu wahren [11]vgl. BVerfGE 3, 248 (253) = NJW 1954, 69; BVerfGE 65, 377 (383) = NJW 1984, 604. Dies gilt jedoch nur für Gesichtspunkte, die nicht bereits im Rahmen des Strafbefehls mitberücksichtigt wurden.
Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft vermitteln dem Betroffenen nach allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der getroffenen Entscheidung, bewirken aber keinen umfassenden Strafklageverbrauch iSd Art. 103 III GG [12]vgl. BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats) 19.5.2022 – 2 BvR 1110/21, BeckRS 2022, 17795 Rn. 50; BGHSt 54, 1 Rn. 14 ff. = NJW 2009, 2548. Art. 103 III GG bezieht sich nur auf Entscheidungen staatlicher Gerichte iSd Art. 92 GG, wie sich aus der Verortung der Norm im „Abschnitt IX. Die Rechtsprechung“ des Grundgesetzes ergibt. Auch enthalten Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft keine der Rechtskraft fähigen Feststellungen zur Schuld des Betroffenen.
Gerichtliche Einstellungsentscheidungen sind nicht vom Schutzgehalt des Art. 103 III GG erfasst. Sie enthalten weder in Form eines Prozessurteils (vgl. § 260 III StPO) noch eines Beschlusses (vgl. §§ 153 II 1, 153a II 1, 206a I, 206b S. 1 StPO) rechtskräftige Feststellungen zur Schuld der betroffenen Person. Daher schaffen sie zwar nach Maßgabe des allgemeinen Grundsatzes ne bis in idem einen Vertrauenstatbestand in den Bestand der Verfahrenseinstellung, entfalten jedoch keine absolute Sperrwirkung nach Art. 103 III GG (vgl. BGHSt 48, 331 (334 ff.) = NJW 2004, 375). Ebenso wenig haben Gerichtsbeschlüsse, die aufgrund der Ablehnung eines hinreichenden Tatverdachts zur Verfahrensbeendigung führen (vgl. §§ 174 I, 204 StPO), das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 III GG zur Folge. Auch sie enthalten keine rechtskräftigen Schuldfeststellungen, sondern beruhen auf einer bloßen Verdachtsprüfung, die außerhalb einer Hauptverhandlung im schriftlichen Verfahren erfolgt (vgl. BGHSt 48, 331 (336) = NJW 2004, 375). Sie bewirken daher keinen umfassenden Strafklageverbrauch, der Art. 103 III GG unterfiele, sondern gewähren lediglich schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der gerichtlichen Entscheidung.
2. Eingriff

In das Grundrecht des A aus Art. 103 III GG müsste eingegriffen worden sein. Ein Eingriff ist nach dem klassischen Eingriffsbegriff die Verkürzung des Schutzbereichs aufgrund einer staatlichen Maßnahme, die final und unmittelbar wirkt und welche durch Rechtsakt sowie mit Befehl und Zwang gegenüber dem Einzelnen angeordnet bzw. durchgesetzt werden kann. Ein Eingriff liegt in Form der Verurteilung aus dem Jahre 2023 aufgrund des § 362 Nr. 5 StPO vor.

3. Rechtfertigung

Der Eingriff könnte jedoch gerechtfertigt sein. Dafür müsste der Art. 103 III GG zunächst beschränkbar sein (Schranke) und, soweit dies der Fall ist, müsste § 362 Nr. 5 StPO eine zulässige Ausgestaltung dieser Schranke darstellen (Schranken-Schranke).

a) Schranke

Art. 103 III GG müsste einschränkbar sein. Der Wortlaut von Art. 103 III GG enthält keine Schrankenbestimmung. Regelmäßig sind Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte auch dann nicht abwägungsfest, wenn sie selbst keine Schrankenbestimmungen enthalten, sondern sie ihre Grenzen in den verfassungsimmanenten Schranken finden.[13]so z.B. Art. 4 GG. Sie sind also der Abwägung mit anderen Grundrechten und Rechtsgütern von Verfassungsrang zugänglich.[14]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 79 ff. Nur ausnahmsweise sind Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte keiner Abwägung zugänglich. Das prominenteste Beispiel hierfür ist die Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG. Ob Art. 103 III GG abwägungsfest ist, ist durch Auslegung zu ermitteln.

aa) Wortlaut

Der Wortlaut von Art. 103 III GG spricht auf den ersten Blick für eine Unbeschränkbarkeit, jedoch ist die Nicht-Benennung von Schranken – wie soeben dargelegt – nicht aus sich selbst heraus eine definitive Klarstellung.

bb) Sinn und Zweck

Ein Verständnis als nicht beschränkbares grundrechtsgleiches Recht könnte sich auch aus dem Sinn und Zweck der Norm ergeben. Der Zweck des Art. 103 III GG als Individualrecht besteht zunächst darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen.[15]s.o. Ließe man eine Einschränkung dieses Grundsatzes zugunsten der materiellen Rechtsfindung zu, wären die von Art. 103 III GG gegebenen Garantien beinahe gegenstandslos, weil dann gerade keine Verfahrensgarantie geschützt werden würde. Könnte der einfache Gesetzgeber eine Norm schaffen, die diese Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes mit anderen Rechtsgrundsätzen abwägt, wäre der Schutzgehalt gering. Sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Zweckrichtung des Art. 103 III GG verlangen die verbindliche Entscheidung zugunsten der Rechtssicherheit. Dies lässt eine Relativierung seines Schutzes nicht zu.

cc) Systematik

Art. 103 III GG stellt eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für strafrechtliche Verfahren gilt. Als Sonderregelung mit eigenständigem Gehalt geht Art. 103 III GG in seinem Schutzgehalt über die allgemeinen Prinzipien hinaus, die ihrerseits bereits das Vertrauen in eine rechtskräftige Entscheidung schützen und eine übermäßige Beeinträchtigung der Interessen des Einzelnen verhindern.[16]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 83.

Einer absoluten Geltung des Art. 103 III GG könnte jedoch der Anspruch auf effektive staatliche Strafverfolgung entgegenstehen. In der Strafverfolgung im Allgemeinen wird bereits ein Ausgleich verschiedener Interessen umgesetzt. Auf der einen Seite stehen das individuelle effektive Strafverfolgungsinteresse und der staatliche Strafanspruch. Diese sind jedoch bereits in sich selbst begrenzt. Art. 103 III GG stellt selbst eine Grundentscheidung des verfassungsgebenden Gesetzgebers zur Abwägung der sich im Strafprozess gegenüberstehenden Interessen dar.[17]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 114 ff. Siehe dazu auch: Kudlich/Göken, NJW 2023, 3683, 3683 f. Die Systematik spricht demnach für eine Auslegung als abwägungsfestes Rechtsgut.

Auch die systematische Auslegung könnte für eine Unbeschränkbarkeit von Art. 103 III GG sprechen. Art. 103 II GG, das besondere Rückwirkungsverbot, stellt ebenfalls eine strafprozessuale Grundentscheidung des verfassungsgebenden Gesetzgebers auf. Als Spezialfall des allgemeinen Rückwirkungsverbots und anders als dieses verbietet Art. 103 II GG dem Strafgesetzgeber ausnahmslos, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen. Dieses besondere Rückwirkungsverbot wirkt somit absolut und ist einer Abwägung nicht zugänglich.[18]vgl. BVerfG BeckRS 1971, 103601; BVerfG NJW 1997, 929; BVerfG NJW 2004, 739.

Art. 103 II und III GG stehen den Freiheitsrechten nahe, die nicht nur innerhalb eines Strafverfahrens zu beachten sind, sondern den Grundrechtsträger bereits vor einem Strafverfahren schützen, ohne dass es zur Verwirklichung dieses Schutzes noch einer gesetzlichen Umsetzung bedürfte. Darin unterscheiden sich Art. 103 II und III GG von den Rechten, die – wie beispielsweise Art. 103 I GG – auf die Gewährleistung von Rechtsschutz gerichtet sind.

Außerdem spricht für eine Auslegung als unbeschränkbares grundrechtsgleiches Recht, dass mit dem Mehrfachverfolgungsverbot verhindert werden soll, dass eine Person allein zum Objekt der staatlichen Strafverfolgung wird[19]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 88 f., womit Art. 103 III GG Personen davor schützen soll, in ihrer Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG beeinträchtigt zu werden.

Dem könnte jedoch entgegengehalten werden, dass eine Gefahr der Aushöhlung der rechtsstaatlichen Garantien kaum mehr besteht und die Entscheidung für eine absolute Verfahrensgarantie sich durch ein gewandeltes Verfassungsverständnis verändert haben könnte.[20]So Hoven, JZ 2021, 1154, 1160; dagegen Kaspar, GA 2022, 29 f. Die gefestigte rechtsstaatliche Tradition in Deutschland gewährt einige Sicherheit für Menschen, dass etwaig geschaffene Ausnahmeregelungen nicht einseitig zu Lasten der Bürger:innen ausgenutzt werden.[21]Hoven, JZ 2021, 1154, 1160. Jedoch sind es gerade die verfassungsrechtlichen Garantien bestimmter Rechte und Verfahrensgrundsätze, die diesen Zustand schützen. Die Gewährleistungen der im Grundgesetz garantierten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte stehen „nicht unter dem Vorbehalt einer realen Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“.[22]vgl. Pohlreich HRRS 2023, 140 (143).

Anmerkung: Was muss man davon wissen?
Nur wenig davon muss man in der Klausur wirklich 1:1 parat haben. Es wäre gut, wenn man sich die Frage stellt, ob Art. 103 III GG beschränkbar ist. Die offensichtlichen Argumente gegen die Beschränkbarkeit (Wortlaut, Verfahrensgarantien als besonders wichtige Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes) und dafür (Anspruch auf effektive Strafverfolgung und Strafanspruch des Staates, Ziel der Findung der materiellen Gerechtigkeit) sollte man – jedenfalls kurz – ausführen. Im Ergebnis ist dies aber eine Abwägungsentscheidung, die so oder so getroffen werden kann. Wenn man hier zu dem Ergebnis kommt, dass Art. 103 III GG nicht abwägungsfest ist, (siehe dazu auch sogleich die Argumente des Richters Müller und der Richterin Langenfeld) kann man im Rahmen der Schranken-Schranke, insbesondere der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine schöne Diskussion der Abwägung zwischen Verfahrensgarantien und materieller Gerechtigkeit führen.
dd) Auslegung im Einklang mit bestehenden Rechten

Die Einschränkungen der absoluten Rechtskraft eines Urteils, die sich aus den § 362 Nr. 1 – 4 StPO ergeben, könnten mit einem derartigen Verständnis vereinbar sein. Art. 103 III GG schützt den Einzelnen davor, dass er aufgrund des Versuchs ein materiell „richtiges“ Ergebnis zu erzielen, zum Gegenstand der Strafverfolgung in alle Ewigkeit wird. Das Ziel der in § 362 Nr. 1 – 4 StPO geregelten Ausnahmetatbestände, ist jedoch ein auf fehlerhaften Annahmen geführtes Verfahren zu korrigieren (Nr. 1-3) oder offensichtliche Widersprüche zur materiellen Rechtslage aufzuheben, wenn der Vertrauensschutz bereits erschüttert ist (Nr. 4). Diese stellen selbst eine Rechtsstaatsgarantie (zu Gunsten des Interesses an der effektiven Strafverfolgung bzw. der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs) auf, nämlich, dass die dort genannten Formen der Verfahrensfehler bzw. der erschütterte Vertrauensschutz auch nach dem Ende des Verfahrens nicht unberücksichtigt bleiben.[23]So bereits zuvor: Kaspar, GA 2022, 29 f. In dem Sinne stehen die § 362 Nr. 1 – 4 StPO im Einklang mit der von Art. 103 III GG vorgegebenen Wertung.[24]Siehe zur Kritik an dieser Unterscheidung zwischen dem Ziel ein materiell richtiges Ergebnis zu finden und lediglich formelle Fehler auszubessern: Kudlich/Göken, NJW 2023, 3683, 3684. Damit sind die vom vorkonstitutionellen Gesetzgeber vorgegebenen Einschränkungen in § 362 Nr. 1 – 4 StPO – ohne Verfassungsänderung – die einzigen zulässigen Ausnahmen des Art. 103 III GG.[25]Siehe zur sog. Versteinerungsthese: Jahn, JuS 2024, 83, 85.

Anmerkung: Vorkonstitutionelles Recht
Hinzu kommt, dass § 362 Nr. 1 – 4 StPO vorkonstitutionelles Recht darstellen. Das BVerfG wiederholt in Rn. 92 der Entscheidung, dass das BVerfG in der Vergangenheit in Bezug auf § 362 Nr. 1 – 4 StPO von einer „immanenten Schranke“ gesprochen hat. Dies sei jedoch nicht wörtlich zu verstehen, sondern in dem Sinne, dass es sich um eine Ausprägung des ne bis in idem Grundsatz handele, welcher in der damals durch das RG geprägten Form übernommen werden sollte.

Aus der gemeinsamen Betrachtung der Abwägungsfestigkeit von Art. 103 III GG unter Berücksichtigung der zulässigen Ausgestaltung durch die § 362 Nr. 1 – 4 StPO und Art. 79 GG ergibt sich, dass Art. 103 III GG nicht wie Art. 1 I GG abwägungsfest und unveränderlich ist, sondern dass der verfassungsgebende Gesetzgeber nur unter den Voraussetzungen des Art. 79 GG eine andere Wertung als die in Art. 103 III GG treffen könnte[26]Kudlich/Göken, NJW 2023, 3683, 3683 f.. In dem Fall könnte er auch der materiellen Gerechtigkeit einen größeren Geltungsbereich zuschreiben. Dafür müsste er jedoch die Gefahr, dass der Einzelne zum Objekt der Wahrheitsfindung wird und damit in seinen Rechten aus Art. 1 I GG betroffen sein kann, berücksichtigen.[27]Jäger, JA 2024, 76, 78. Der einfachgesetzliche Gesetzgeber kann diese absolute Vorrangentscheidung des verfassungsgebenden Gesetzgebers jedoch nicht umgehen.

Anmerkung: Abweichende Meinung des Richters Müller und der Richterin Langenfeld

Die große Mehrheit der Richter:innen (6:2) hat sich für diese Auslegung ausgesprochen. Die beiden abweichenden Richter:innen haben sich ausführlich damit auseinandergesetzt, ob Art. 103 III GG abwägungsfest ist und kommen zu dem Ergebnis, dass dies nicht der Fall ist.[28]Siehe dazu auch: Jäger, JA 2024, 76, 78 f.
Sie führen zu Beginn zusammenfassend aus: „Die Auffassung der Senatsmehrheit, wonach Art. 103 III GG eine absolute Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit trifft, mithin einer Relativierung durch Abwägung mit anderen Verfassungsgütern prinzipiell entgegensteht, teilen wir nicht. Richtig ist, dass der Verfassungsgeber mit Art. 103 III GG eine Grundentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit getroffen hat, die der Gesetzgeber nicht unterlaufen darf. Die Durchbrechung der Rechtskraft eines strafgerichtlichen Urteils im Wege der Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen muss die Ausnahme bleiben und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Das Gewicht eines Wiederaufnahmegrundes muss derart sein, dass der grundsätzliche Bestand eines rechtskräftigen Freispruchs ausnahmsweise dahinter zurücksteht. Eine regelhafte oder beliebige Durchbrechung der Rechtskraft im Rahmen einer Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen wäre mit Art. 103 III GG nicht vereinbar. Richtig ist aber auch, dass Art. 103 III GG keinen absoluten Schutz gegen Durchbrechungen der Rechtskraft gewährt. Wäre Art. 103 III GG uneingeschränkt abwägungsfest, wäre für jegliche Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen von vornherein kein Raum. Diese Konsequenz zieht die Senatsmehrheit indes nicht, sondern sieht die bestehenden Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen gem. § 362 Nr. 1–4 StPO als verfassungsrechtlich unbedenklich an. Die von ihr hierfür vorgetragene Begründung überzeugt nicht (vgl. nachfolgend Rn. 10 ff.).“ [29]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. der abweichenden Meinung: [4] f.
Die beiden Richter:innen setzen sich mit den Punkten der Senatsmehrheit auseinander und meinen:
– Aus der historischen Herleitung ergibt sich kein eindeutiges Argument für die Abwägungsfestigkeit.
– Die Abwägungsfestigkeit von Normen ergibt sich nur bei einem konkreten Bezug zu Art. 1 I GG, der in Bezug auf Art. 103 III GG nicht stärker gegeben ist, als bei anderen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten.
– Die Ausnahmen in § 362 Nr. 1 – 4 StPO können nicht mit dem Verständnis in Einklang gebracht werden.
– Wenn Art. 103 III GG aber nicht absolut gilt, dann sind die allgemeinen Grenzen (insbesondere die Verhältnismäßigkeit) bei der Beurteilung von § 362 Nr. 5 StPO zu beachten.
– Insbesondere stellt die materielle Wahrheitsfindung eine ebenso verfassungsrechtlich vorgesehene Grundlage des strafprozessualen Verfahrens dar, weshalb die beiden Richter:innen die Auffassung der Senatsmehrheit kritisieren.
– Sie haben nicht untersucht, ob § 362 Nr. 5 StPO diese Grenzen wahrt, aber haben aufgezeigt, dass durch die engen Ausnahmen, die der Gesetzgeber vorsieht andere Interessen (Strafverfolgungsinteresse der Familien der Opfer, Strafanspruch des Staates, Durchsetzungsanspruch des Völkerstrafrechts) geschützt und gefördert werden.
(…)
„Welche verfassungsrechtlichen Grenzen einer Ergänzung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen im Rahmen der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern – hier dem staatlichen Strafanspruch und dem dahinterstehenden Prinzip der materialen Gerechtigkeit – aus Art. 103 III GG zu ziehen sind, hat das BVerfG bislang nicht bestimmt. Seiner bisherigen Rechtsprechung kann entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit (vgl. Rn. 90 ff.) eine Bestätigung der Abwägungsfestigkeit des Art. 103 III GG nicht entnommen werden.“[30]BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. der abweichenden Meinung: [6].

ee) Ergebnis der Auslegung

Art. 103 III GG ist abwägungsfest und deshalb nicht beschränkbar. Dies führt dazu, dass die Urteile auf Grund des § 362 Nr. 5 StPO bereits eine unzulässige Beschränkung der Rechte des A vorgenommen haben.

4. Ergebnis

A ist in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 III GG wegen des vorgenommenen Eingriffs verletzt.

Anmerkung: Weitere Prüfung wenn man Abwägungsfestigkeit ablehnt

Wäre man hier zu dem (sehr gut vertretbaren) Ergebnis gekommen, dass Art. 103 III GG sehr wohl einschränkbar ist, müsste als nächstes geprüft werden, ob § 362 Nr. 5 StPO eine Ausprägung einer verfassungsimmanenten Schranke darstellt. Dafür spricht, dass der Strafanspruch und die Ermittlung der materiellen Wahrheit ebenfalls verfassungsrechtlich vorgegebene Aspekte des Strafprozesses sind.
Dann müsste man – ganz normal – prüfen, ob § 362 Nr. 5 StPO die Verhältnismäßigkeit wahrt, bzw. im Rahmen der praktischen Konkordanz alle betroffenen verfassungsrechtlichen Rechte (Individualschutz vor dem Strafverfahren, Rechtsfrieden, Strafanspruch des Staates, Ermittlung der materiellen Wahrheit) durch die Regelung in ein angemessenes Verhältnis gebracht wurden. Dafür spricht, dass § 362 Nr. 5 StPO nur enge Ausnahmen zulässt, bei denen die Kenntnis davon, dass eine materiell falsche Entscheidung getroffen wurde, die gesellschaftliche Ordnung in besonderem Maße zu erschüttern droht. Bisher offen geblieben war jedoch in Bezug auf die Vorschrift, ob bei einem Verfahren, welches aufgrund eines Mordvorwurfs (oder des Vorwurfs der Verwirklichung einer der benannten Völkerstrafgesetzbuchtaten) begonnen wurde, später die Verfolgung auf den Mordvorwurf beschränkt war oder ob dann auch wegen anderer Tatvorwürfe eine Verurteilung hätte erfolgen können.[31]Jäger, JA 2024, 76, 78 f.
Es wäre jedoch auch möglich gewesen, die Wiederaufnahmegründe in formeller Hinsicht noch enger zu fassen. So wäre es z.B. möglich gewesen zu bestimmen, dass eine Wiederaufnahme nur dann in Betracht kommt, wenn Beweismittel durch neue technische Verfahren anders ausgewertet werden können und sich daraus die Täterschaft eindeutig bestimmen lässt (insbesondere DNA-Analysen, die zuvor technisch nicht möglich waren).

II. Verletzung des Rückwirkungsverbots

Der § 362 Nr. 5 StPO könnte außerdem das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 III i.V.m. Art. 20 III GG verletzen.

Anmerkung: Zitierung des richtigen Absatzes

Das BVerfG stellt nicht auf Art. 103 II GG, dem besonderen Rückwirkungsverbot für Strafgesetze ab, weil Änderungen der StPO regelmäßig nicht unter Art. 103 II GG fallen, auch wenn diese dazu führen können, dass ein Verfahren AUFGRUND eines Strafgesetzes (doch noch) geführt wird. Das ist aber das entscheidende Kriterium: Art. 103 II GG gilt nur für echte Strafgesetze. Der aus Art. 20 III GG stammende Vertrauensgrundsatz im Allgemeinen schützt aber auch außerhalb des Strafrechts vor einer unzulässigen Rückwirkung. Abweichend vertreten aber einige andere, dass diese Unterscheidung nicht überzeugend ist: Kargl, in: NK-StGB, 6. Aufl. 2023, StGB § 1 Rn. 60a; Jahn, in Löwe/Rosenberg/Lüderssen, StPO, 27. Aufl. 2016, StPO Einl. M Rn. 58 ff.
Das Bundesverfassungsgericht zitiert Art. 103 III i.V.m. Art. 20 III GG weil das Rückwirkungsverbot aus dem Rechtsstaatsprinzip „in Verbindung mit den von der Rechtsfolgenanordnung berührten Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten (vgl. BVerfG NJW 1987, 1749; BVerfGNJW 2021, 1222)“ herrührt.

Anmerkung: Standort dieser Prüfung

Die Prüfung des Rückwirkungsverbots wird häufig vor der Prüfung der einzelnen Grundrechte vorgenommen, weil es sich um einen allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz handelt. Dieser ist auch unabhängig von einer Verletzung individueller Rechte. Er kann aber – wenn die individuelle Rechtsbeeinträchtigung aus der Umgehung des Rückwirkungsverbots herrührt – auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geprüft werden. Der Standort der Prüfung ist nicht entscheidend.

1. Echte oder unechte Rückwirkung

Zunächst ist fraglich, ob es sich bei der Regelung in § 362 Nr. 5 StPO um eine Form der „echten“ oder „unechten“ Rückwirkung handelt.

Eine „echte“ Rückwirkung liegt vor, wenn eine Norm ihre Rechtsfolge mit Wirkung für vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung bereits abgeschlossener Tatbestände gelten soll. Eine „unechte“ Rückwirkung liegt vor, wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten, aber noch nicht abgeschlossenen, Sachverhalt ausgelöst werden.[32]vgl. BVerfG NJW 1983, 2757; BVerfG NJW 1987, 1749; BVerfG NJW 1998, 1547; BVerfG NJW 2002, 3009; BVerfG NJW 2010, 3629; BVerfG NJW 2013, 145; BVerfG NJW 2018, 1379.

Der Erlass einer Norm, die eine „unechte“ Rückwirkung entfaltet, ist regelmäßig zulässig, weil es keinen allgemeinen Vertrauensschutz für den Fortbestand von Gesetzen gibt. Unzulässig ist eine „unechte“ Rückwirkung, wenn die Betroffenen nicht mit dem Erlass eines entsprechenden Gesetzes rechnen mussten und das Vertrauen der Bürger:innen schutzwürdiger ist, als der mit dem Gesetz verfolgte Zweck.

Der Erlass einer Norm, die eine „echte“ Rückwirkung entfaltet, ist demgegenüber regelmäßig unzulässig, weil der Vertrauensschutz grundsätzlich das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Gesetze und Rechte schützt. Ist der in der Vergangenheit abgeschlossene Tatbestand einmal geregelt, kann eine Änderung nur dann erfolgen, wenn überragende Belange des Allgemeinwohls eine rückwirkende Änderung notwendig machen.[33]vgl. BVerfG NJW 1962, 291; BVerfG NJW 1997, 722; BVerfG NVwZ 2012, 876; BVerfG NVwZ 2016, 682; BVerfG NJW 2021, 1222.

Der Vertrauensschutz entsteht jedoch bereits nicht, wenn die Betroffenen auf den Fortbestand der Regelung nicht vertrauen durften (etwa weil die Änderungsbedürftigkeit der Norm bereits im Bundestag diskutiert wurde)[34]vgl. BVerfG NJW 1962, 291; BVerfG BeckRS 1971, 103601; BVerfG NJW 1997, 722; BVerfG NVwZ 2009, 1025; BVerfG NVwZ 2014, 577; BVerfG NJW 2021, 1222., wenn die vorherige Rechtslage so unklar und verworren war, oder durch widersprüchliche Rechtsprechung so unverständlich war, dass eine Klärung zu erwarten war[35]ebd., das Recht bisherige Recht so systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestanden.[36]BVerfG NJW 1962, 729; BVerfG BeckRS 1971, 103601; BVerfG NVwZ 2014, 577; BVerfG NJW 2021, 1222.

Der § 362 Nr. 5 StPO trat zum 01.12.2019 in Kraft und sollte in seiner Form auch die erneute Strafverfolgung von in der Vergangenheit rechtskräftig gewordenen Gerichtsentscheidungen (in Bezug auf eng umgrenzte Strafnormen) ermöglichen. Insbesondere im Strafverfahren enthält ein Freispruch den abschließenden Aussagegehalt, dass sich der Tatverdacht, der dem Strafverfahren zugrunde lag, nicht bestätigt hat. Der geregelte Lebenssachverhalt, an den eine gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme Rechtsfolgen knüpft, ist das Verfahren, nicht der zugrunde liegende, den Verfahrensgegenstand prägende tatsächliche Sachverhalt [37]vgl. BVerfG Urt. v. 30.10.2022, 2 BvR 900/22, Rn. 150.. Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändert sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Knüpft eine Norm in ihrer Rechtsfolge an in Rechtskraft erwachsenen Entscheidungen an, ist dies ein in der Vergangenheit abgeschlossener Sachverhalt und es handelt sich um eine „echte“ Rückwirkung. § 362 Nr. 5 StPO entfaltet „echte“ Rückwirkung.[38]Siehe zu diesem Abschnitt: BVerfG Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, Rn. 142 ff.

2. Ausnahmsweise Zulässigkeit

Der Erlass von Normen mit „echter“ Rückwirkung ist regelmäßig unzulässig. Fraglich ist, ob hier so gewichtige Gründe des Allgemeinwohls für den Zweck des § 362 Nr. 5 StPO streiten, dass der rückwirkende Erlass ausnahmsweise zulässig ist.

Ein Grund, weshalb rechtskräftig Freigesprochene nicht auf die Fortwirkung des Freispruchs vertrauen dürften, ergibt sich nicht. Bei der Beurteilung geht es nicht um die Frage, ob Freigesprochene wussten, dass die Entscheidung materiell falsch ist, sondern darum, ob sie davon ausgehen mussten, dass ein (falscher) Freispruch nach dem Erwachsen in Rechtskraft rückgängig gemacht werden könnte oder nicht. Zwar verjähren die von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Verbrechen niemals, jedoch endet mit dem Freispruch die Phase, in der die Verjährung entscheidend ist.[39]BVerfG Urt. v. 30.10.2022, 2 BvR 900/22, Rn. 155.

Als den gegenüberstehenden Gründen sind hier die Schaffung von materieller Gerechtigkeit, die Verfolgung des staatlichen Strafanspruchs und der individuelle Anspruch auf effektive Rechtsverfolgung zu nennen. Keiner dieser Gründe ist jedoch so überragend, dass er den zuvor geltenden Zustand, der den Vertrauensschutz förderte, überwiegt. Mithin liegen die Voraussetzungen für die ausnahmsweise Zulässigkeit einer „echten“ Rückwirkung nicht vor.

3. Ergebnis

§ 362 Nr. 5 StPO verstößt außerdem gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 III GG i.V.m. Art. 20 III GG.

III. Gesamtergebnis

§ 362 Nr. 5 StPO verstößt sowohl gegen den in Art. 103 III GG niedergelegten Grundsatz ne bis in idem, als auch gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 III i.V.m. Art. 20 III GG. Die Verurteilung des A aufgrund dieser Norm, verstößt gegen das grundrechtsgleiche Recht des A.

B. Aussicht auf Erfolg

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet und hat Aussicht auf Erfolg.


Zusatzfragen

1. Welche weiteren verfassungsrechtlich hergeleiteten Rechtsgrundsätze prägen das Strafverfahren zu Gunsten des Angeklagten?
Dies sind namentlich
– die Unschuldsvermutung[40]BVerfG NJW 1975, 103; BVerfG NJW 2009, 1469; BVerfG NJW 2013, 1058.
– das Recht auf ein faires Verfahren [41]BVerfG NJW 1975, 103; BVerfG NJW 2009, 1469; BVerfG NJW 2013, 1058.
– einschließlich seiner Bestandteile wie dem Grundsatz nemo tenetur, also das man sich nicht selbst belasten muss [42]BVerfG NJW 1975, 103; BVerfG NJW 1981, 1087; BVerfGE 56, 37 (43) = NJW 1981, 1431; BVerfG NJW 2004, 2073; BVerfG NJW 2013, 1058; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) NJOZ 2022, 373 Rn. 50 ff.,
– der Beweisregel in dubio pro reo [43]vgl. BVerfG NJW 2003, 2444; BVerfG BeckRS 2007, 24671 Rn. 3; BVerfG NJW 1959, 619; BVerfG NJW 1974, 26; BVerfG NJW 1987, 2427; BVerfG NJW 2013, 1058; BVerfG NJW 2016, 1149.
– und dem Grundsatz der Waffengleichheit [44]vgl. BVerfG NJW 2004, 1305; BVerfG NJW 2013, 1058; BVerfG NJW 2021, 455 Rn. 32.
2. Wie lautet und was besagt die Radbruch`sche Formel?
Die Radbruch`sche Formel hat enthält im Wesentlichen die Aussage:
Wenn ein Gesetz als ‚unerträglich ungerecht‘ anzusehen ist oder die im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen bewusst verleugnet wird, muss sich der Richter gegen das Gesetz und für die materielle Gerechtigkeit entscheiden.
Sie lautet im Originaltext: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“[45]Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105, 107.
Die Radbruch`sche Formel stellt eine vom BVerfG anerkannte Ausnahme vieler auch in dieser Entscheidung angesprochener Grundsätze dar. Insbesondere:
1. Die Radbruchsche Formel, bzw. das damit erreichte Ergebnis, widerspricht dem besonderen strafrechtlichen Rückwirkungsverbot bzw. dem Grundsatz nulla poena sine lege aus Art. 103 II GG.
2. Die Radbruchsche Formel widerspricht dem allgemeinen Rückwirkungsverbot aus Art. 20 III GG.
Trotzdem wurde diese vom BVerfG in extremen Ausnahmemomenten (Nationalsozialistischer Unrechtsstaat und Mauerschützen an der innerdeutschen Grenze) bei Verurteilungen für zulässig erachtet:

BVerfG, Urteil vom 3.11.1992 – 5 StR 370/92, BGHSt 39, 1 (Strafbarkeit des Schusswaffengebrauchs an der innerdeutschen Grenze)
BVerfG, Urteil vom 12.07.1951 – III ZR 168/50, BGHZ 3, 94 (Erschießung eines Deserteurs durch Angehörige des Volkssturms in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs)

Die darin liegende Ausnahme muss für immer dies bleiben: Eine Ausnahme für die Extremmomente, in denen das Recht pervertiert und zu einer Waffen gegen die Gerechtigkeit wird. Es ist unmöglich, die Radbruch`sche Formel mit dem positivistischen Rechtsverständnis des Grundgesetzes in Einklang zu bringen, aber sie ist notwendig, um in diesen extremem Ausnahmesituationen die Gerechtigkeit über das Recht zu stellen.


Zusammenfassung

1. Art. 103 III GG ist nach der hier maßgeblichen, vom BVerfG vertretenen Auffassung, abwägungsfest und damit überhaupt nicht einschränkbar, soweit es um eine Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens geht (diese Einschätzung teilen zwei der Richter:innen des entscheidenden Senats nicht). Der vom Gesetzgeber eingefügte § 362 Nr. 5 StPO ist deshalb unvereinbar mit dem Grundgesetz.

2. Die vorkonstitutionell in § 362 Nr. 1 – 4 StPO geregelten Ausnahmen von diesem Grundsatz ermöglichen die Wiederaufnahme eines Verfahrens, wenn dieses aufgrund von fehlerhaften Annahmen geführt wurde oder beim Vorliegen eines Geständnisses nach dem Ende des Verfahrens. Diese Ausnahmen sind mit der absoluten Geltung des Art. 103 III GG vereinbar.  

3. Das absolute Wiederaufnahmeverbot zu Lasten des Angeklagten gilt nur nach dem Abschluss eines rechtskräftigen Gerichtsverfahrens.

4. Eine StPO-Norm, die die Wiederaufnahme von rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren vorsieht, wie § 362 Nr. 5 StPO, verstößt außerdem gegen das Rückwirkungsverbot, weil darin eine echte Rückwirkung und liegt und diese Anknüpfung nicht ausnahmsweise zulässig ist.

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