highlight_off
Viertägige Fesselung

BVerfG, Beschluss v. 19.01.2023 – 2 BvR 1719/21; BeckRS 2023, 2734

Sachverhalt

(Gekürzt und abgewandelt)

Der Beschwerdeführer B befindet sich nach Absitzen seines Strafvollzuges in der JVA seit neustem in Sicherungsverwahrung. In der JVA hatte er alle Ausführungen beanstandungsfrei absolviert; in der Sicherheitsverwahrung war es bislang nur zu einer gefesselten Ausführung gekommen, die aber unauffällig verlief. B leidet unter verschiedenen Krankheiten, die die Beweglichkeit sowie Biegungsfähigkeit seiner Gelenke stark beeinträchtigen, zu einer Arbeitsunfähigkeit seinerseits führten und bereits in der Vergangenheit Behandlungen in Krankenhäusern außerhalb des Vollzugs erforderlich machten. Laut der Anstaltsärztin ist durch diese gesundheitlichen Einschränkungen auch sein Ausbruchsrisiko gemindert. Wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden wurde B zwischen dem 13. und dem 16.10.2023 in die stationäre Behandlung im Krankenhaus aufgenommen. 

Auf Grundlage einer allgemeinen Fesselungsanordnung der Anstalt erfolgten die Fahrten zwischen dem Ort der Sicherheitsverwahrung und dem Krankenhaus am 13.10. mit armverschränkender Handfesselung in einem vollvergitterten Transporter, der in einzelne Boxen unterteilt war, in Begleitung zweier bewaffneter Bediensteter. Bei der darauffolgenden Voruntersuchung war B durchgängig mit überkreuzten Händen gefesselt. Am Morgen des 14.10.2023 wurde er in Begleitung einer Bediensteten ohne Handfesselung, aber gefesselt am Fuß im eigenen Bett in den OP-Vorraum verbracht, wo ihm die Fußfessel abgenommen und durch eine über Kreuz angelegte Fesselung an den Händen ersetzt wurde. Auf dem OP-Tisch wurde ihm dann ein Venenzugang gelegt. Während der Vollnarkose wurde die Fesselung der Hände entfernt und nach dem Aufwachen erneut eine Handfessel angelegt. Nach zwei Stunden im Aufwachraum wurde die Handfessel durch eine am Bettrahmen befestigte Fußfessel ausgetauscht, die während der Nachsorge für weitere drei Tage angelegt blieb. Bei täglichen, durch zwei bewaffnete Bedienstete begleiteten Spaziergängen wurde B an den Händen statt an den Füßen gefesselt. Insgesamt wurde er also 96 Stunden ununterbrochen – wenn auch auf verschiedene Art und Weise – gefesselt. 

Im Angesicht dieser Umstände entscheidet sich B im Nachgang der OP, die noch für ihn anstehenden und geplanten Operationen außerhalb des Vollzugs nicht mehr wahrnehmen zu wollen. Es sei menschenunwürdig und stigmatisierend, die zukünftigen Operationen und Untersuchungen in Krankenhäuser durchgängig gefesselt absolvieren zu müssen, obwohl er sich kein Fehlverhalten habe zu Schulden kommen lassen. Dies verstoße sowohl gegen das Folterverbot aus der EMRK als auch gegen seine Grundrechte. B gibt an, dass die lange und ununterbrochene Fesselung sein allgemeines Wohlempfinden und seinen Schlaf beeinträchtigt hätten: Wegen der Fesselung am Bettrahmen sei ein Drehen oder Anwinkeln der Beine unmöglich gewesen und die schweren Fußfesseln haben ihm, gerade auch wegen seiner Vorerkrankung, Schmerzen bereitet. Ebenso seien die Spaziergänge auf dem Klinikgelände durch die Handfesselung schmerzhaft gewesen. Überhaupt versteht B nicht, wieso die Fesselung notwendig gewesen sei, da er ohnehin neben seiner Fesselung auch stets durch zwei Vollzugsbedienstete bewacht worden sei. Die JVA habe gar nicht begründet, wieso er gefesselt werden müsse. Dass an die Begründung hohe Anforderungen zu stellen seien, hätte schon der EGMR festgestellt – was stimmt: So müssen bei Fesselungen die individuelle Vorgeschichte und der Gesundheitszustand des betroffenen Gefangenen sowie etwaiges gefährliches Vorverhalten in der Haft berücksichtigt werden. Auch die Dauer und öffentliche Wahrnehmbarkeit der Fesselung spielt nach Ansicht des EGMR eine Rolle – jedenfalls sei die mit der Fesselung verbundene Zwangsanwendung auf das unausweichliche Maß zu beschränken

Die zuständige JVA begründet, dass sie den B noch nicht lange kennen würde und ihn daher hinsichtlich seiner Missbrauchs- und Fluchtgefahr nicht ausreichend einschätzen könnte. Bei Ausführungen zum Arzt würden die Sicherheitsverwahrten generell aus Sicherheitsgründen gefesselt, da sich die Verhältnisse vor Ort im Vorfeld nicht immer abschließend bestimmen ließen und von Sicherheitsverwahrten eine besondere Gefahr ausginge. Außerdem hätten sich Fuß- und Handfessellungen abgewechselt, sodass er nicht unverhältnismäßig lange in einer bestimmten Hand- oder Fußposition ausharren musste. Insofern sei die Fesselung „sicherlich nicht angenehm“, aber „medizinisch unbedenklich“ gewesen.

Alle Rechtsmittel des B waren erfolglos. Die Instanzgerichte haben die Fesselung des B allesamt für verhältnismäßig befunden. Nun möchte er Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Entscheidung erheben.

Mit Erfolg?

Hinweis: Von der formellen Verfassungsmäßigkeit der Normen ist auszugehen.

§ 69 Gesetz zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe (GRVF) – Besondere Sicherungsmaßnahmen

(1) Gegen Gefangene können besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn nach ihrem Verhalten oder auf Grund ihres seelischen Zustandes in erhöhtem Maße die Gefahr der Entweichung, von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr der Selbstverletzung oder Selbsttötung besteht. 

(2) Als besondere Sicherungsmaßnahmen sind zulässig […] 6. die Fesselung oder Fixierung.

(7) Fixierungen dürfen nur angeordnet werden, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen erheblichen Selbstgefährdung oder einer von den Gefangenen ausgehenden erheblichen Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer unerlässlich ist und nach dem Verhalten der Gefangenen oder auf Grund ihres seelischen Zustandes andere, weniger einschneidende Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.

(8) Fesseln dürfen in der Regel nur an Händen oder Füßen angelegt werden. Bei Art und Umfang der Fesselung und Fixierung sind die Gefangenen zu schonen. Die Fesselung oder Fixierung ist unverzüglich zu lockern oder zu entfernen, sobald die Gefahr nicht mehr fortbesteht oder durch mildere Mittel abgewendet werden kann. 

(9) Bei einer Ausführung, Vorführung oder beim Transport ist die Fesselung auch dann zulässig, wenn die Beaufsichtigung nicht ausreicht, eine Entweichung zu verhindern.

§ 69 Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz (SVVG) – Besondere Sicherungsmaßnahmen

Die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes über die besonderen Sicherungsmaßnahmen (§ 69), die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen und das Verfahren (§ 70) sowie die medizinische und psychologische Überwachung (§ 71) gelten entsprechend.


Skizze

Gutachten

Die Verfassungsbeschwerde des B hat Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG für Individualverfassungsbeschwerden zuständig. 

II. Beschwerdefähigkeit

Gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG ist „jedermann“ und somit auch B als natürliche Person beschwerdefähig. 

III. Beschwerdegegenstand

Beschwerdegegenstand kann gem. § 90 I BverfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. B möchte gegen die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung vorgehen. Mithin handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.

IV. Beschwerdebefugnis

B müsste nach § 90 I BVerfGG hinreichend geltend machen durch die Entscheidung des Gerichts in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt zum einen die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten und zum anderen eine Beschwer voraus.[1]Epping, Grundrechte, 10. Aufl. 2024, Rn. 178.

1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung

Die Grundrechtsverletzung müsste möglich, also nicht von vorneherein ausgeschlossen sein. 

a) Verletzung des Art. 3 EMRK

B beruft sich auf die Verletzung des Folterverbots aus Art. 3 EMRK. Gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG muss die Verletzung von Grundrechten gerügt werden. Die EMRK ist aber als von Deutschland unterzeichnetem völkerrechtlichen Vertrag gem. Art. 59 II 1 GG nur als einfaches Bundesrecht und nicht als „Grundrechte“ zu qualifizieren.[2]Es handelt sich ausweislich Art. 6 I GRCh insbesondere nicht um Europarecht, da die EU der EMRK (noch) nicht nach Art. 6 II, III EUV beigetreten ist. An dieser Stelle ist die EMRK daher irrelevant. … Continue reading Die Prüfung und Subsumtion einfachen Bundesrechts fällt gerade nicht in die Prüfungskompetenz des BVerfG.[3]Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2020, 1022, 1026. Somit ist B hinsichtlich Art. 3 EMRK vor dem BVerfG nicht beschwerdebefugt. 

Anmerkung: Europäische Grundrechte vor dem BVerfG
Bei der EMRK und der europäischen Grundrechtecharta handelt es sich um zwei unabhängige Rechtsinstrumente, zweier unabhängiger Institutionen – und zwar der Europäischen Union und des Europarats. Die „Recht auf Vergessen“-Rechtsprechung des BVerfG, durch welche die Grundrechte der europäischen Grundrechtecharta als Prüfungsmaßstab berücksichtigt werden können, lässt sich daher nicht auf die EMRK übertragen. Wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes kann (und muss) die EMRK aber trotzdem auf Ebene der Begründetheit berücksichtigt werden. Die Grundrechte sind insofern im Lichte der EMRK auszulegen.
b) Verletzung deutscher Grundrechte

Die Verletzung der Grundrechte aus dem Grundgesetz könnte aber möglich erscheinen. Wegen der schmerzhaften Fesselung an sich kommt zuerst eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 II 1 Alt. 2 GG in Betracht. B bemängelt aber auch, dass die lange Fesselung menschenunwürdig und stigmatisierend sei, weswegen auch eine Beeinträchtigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (APR) aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG nicht von vorneherein ausgeschlossen ist. Insbesondere sind Grundrechte auch auf Gefangene oder Sicherheitsverwahrte anwendbar, unabhängig davon, dass diese sich in einem besonderen Gewaltverhältnis befinden.[4]Muckel, JA 2023, 435 (436). 

Anmerkung: Freiheit der Person
Im Originalfall rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 I, Art. 2 I und II 1 sowie einiger Justizgrundrechte. Wegen der Anpassung des Sachverhalts sind letztere nicht zu prüfen gewesen. Bei Fesselungen könnte zudem an Art. 2 II 2 GG und Art. 104 GG gedacht werden. Jedoch greift schon die Sicherheitsverwahrung an sich, unabhängig der Fesselung, in Art. 2 II 2 GG ein. Die Fesselung ändert nichts an der Freiheitsbeschränkung des B im räumlichen Sinne: Sie hindert B nicht einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich wäre. Nur, wenn es sich um eine Fixierung statt einer Fesselung handeln würde, müsste dies nochmal gesondert im Licht des Art. 104 GG geprüft werden, da in diesem Fall jegliche Bewegungsfreiheit aufgehoben wird (s. dazu in den Zusatzfragen).

2. Betroffenheit

B müsste auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Bei Urteilsverfassungsbeschwerden ist dies i.d.R. unproblematisch gegeben, da der*die Beschwerdeführer*in durch den Beschluss persönlich und rechtskräftig adressiert wird.[5]Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. 2023, § 51 Rn. 27..

Vernetztes Lernen: Wie ändert sich die Prüfung der Zulässigkeit, wenn es sich um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde handelt?
Hier macht sich zum ersten Mal der Unterschied zwischen der Urteils- und Rechtssatzverfassungsbeschwerde bemerkbar. Gerade die unmittelbare Betroffenheit stellt bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden regelmäßig ein Problem dar (Stichwort: Self-executing Normen). Ebenso ist auf Ebene der Rechtswegerschöpfung und der Subsidiarität Vorsicht geboten: Mangels Rechtswegs gegen Gesetze, liegt der Fokus in der Regel auf der Frage, ob inzidenter Rechtsschutz möglich und notwendig ist. Zuletzt ist auch die Jahresfrist nach § 93 III BVerfGG zu beachten. Für eine beispielhafte Prüfung einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde im Corona- sowie im Sicherheitsdienst-Kontext vergleiche hier: https://examensgerecht.de/bundesnotbremse/ und https://examensgerecht.de/grundrechte-im-ausland/.

V. Rechtswegerschöpfung

Die Verfassungsbeschwerde müsste dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung aus § 90 II BVerfGG sowie der Subsidiarität gerecht werden. B hat alle ihm gegen die Maßnahme zur Verfügungen stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeschöpft. Inzidenter Rechtsschutz i.S.d. Subsidiarität kann auch bei Urteilsverfassungsbeschwerden vereinzelt erforderlich sein,[6]Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 61. EL 2021, § 90 Rn. 413. ist hier aber nicht erforderlich, da auf fachgerichtlicher Ebene keine Abhilfe bzgl. des Grundrechtsverletzung zu erwarten ist. 

VI. Rechtsschutzbedürfnis

Es müsste auch ein Rechtsschutzbedürfnis des B vorliegen. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte wird dieses durch das Vorliegen der anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen indiziert.[7]Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 143. 

VII. Form- und fristgerechte Erhebung

Die Verfassungsbeschwerde müsste auch form- und fristgerecht i.S.d. §§ 23, 93 BVerfGG erhoben worden sein. Diesbezüglich bestehen keine Bedenken. 

VIII. Zwischenergebnis

Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist daher zulässig. 

B. Begründetheit

Die Beschwerde ist begründet, wenn und soweit rechtswidrig in Bs Grundrechte eingegriffen worden ist.

I. Prüfungsumfang des BVerfG

Vorliegend handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde, sodass fraglich ist, welcher Prüfungsmaßstab durch das BVerfG anzulegen ist. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz. Zur Wahrung der fachgerichtlichen Kompetenzen und um das BVerfG vor Überlastung zu schützen, prüft es weder, ob die fachgerichtliche Tatsachenfeststellungen noch die einfachgesetzliche Rechtsanwendung zutreffend ist, sondern nur ob die Fachgerichte das spezifische Verfassungsrecht gewahrt haben. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich daher im Folgenden darauf, ob die der Entscheidung zugrunde gelegte Norm verfassungswidrig ist, gegen verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien verstoßen wurde, die Gerichtsentscheidung unhaltbar und damit willkürlich ist (Art. 3 GG) oder die Anwendbarkeit von Grundrechten an sich, oder deren Tragweite und Bedeutung verkannt wurden.[8]Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. 2023, § 51 Rn. 61. 

II. Verletzung des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG

Anmerkung: Aufbau der Prüfung
Das BVerfG legt den Schwerpunkt der Prüfung auf Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG. Zwar ist die Fesselung auch schmerzhaft, das BVerfG sieht die Problematik aber vor allem in der degradierenden Wirkung der dauerhaften Fesselung. Das BVerfG scheint einen Verstoß gegen Art. 2 II GG nur implizit festzustellen (Vgl. BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 36.). Daher beginnt die Prüfung mit dem APR. Eine umgekehrte Prüfung wäre aber genauso richtig.

1. Schutzbereich

Der sachliche und persönliche Schutzbereich müssten eröffnet sein. Das APR ist ein sogenanntes „jedermann“-Grundrecht, sodass jedenfalls alle natürlichen Personen geschützt sind. B ist daher vom personellen Schutzbereich erfasst. Sachlich gewährleistet das APR die freie Entfaltung der Persönlichkeit, d.h. die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen, die sich durch die traditionellen Freiheitsrechte nicht abschließend erfassen lassen.[9]BVerfG, NJW 1980, 2070. Insofern schützt das APR unter anderem die über Art. 2 I GG hinausgehende Selbstbestimmung, Selbstdarstellung und Würde der Person. Eine nach außen wahrnehmbare Fesselung kann eine degradierende und stigmatisierende Wirkung für den*die Gefesselte*n hervorrufen, sowohl in der Eigen- als auch in der potentiellen Fremdwahrnehmung. Beide Ausprägungen, also das Selbstverständnis und die Darstellung des*der Einzelnen nach außen, werden vom APR erfasst.

2. Eingriff

In den Schutzbereich müsste auch eingegriffen worden sein. Ein klassischer Eingriff liegt in jedem staatlichen Rechtsakt, der unmittelbar, final und zwangsweise durchsetzbar den Schutzbereich eines Grundrechts verkürzt. Die Anordnung der Fesselung erfolgte von staatlicher Seite, ist mit Zwang durchsetzbar und hat ohne weitere Zwischenschritte eine stigmatisierende und erniedrigende Wirkung für den B. Ein Eingriff in das APR liegt damit vor.

3. Rechtfertigung 

a) Schranke

Als ungeschriebenes Grundrecht hat das APR keine eigenen Schranken. Jedoch können die Schranken des Art. 2 I GG entliehen werden, sodass die Schrankentrias Anwendung findet. In Betracht kommt hier die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung, welche alle formell und materiell verfassungskonform zustande gekommenen Gesetze umfasst. Die § 69 I, II Nr. 6 GRVF i.V.m. § 69 SVVG sind formelle Landesgesetze und unterfallen damit grundsätzlich dem Schrankenvorbehalt des Art. 2 I GG.

b) Schranken-Schranke
aa) Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage

Da von der formellen Verfassungsmäßigkeit der § 69 I, II Nr. 6 GRVF i.V.m. § 69 SVVG auszugehen ist, stellt sich nur die Frage nach der materiellen Verfassungsmäßigkeit. Die Rechtsgrundlage muss insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Genüge tun.

Vernetztes Lernen: Wie hätte die formelle Verfassungsmäßigkeit geprüft werden müssen?
Grundsätzlich wird die formelle Verfassungsmäßigkeit im Dreischritt geprüft: Zuständigkeit, Verfahren und Form.[10]Manche prüfen es auch im Zweischritt, da Strenggenommen die Gegenzeichnung und Ausfertigung auch noch Teil des Verfahrens sind. Im Rahmend er Zuständigkeit wird die Gesetzgebungskompetenz geprüft (Art. 70 ff. GG), während sich der Punkt des Verfahrens der Frage widmet, ob das Gesetz im Bundestag und Bundesrat ordnungsgemäß zustandekommen ist (Art. 76 ff. GG). Zuletzt muss beim Prüfungspunkt „Form“ die Gegenzeichnung und Ausfertigung behandelt werden (Art. 82 GG).
(1) Legitimes Ziel

Die Rechtsgrundlage müsste ein legitimes Ziel verfolgen. Das mit dem Gesetz verfolgte Ziel dürfte demnach nicht im Widerspruch zur Verfassung stehen. Die Möglichkeit der Fesselung dient dem Schutz der Allgemeinheit vor besonders gefährlichen Mitbürger*innen, aber auch dem Schutz der betroffenen Person selbst, z.B. vor Selbstverletzungen. Nicht zuletzt kommt dem Staat aus Art. 2 II 1 GG eine Schutzpflicht für Leib und Leben zu. Das verfolgte Ziel steht nicht im Widerspruch zum Grundgesetz.

(2) Geeignetheit 

Weiterhin müsste die Rechtsgrundlage geeignet sein; die Zweckerreichung also zumindest fördern. Die Fesselung senkt zumindest das Risiko, dass ein*e Sicherheitsverwahrte*r sich oder andere verletzt. Daher ist von der Geeignetheit der Norm auszugehen.

(3) Erforderlichkeit

Die § 60 GRVF und § 69 SVVG müssten auch erforderlich sein. Es dürfte also kein gleich geeignetes, milderes Mittel ersichtlich sein. Insofern könnte man an eine Überwachung durch Bedienstete der Vollzugsanstalt denken. Dies ist zwar milder, aber jedenfalls nicht gleich effektiv, da das Ausbruchsrisiko wesentlich höher ist, wenn der*die Sicherheitsverwahrte in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen nicht durch Hand- oder Fußfesseln eingeschränkt wird. 

(4) Angemessenheit

Zuletzt müssten die Rechtsgrundlagen auch angemessen erscheinen. Die Schwere des Eingriffs ist insoweit mit der Dringlichkeit und Gewichtigkeit des verfolgten Ziels abzuwägen. Bei einer Fesselungsanordnung handelt es sich um einen gewichtigen Eingriff in das durch Art. 2 I i.Vm. Art. 1 I GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht.[11]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 24. Für die Angemessenheit der Norm spricht jedoch, dass § 69 VIII GRVF hohe Anforderungen an die Durchführung der Fesselung stellt, die z.B. grundsätzlich nur entweder an Händen oder Füßen zu erfolgen und den Gefangenen zu schonen hat. Die Fesselung ist nach § 69 VIII 3 GRVF auf das (zeitlich) unbedingt erforderliche Minimum zu beschränken.[12]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 29. Außerdem handelt es sich ausweislich § 69 I GRVF um eine Ermessensvorschrift („können […] angeordnet werden“), sodass der Verwaltung Spielraum zukommt, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Fesselung angeordnet wird. Insgesamt ist daher von der Angemessenheit der § 69 GRVF i.V.m. § 69 SVVG auszugehen.

Anmerkung:Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage
Das BVerfG prüft die Verfassungsmäßigkeit der zugrundeliegenden Normen nicht, sondern beschäftigt sich ausschließlich mit der Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts. In der Prüfung muss aber, sofern es keine entgegenstehenden Sachverhaltsangaben gibt, beides geprüft werden. Da zu den Rechtsgrundlagen an sich aber wenige Informationen enthalten sind und der Schwerpunkt auf der Anordnung gegenüber B liegt, kann die Prüfung hier kürzer ausfallen.
bb) Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts

Weiterhin müsste auch die Fesselungsanordnung in Bezug auf B verfassungskonform ergangen sein. Auch hier gelten die Grundsätze der Verhältnismäßigkeitsprüfung.

(1) Legitimes Ziel

Die Maßnahme dient dem Schutz der Allgemeinheit und des B selbst (s.o.).

(2) Geeignetheit

Die Maßnahme mindert zumindest das Risiko der Ausbruchsgefahr und ist damit geeignet (s.o.)

(3) Erforderlichkeit

Auch hier ist an eine Überwachung von Justizbediensteten zu denken. Eine solche Lösung stößt mit Blick auf die gleiche Geeignetheit aber auf Bedenken.

(4) Angemessenheit

Die Anordnung in Bezug auf B müsste zuletzt auch angemessen sein. Grundsätzlich handelt es sich bei der Fesselung um einen schweren Eingriff. Bei der Bestimmung des konkreten Gewichts des Eingriffs im Einzelfall spielen neben der mit einer sichtbaren Fesselung einhergehenden stigmatisierenden Wirkung und der Dauer und konkreten Durchführungsart der Fesselung auch etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen des Gefangenen, sein Alter sowie der Umstand eine Rolle, ob er durch sein Verhalten Veranlassung zu der Fesselung gegeben hat.[13]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 26.

(a) Maßstab des EGMR

Diese Wertungen liegen auch der Rechtsprechung des EGMR zugrunde, der Fesselungen an Art. 3 der EMRK misst.[14]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 27. Die Gewährleistungen der Konvention beeinflussen die Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes.[15]BVerfG, NJW 2004, 3408. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des EGMR dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt.[16]Vgl. auch Art. 53 EMRK. Dies ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, weshalb das Grundgesetz nach Möglichkeit so auszulegen ist, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht. Das Grundgesetz verpflichtet die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24 GG) und auf die europäische Integration (Art. 23 GG).[17]BVerfG, NJW 2004, 3408. Insofern ist die Rechtsprechung des EGMR hier bei der Abwägung heranzuziehen.

Der EGMR hat bestimmt, dass bei Fesselungen die individuelle Vorgeschichte und der Gesundheitszustand des betroffenen Gefangenen sowie etwaiges gefährliches Vorverhalten in der Haft berücksichtigt werden müssen.[18]EGMR, Shlykov and others v. Russia, Urteil v. 19.01.2021, Nr. 78638/11, paras. 72 ff.; BVerfG, BeckRS 2023, Rn. 27. Auch die Dauer und öffentliche Wahrnehmbarkeit der Fesselung spielt nach Ansicht des EGMR eine Rolle – jedenfalls ist die mit der Fesselung verbundene Zwangsanwendung auf das unausweichliche Maß zu beschränken.[19]EGMR, Shlykov and others v. Russia, Urteil v. 19.01.2021, Nr. 78638/11, para. 72. Maßgeblich zu berücksichtigen ist, ob die Fesselung angeordnet wurde, obwohl der Gefangene durch sein Verhalten während der Haft in der Vergangenheit keinen Grund zu Beanstandungen gegeben hat.[20]EGMR, Shlykov and others v. Russia, Urteil vom 19.01.2021, Nr. 78638/11, paras. 72 ff.; Kashavelov v. Bulgaria, Urteil v. 20.01.2011, Nr. 891/05, paras. 38 ff.; Salakhov and Islyamova v. Ukraine, … Continue reading Insofern kann z.B. das routinemäßige und anlasslose Fesseln eines Gefangenen, der sich in einer gesicherten Umgebung befindet, nicht gerechtfertigt werden.[21]EGMR, Kashavelov v. Bulgaria, Urteil v. 20.01.2011, Nr. 891/05, para. 39 f.

(b) Anwendung dieser Grundsätze auf den B

Insofern ist anzumerken, dass die Fesselungsanordnung im ersten Schritt pauschal erging und in Bezug auf B nicht individuell begründet wurde. Die Fesselung dauerte insgesamt über 96 Stunden an, sodass insoweit von einer erheblichen Dauer auszugehen ist. Für die Angemessenheit kann zwar angeführt werden, dass die Fesselung jeweils abwechselnd an Hand- oder Fußgelenken erfolgte. Dem steht jedoch gegenüber, dass eine besondere gesundheitliche Vulnerabilität vorlag. Dass eine angesichts der gesundheitlichen Belastungen des Beschwerdeführers gebotene besondere Rücksichtnahme und eine periodische Überprüfung seines Zustands erfolgt wäre, ist nicht ersichtlich.[22]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 36.

Auch wurde nicht dargelegt, ob alle anderen Maßnahmen, welche die Fesselungsanordnung nach Art und Dauer hätten beschränken können, ausgeschöpft wurden.[23]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 35. Ein*e Gefangene*r kann zwar nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grundrechtlichen Freiheiten innerhalb des Vollzugs zu vermeiden; hier hätte es angesichts der mehrtägigen Verweildauer im Krankenhaus aber nahegelegen, die Fesselung jedenfalls phasenweise auszusetzen und – eine Gefahr des Entweichens unterstellt – in diesen Zeiträumen gegebenenfalls die Zahl der beaufsichtigenden Vollzugsbeamten zu erhöhen.[24]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 35. Dies gilt zum Beispiel auch für den Transport, da B zu dieser Zeit räumlich getrennt in einer gesicherten Transportbox saß und Justizbedienstete gleichsam vor Ort waren. Wieso in diesen Phasen eine zusätzliche Fesselung notwendig war, wird nicht ersichtlich.

Erschwerend kommt hinzu, dass B die Fesselung als von seinem Verhalten in Haft unabhängig und daher als von ihm nicht zu beeinflussen erlebt.[25]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 36. Sein zuvor beanstandungsfreies Vollzugsverhalten und die ihm attestierten Erkrankungen, die ausweislich der Auskunft der Anstaltsärztin ein Entweichen jedenfalls erschwerten, hätten im Rahmen der Ermessensausübung in gewichtigem Maße berücksichtigt werden müssen.[26]BVerfG, BeckRS 2023, 2734, Rn. 36. Insgesamt ist die Fesselung des B daher als unangemessen und daher unverhältnismäßig anzusehen.

4. Zwischenergebnis

Der Eingriff in das APR ist nicht gerechtfertigt.

III. Verletzung von Art. 2 II 1 Alt. 2 GG

Darüber hinaus könnte ein ungerechtfertigter Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des B vorliegen.

1. Schutzbereich

Persönlich schützt Art. 2 II 1 Alt. 2 GG alle natürlichen Personen, also auch B. Sachlich wird die körperliche Integrität im biologisch-physiologischen Sinne und das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht von Art. 2 II 1 Alt. 2 GG erfasst.[27]Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. 2023, § 28 Rn. 4. Die Fesselung löst körperliche Schmerzen bei B aus und beeinträchtigt sein Wohlbefinden. Der Schutzbereich ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Ein klassischer Eingriff liegt vor (s.o.).

3. Rechtfertigung

a) Schranke

Gem. Art. 2 II 3 GG können Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit auf Grund eines Gesetzes gerechtfertigt werden. Es handelt sich um einen einfachen Gesetzesvorbehalt, der mit den §§ 69 I, II Nr. 6 GRVF, 69 SVVG erfüllt ist. 

b) Schranken-Schranke
aa) Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage

Von der formellen Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage ist auszugehen (s.o.). Hinsichtlich der materiellen Verfassungsmäßigkeit, also insbesondere der Verhältnismäßigkeit, ergeben sich keine anderen Erwägungen als in Bezug auf das APR. Eine Fesselung kann einen schwerwiegenden Eingriff darstellen –  insbesondere, wenn eine Fesselung länger andauert und potentiell starke Schmerzen hervorruft. Die Rechtsgrundlage stellt aber hohe Anforderungen an die Fesselung, sodass die Norm insgesamt für angemessen und verhältnismäßig zu befinden ist.

Anmerkung: Schwere des Eingriffs
Eine Fesselung kann grundsätzlich immer schmerzhaft sein und damit auch in Art. 2 II 1 Alt. 2 GG eingreifen. Die besondere Schwere des Eingriffs ergibt sich hier aber gerade aus den gesundheitlichen Vorerkrankungen des B. Diese müssen bei der abstrakten Prüfung aber noch unberücksichtigt bleiben und können allenfalls anekdotisch herangezogen werden.
bb) Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts

Die Fesselungsanordnung bezüglich B dürfte nicht unverhältnismäßig in Bs Recht auf körperliche Unversehrtheit eingegriffen haben. In Bezug auf die Angemessenheit ist anzumerken, dass B ausweislich des Sachverhalts keine langanhaltenden bzw. nachhaltigen Schäden davon getragen hat. Auch handelt es sich nicht um einen medizinisch risikoreichen Eingriff. B merkte an, dass die durch die Fesselung hervorgerufenen Schmerzen sein allgemeines Wohlempfinden und seinen Schlaf beeinträchtigt hätten. Insoweit wiegt der Eingriff weniger schwer als in Bezug auf das APR. Da es sich aber bei B nicht um einen an sich gesunden Menschen handelt, sondern er vielmehr unter vielfältigen Vorerkrankungen leidet, muss seine gesundheitliche Vulnerabilität besonders berücksichtigt werden. Nicht zuletzt ist sein Ausbruchsrisiko gerade wegen seiner Krankheit laut Stationsärztin gemindert, was gegen eine herausragende Dringlichkeit des verfolgten Ziels spricht. Insofern muss das besondere Sicherungsbedürfnis auch hier zurücktreten. Die Fesselungsanordnung in Bezug auf B ist daher unangemessen.

Anmerkung: Andere Ansicht
Gerade da das BVerfG sich nicht eindeutig zu Art. 2 II 1 Alt. 2 GG geäußert hat, ist eine andere Ansicht hier mit entsprechender Begründung vertretbar.

4. Zwischenergebnis

Der Eingriff in Bs körperliche Unversehrtheit ist nicht gerechtfertigt.

IV. Zwischenergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG und Art. 2 II 1 Alt. 2 GG begründet. 

C. Ergebnis

Die Verfassungsbeschwerde des B hat Erfolg.

Zusatzfragen

1. Angenommen B wäre nicht gefesselt, sondern fixiert worden: Wie ändert sich der Prüfungskanon in der Begründetheit?
Bei einer Fixierung, insbesondere bei einer sog. 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung, werden die Gliedmaßen einer Person durch Gurte an einem Bett oder an einer anderen vergleichbaren Liege so gefesselt, dass die Person sich nicht aufrichten, oder Arme und Beine bewegen kann. Insofern liegt eine vollständige Aufhebung der Bewegungsfreiheit vor. Anders als bei Fesselungen kommt daher zusätzlich eine Verletzung des Art. 2 II 2 GG in Betracht. Art. 2 II 2 GG ist betroffen, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich wäre. Dies gilt auch bei Inhaftierten oder Sicherheitsverwahrten: Zwar ist ihre Bewegungsfreiheit an sich schon beschränkt, so stellt die Fixierung sämtlicher Gliedmaßen auch im Rahmen eines bereits bestehenden Freiheitsentziehungsverhältnisses wegen ihrer besonderen Eingriffsintensität eine eigenständige Freiheitsentziehung dar.[28]BVerfG, NJW 2018, 2621, Rn. 69. Die Maßnahmen weisen eine Eingriffsqualität auf, die von der richterlichen Haftanordnung nicht mehr gedeckt ist und eine Einordnung als eigenständige Freiheitsentziehung rechtfertigt.[29]BVerfG, NJW 2018, 2621, Rn. 70. Insofern handelt es sich nicht nur um eine Freiheitsbeschränkung, sondern sogar um eine Freiheitsentziehung, als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung, da die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird. In diesem Fall greift der Richtervorbehalt des Art. 104 II 1 GG.

Daher muss im Eingriff schon zwischen Freiheitsbeschränkung und -entziehung differenziert werden, damit auf Ebene der Rechtfertigung die besonderen Schrankenbestimmungen des Art. 104 II GG geprüft werden können.

2. Können sich juristische Personen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen?
Grundsätzlich können sich inländische, juristische Personen des Privatrechts auf alle Grundrechte berufen, die dem Wesen nach auf sie anwendbar sind, Art. 19 III GG.[30]Vgl. zur Sonderproblematik bei juristischen Personen des öffentliches Rechts: Epping, Grundrechte, 10. Aufl. 2024, Rn. 161 ff. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG hat unmittelbaren Bezug zur Menschenwürde, die ihrerseits an das Menschsein anknüpft.[31]Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Auflage 2023, § 27 Rn. 11. Insofern können sich juristische Personen nur auf die Teile des allgemeinen Persönlichkeitsrechts berufen, die nicht direkt an die Menschenwürde anknüpfen (So z.B. die Intimsphäre, postmortaler Persönlichkeitsschutz) und daher korporativ ausgeübt werden können.[32]Epping, Grundrechte, 10. Aufl. 2024, Rn. 627. Dazu gehört unter anderem das Recht am eigenen Wort und die informationelle Selbstbestimmung.[33]Manssen, Staatsrecht II, 19. Aufl. 2022, Rn. 291; Epping, Grundrechte, 10. Aufl. 2024, Rn. 627.

Zusammenfassung

1. Bei einer Fesselungsanordnung handelt es sich um einen gewichtigen Eingriff in das APR aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG.

2. Eine Vollzugspraxis, die von einer individuellen Prüfung der Flucht- bzw. Missbrauchsgefahr absieht und nur gefesselte Ausführungen erlaubt, ist verfassungsrechtlich unzulässig. Besondere Sicherungsmaßnahmen über einen längeren Zeitraum bedürfen, auch mit Blick auf die EMRK, einer besonders strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Eine über 96 Stunden andauernde Fesselung überschreitet insofern das zulässige Maß.

[+]

Schreibe einen Kommentar