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Verbot von Wahlplakaten: "Hängt die Grünen"

OVG Bautzen, Beschl. v. 21.9.2021 – 6 B 360/21, NVwZ 2021, 1717

Sachverhalt – abgewandelt und gekürzt

Die zur Bundestagswahl zugelassene rechtsextreme Kleinstpartei der „III. Weg“ (W) hängt Wahlplakate in grüner Farbe im Stadtgebiet der Stadt C an einer vielbefahrenen Straße auf. Dort steht in großer – auch von weitem einfach zu lesender – Schrift: „HÄNGT DIE GRÜNEN!“. Hierunter steht in deutlich kleinerer Schrift (ca. 2 CM groß): „Macht unsere Partei durch Plakatwerbung in unseren Parteifarben bekannt!“  Darunter stehen weitere Hinweise auf die W-Partei.

Die auch zur Bundestagswahl zugelassene Partei „Bündnis 90/die Grünen“ (G) will gegen diese Plakate vorgehen. Die Grundaussage „Hängt die Grünen!“ müsse als Aufruf zu einer Straftat (§ 111 StGB) gewertet werden und beziehe sich eindeutig auf die Mitglieder der G-Partei. Dieser sei durch die deutlich kleineren Zusätze nur mehr schlecht als recht kaschiert. Darin liege auch ein Verstoß gegen § 130 StGB jedenfalls ein Verstoß gegen § 118 OWiG. Deshalb müsse der W-Partei verboten werden diese Plakate zu nutzen.

Die W-Partei wehrt sich gegen diesen Vorwurf. Sie meint, Ziel von Plakataktionen sei es gerade auf sich aufmerksam zu machen. Im speziellen sei das Ziel Personen für den in vielerlei möglichen Wegen interpretierbaren Spruch auf das Plakat aufmerksam zu machen und sie aufzufordern Plakate für die W-Partei aufzuhängen. Die Meinungsfreiheit schütze gerade auch Aussagen, die mehrdeutig, polemisch und spitzfindig sind. Auch erlaube der politische Meinungskampf den Einsatz von spitzfindigen Formulierungen. Gerade kleinere Parteien, die (bisher) nicht in Parlamenten verankert seien, müssten so auf sich aufmerksam machen dürfen. Die Chancengleichheit der Parteien verbiete es jedenfalls wegen einem möglichem, aber unbeabsichtigten Verstoß gerade gegen Ordnungswidrigkeiten „zu schnell“ ein Verbot zu verfügen.

Nachdem sich die Behörde die Meinung der W-Partei angehört hat, erlässt die zuständige Behörde der Stadt C einen schriftlichen Bescheid, der der W zugestellt wird und sofort vollziehbar ist. Sie gibt der Partei auf die Plakate binnen 3 Tagen abzuhängen. Es läge ein Verstoß gegen § 12 SächsPBG[1]die polizeiliche Generalklausel des Landes Sachsen. Ähnliche Vorschriften finden sich in allen Polizeigesetzen der Länder. Beispielsweise: § 8 PolG NRW, Art. 11 PAG,  11 NPOG, etc. vor. Die sofortige Vollziehung wird vor allem damit begründet, dass der Wahlkampf nicht länger beeinträchtigt werden dürfe und dieser bald endet. Bei einer Nichtvollziehung wird eine Ersatzvornahme durch die Behörde auf Kosten der W-Partei (250 €) angekündigt.

Die W-Partei will so schnell wie möglich gegen den Bescheid der Behörde vorgehen, damit sie das Plakat weiter während des Wahlkampfs weiter nutzen kann. Mit Erfolg?

Anmerkung: Prüfung der Straf-Vorschriften
In den meisten Bundesländern sind die Vorschriften §§ 118 OWiG, 111, 130 StGB nicht Teil des Prüfungsstoffes für die Examensklausuren im Strafrecht. Falls das bei Ihnen auch so sein sollte, können Sie davon ausgehen, dass der Tatbestand des § 130 StGB erfüllt ist. Eine ausführliche Befassung folgt unten.


Skizze

B. Begründetheit

Gutachten

Das gerichtliche Vorgehen der W-Partei könnte Aussicht auf Erfolg haben, wenn diese einen zulässigen und begründeten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 V VwGO stellt.

A. Zulässigkeit

Zunächst müsste der Antrag der W-Partei zulässig sein.

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Der Verwaltungsrechtsweg müsste eröffnet sein, § 40 VwGO. Wenn keine aufdrängende Sonderzuweisung vorliegt, müsste es sich bei dem zugrundeliegenden Sachverhalt um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht-verfassungsrechtlicher Art handeln und es dürfte keine abdrängende Sonderzuweisung vorliegen.

Eine aufdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich.

Eine Streitigkeit ist nach der modifizierten Subjektstheorie öffentlich-rechtlich, wenn die streitentscheidende Norm eine solche des öffentlichen Rechts ist, also einen Hoheitsträger berechtigt oder verpflichtet. Die streitentscheidende Norm ist die polizeiliche Generalklausel § 12 SächsPBG, welche die Behörden berechtigt Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die Öffentliche Sicherheit und Ordnung zu ergreifen. Damit liegt eine Norm des öffentlichen Rechts vor und es handelt sich folglich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit.

Die Streitigkeit ist auch nicht-verfassungsrechtlicher Art, da sich mit der Stadt C und der W-Partei nicht zwei Verfassungsorgane um Verfassungsrecht (doppelte Verfassungsunmittelbarkeit) streiten.

Eine abdrängende Sonderzuweisung ist ebenfalls nicht ersichtlich.

Der Verwaltungsrechtsweg ist gem. § 40 I S. 1 VwGO eröffnet.

II. Statthafte Antragsart

Die W-Partei müsste einen statthaften Antrag wählen. Dafür ist das Interesse des Antragsstellers auszulegen, § 88 VwGO analog. Die W-Partei will die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Anfechtungswiderspruchs (§ 68 I 1 VwGO) bzw. einer Anfechtungsklage (§ 42 I Alt. 1 VwGO) erreichen und damit im Wege des Eilrechtsschutzes gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung vorgehen. Dafür kann die W-Partei einen Antrag nach § 80 V S. 1 HS. 1 VwGO stellen.

III. Antragsbefugnis

Weiter müsste die Antragsbefugnis nach § 42 II analog vorliegen. Antragsbefugt ist demnach wer geltend macht durch den angegriffenen Rechtsakt[2]hier die sofortige Vollziehung. in seinen Rechten verletzt zu sein. Ist dies nicht bereits von vornherein ausgeschlossen, liegt die Antragsbefugnis vor. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass die W-Partei durch die sofortige Vollziehung in ihrer Meinungsfreiheit oder dem Recht auf Chancengleichheit im Wahlkampf aus Art. 21 GG verletzt ist. Die Antragsbefugnis liegt vor.

IV. Antragsgegner

Die W-Partei müsste den richtigen Antragsgegner wählen, § 78 VwGO analog. Der Rechtsträger der hier handelnden Behörde ist die Stadt C. Gegen sie ist der Antrag zu richten.

V. Beteiligten- und Prozessfähigkeit

Die Verfahrensbeteiligten müssten gem. § 61 VwGO beteiligten- und gem. § 62 VwGO Prozessfähig sein. Die W-Partei ist gem. § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO beteiligten- und können durch die gesetzlichen Vertreter gem. § 62 III VwGO Prozesshandlungen vornehmen. Die Stadt C ist gem. § 61 Nr. 2 VwGO beteiligtenfähig und gem. § 62 III VwGO im Verfahren durch den gesetzlichen Vertreter fähig Verfahrenshandlungen vorzunehmen.

VI. Rechtsschutzbedürfnisegalität

Weiter müsste die W-Partei auch ein Rechtsschutzbedürfnis haben. Dafür dürften der W-Partei keine einfacheren Mittel zur Verfolgung des Antragsinteresses zur Verfügung stehen und die Hauptsache dürfte nicht unzulässig sein.

1. Erhobene Anfechtungsklage

Nicht notwendig ist die vorhergehende Erhebung einer Anfechtungsklage, wie § 80 V 2 VwGO ausdrücklich klarstellt.

2. Erhobener Widerspruch

Die W-Partei hat kein Vorverfahren durchgeführt. Doch dies müsste zunächst erforderlich sein. Es ist umstritten, ob vor der Stellung eines Antrags nach § 80 V VwGO ein Vorverfahren (Widerspruch) nach § 80 IV VwGO bei der Widerspruchsbehörde eingelegt worden sein muss.

Dafür spricht zunächst, dass durch ein obligatorisches Widerspruchsverfahren die Gerichte entlastet werden können und die Behörde die Möglichkeit erhält ihre Entscheidung zu überdenken.

Dagegen spricht jedoch, dass § 80 VI VwGO ausdrücklich anordnet, dass bei Verfahren nach § 80 II Nr. 1 VwGO (Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten) ein vorhergehendes behördliches Widerspruchsverfahren Voraussetzung ist. Dass der Gesetzgeber in Bezug auf die anderen Regelungsgehalte in § 80 II Nr. 2 – 4 VwGO keine entsprechende Regelung getroffen hat, legt den Schluss nahe, dass nur in den Fällen des § 80 II Nr. 1 VwGO ein Widerspruchsverfahren vorherzugehen hat. Dementsprechend ist ein Vorverfahren nicht erforderlich.

Außerdem ist die Wiederherstellung der aufschiebenden Bedingung nur für einen bereits bestehenden Rechtsakt möglich. Dagegen spricht jedoch, dass sich aus dem Wortlaut eine Ungleichbehandlung der Fälle ergeben würde, in denen ein behördliches Vorverfahren nicht notwendig ist. Jedenfalls hat die W-Partei jedoch noch die Möglichkeit einen Wiederspruch einzulegen.

3. Keine offensichtliche Unzulässigkeit in der Hauptsache

Die in der Hauptsache zu erhebende Anfechtungsklage bzw. der Widerspruch dürfte nicht unzulässig sein. Hier ergeben sich jedoch keine entsprechenden Anhaltspunkte.

VII. Zwischenergebnis Zulässigkeit

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist jedenfalls zulässig, wenn die W-Partei bei der zuständigen Behörde einen Widerspruch erhebt.

B. Begründetheit

Der Antrag ist begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtswidrig war und / oder bei einer summarischen Prüfung das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Allgemeinheit überwiegt. Letzteres richtet sich nach den Erfolgsaussichten der Hauptsache und ob das besondere Vollzugsinteresse besteht.

I. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit

Zunächst muss die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtmäßig ergangen sein, § 80 II 1 Nr. 4 VwGO.

1. Zuständigkeit der Behörde

Dafür müsste die Behörde, die die sofortige Vollziehung angeordnet hat, auch zuständig sein. Die Behörde, die für den VA zuständig ist, ist auch für die Anordnung der sofortigen Vollziehung zuständig. Die zuständige Behörde handelte.

2. Verfahren

Weiter müsste das Verfahren bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung gewahrt worden sein.

a) Anhörung

Fraglich ist, ob die Behörde eine gesonderte Anhörung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 28 I VwVfG hätte durchführen müssen. Da § 28 I VwVfG diese Voraussetzung nur für Verwaltungsakte vorsieht, ist entscheidend ob es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung selbst um einen Verwaltungsakt handelt.[3]Dazu eindeutig: Gersdorf in Posser/Wolff BeckOK VwGO, 59. Ed. Stand 01.07.2021, § 80, Rn. 71, 80. Dagegen spricht jedoch, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit keinen eigenen Regelungsgehalt hat, sondern lediglich die Vollziehung der Regelung des Hauptverwaltungsakts ermöglichen soll.

Dem wird entgegengehalten, dass die Eingriffsintensität durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung neben den Inhalt des Verwaltungsakts tritt und deshalb eine eigene Eingriffsintensität ausmacht. Ohne eine Anhörung beschneide man hier die Betroffenen in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 IV GG. Eine analoge Anwendung von § 28 I VwVfG sei dementsprechend notwendig.

Dem wiederum wird entgegen gehalten, dass die Voraussetzungen für eine Analogie bereits nicht vorlägen. In § 80 III VwGO seien die formellen Anforderungen abschließend geregelt.

Würde man die Anordnung der sofortigen Vollziehung wie einen Verwaltungsakt behandeln ergäbe sich außerdem das Problem, dass die Anordnung selbst im Rahmen eines Widerspruchs- und Klageverfahren angreifen könnte, was wiederum die Frage stellen würde, ob Widerspruchs- und Klageverfahren eine aufschiebende Wirkung entfalteten. Das kann jedoch nicht vom Gesetzgeber gewollt sein.  

Damit sind die Voraussetzungen für das Vorliegen eines VA nicht erfüllt.[4]ebd. § 80, Rn. 71, 80. Zu den vielfältigen, aber nicht durchdringenden Gegenstimmen: ebd. Rn. 79. Eine Anhörung ist nicht notwendig.

b) Begründung

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung müsste ordentlich begründet sein, § 80 III VwGO. Dazu ist es erforderlich, dass über das Interesse an dem Erlass des Verwaltungsaktes selbst das Interesse an der sofortigen Vollziehung begründet wurde.[5]Gersdorf in Posser/Wolff BeckOK VwGO, 59. Ed. Stand 01.07.2021, § 80, Rn. 86 ff. Dafür ist es nicht ausreichend, wenn lediglich formelhafte Formulierungen verwendet werden oder auf das Interesse am Erlass des Verwaltungsaktes abgestellt wird.

Hier hat die Behörde eine über das Interesse am Erlass des Verwaltungsaktes hinausgehende Begründung gegeben, welche auch die Bedeutung des Einzelfalls in den Blick nimmt. In formeller Hinsicht sind damit die Voraussetzungen von § 80 III VwGO erfüllt.

3. Zwischenergebnis formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung

Die sofortige Vollziehung ist formell rechtmäßig angeordnet worden.

II. Interessenabwägung

Im Rahmen der Interessenabwägung sind zunächst die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu prüfen, sowie – danach – die materielle Interessenabwägung.

1. Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache

Weiterhin sind summarisch die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu prüfen. Die hängen von der von der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes ab.

a) Rechtsgrundlage

Die Rechtsgrundlage besteht in § 12 SächsPBG.

b) Formelle Rechtmäßigkeit des VA

Der Verwaltungsakt müsste formell rechtmäßig ergangen sein.

Die handelnde Behörde ist laut Sachverhalt die örtlich und sachlich zuständige Behörde. Außerdem hat die Behörde die nach § 28 I VwVfG erforderliche Anhörung durchgeführt und den schriftlichen Verwaltungsakt (§ 37 II, III VwVfG) mit einer Begründung versehen, § 39 I VwVfG.  Der Verwaltungsakt ist damit formell rechtmäßig ergangen.

c) Materielle Rechtmäßigkeit des VA

Der Verwaltungsakt müsste weiterhin materiell rechtmäßig sein.

aa) Erfüllung des Tatbestands der Rechtsgrundlage

Der Verwaltungsakt ist auf § 12 SächsPBG gestützt. Die polizeiliche Generalklausel ermöglicht ein behördliches Tätigwerden zur Gefahrenabwehr, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegt. Die öffentliche Sicherheit umfasst Individualrechtsgüter gleichermaßen wie die gesamte Rechtsordnung und den Bestand und die Funktionen des Staates und seiner Einrichtungen.[6]BVerfG NJW 1985, 2395, 2398.

Hier meint die Behörde, dass ein möglicher Verstoß gegen § 118 OWiG, § 111 StGB und § 130 StGB vorliegen könnte. Darin könnte eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit liegen.

Bei einem möglichen Verstoß gegen ein Strafgesetz reicht aufgrund der präventiven Ausrichtung des Polizeirechts die Erfüllung des objektiven Tatbestands bereits für die Erfüllung des Tatbestands der öffentlichen Sicherheit bzw. der polizeilichen Generalklausel aus.[7]OVG Bautzen NVwZ 2021, 1716, 1718, Rn. 20.

(1) verfassungskonforme Betrachtung des Tatbestands unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit

Fraglich ist, ob nicht die herausragende Bedeutung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I GG, die gerade auch den politischen Meinungskampf schützt, eine andere – weiteren Spielraum belassende – Auslegung der polizeilichen Generalklausel notwendig macht. Dies könnte nötig sein, um der Meinungsfreiheit eine ausreichende Reichweite zu verschaffen. Die W-Partei kann sich auch auf die Meinungsfreiheit berufen.

(a) Objektiver Sinn der Äußerung

Zunächst ist es in tatsächlicher Hinsicht notwendig den Sinn einer Äußerung zutreffend zu erfassen.[8]OVG Bautzen NVwZ 2021, 1716, 1719, Rn. 22 mit Verweis auf BVerfG NJW 1996, 1529. Ziel ist es den objektiven Sinn einer Äußerung zu ermitteln, also den Inhalt der Äußerung wie ihn ein unvoreingenommenes und verständiges Publikum objektiv hat. Unerheblich ist die subjektive Absicht des Äußernden und des Betroffenen.[9]OVG Bautzen NVwZ 2021, 1716, 1719, Rn. 22 mit Verweis auf BVerfG NJW 1995, 3303. Dafür ist zunächst der Wortlaut der Äußerung in Betracht zu ziehen, sowie die Begleitumstände und der Kontext der Äußerung. Dies gilt insbesondere für schlagwortartig zusammengefasste Äußerungen. Ergibt eine derartige Betrachtung eine mehrdeutige Aussage, kann eine Sanktion daran nur geknüpft werden wenn zunächst alle sanktionslosen Bedeutungen mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen wurden.[10]BVerfG NJW 1990, 1980, 1981; BVerfG BeckRS 2019, 9652.

Hier ist zunächst zu beachten, dass die Mehrzahl der vorbeigehenden und der in Autos vorbeifahrenden Passanten nur den auffälligen Schriftzug „HÄNGT DIE GRÜNEN!“ wahrnehmen werden. Wegen der darstellerisch hervorgehobenen Stellung dieses (durch das Ausrufezeichen abgeschlossenen) Satzes wird diesem von den meisten auch ein alleinstehender Sinn und Inhalt zugesprochen werden. Die überwiegende Mehrheit wird den weiteren Inhalt „Macht unsere nationalrevolutionäre Bewegung durch Plakatwerbung in unseren Parteifarben in Stadt und Land bekannt!“ nicht wahrnehmen oder gar wahrnehmen können. Selbst Fußgänger, die in einiger Entfernung an dem Plakat vorbeigehen, können den deutlich kleineren Satz nicht mehr entziffern.

Die meisten Personen werden die Aussage auch auf die Mitglieder der umgangssprachlich als „die Grünen“ bezeichneten Partei „Bündnis 90 / die Grünen“ beziehen, gerade auch weil der Parteiname die Worte selbst enthält. Dass die W-Partei Grün als Parteifarbe hat, ist den meisten Menschen nicht bekannt. Es gibt auch keinen Sprachgebrauch, in dem die W-Partei als grün bezeichnet wird. Eine Interpretation der Aussage, so wie sie die W-Partei verstanden wissen will, ist aber ohne den kleingedruckten Verweis auf die Plakate der W-Partei fernliegend und wird von der Mehrheit nicht so verstanden werden.

Auch die Verwendung des Verbs „hängen“ ist für das Anbringen von Plakaten nicht gebräuchlich. „Plakate kleben“ oder „Plakate aufhängen“ sind hier gebräuchlicher. Jemanden „zu hängen“ wird jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch als jemanden zu erhängen verstanden.[11]zu der Interpretation der Aussage: OVG Bautzen NVwZ 2021, 1716, 1719, Rn. 23.

(b) Weitere Anforderungen

Die polemische und überspitze Auseinandersetzung (gerade im politischen Meinungskampf) ist vom Schutzbereich des Art. 5 I GG umfasst.[12]BVerfG, NJW 2009, 3503, 3503 Rz. 3. Doch allgemeine Gesetze, wie Strafgesetze, die ausnahmsweise die Meinungsäußerung unter Strafe stellen (wie §§ 185, 111, 130, 86a, 90a, 90b StGB) sind zugleich einfachgesetzliche Schranken der Meinungsfreiheit.

Hier erlangt der Begriff des allgemeinen Gesetzes (Art. 5 II GG) besondere Bedeutung, weil eine Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Gesetze, die Sonderrecht gegen einzelne Parteiausrichtungen enthalten, keine Rechtsgrundlage für einen Eingriff in den politischen Meinungskampf wie hier sein könnten.[13]OVG Bautzen NVwZ 2021, 1716, Rn. 20.

Vernetztes Lernen: Es gibt auch Strafgesetze, die die Anforderungen an die „Allgemeinheit“ der Gesetze nicht erfüllen. Welche sind das und wie kann dies gerechtfertigt werden?
Es gibt Strafgesetze, die stellen die propagandistische Gutheißung der NS-Gewaltherrschaft unter Strafe. Darin liegt die Bestrafung einer spezifischen politischen Ausrichtung.
Diese „Sonderbehandlung“, die jedoch gegen den Wortsinn von allgemeinen Gesetzen eine bestimmte politische Richtung betrifft, wird jedoch damit gerechtfertigt, dass sich das Grundgesetz im Nachgang zur NS-Gewaltherrschaft gerade als Gegenentwurf entwickelt hat. Die historische Verantwortung des deutschen Staates sich gegen den Nationalsozialismus einzusetzen erlaubt auch ein spezifisches Verbot zu Lasten der Meinungsfreiheit.
Daraus ergibt sich auch, dass man diese Ausnahme nicht auf andere Konstellationen übertragen kann: Ein Verbot der Propaganda für das stalinistische Terrorregime würde nicht den Anforderungen an die Allgemeinheit der die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetze entsprechen.

Außerdem muss der Rechtsverstoß evident sein und wesentlich ins Gewicht fallen.[14]ebd.

Sind diese Voraussetzungen eingehalten, ist ein Verstoß gegen ein Strafgesetz auch unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit tauglich, um einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung darzustellen. Die Meinungsfreiheit kann außerdem noch bei der Auslegung des behördlichen Ermessens ausreichende Berücksichtigung finden.

Anmerkung: Prüfung der Straf-Vorschriften
In den meisten Bundesländern sind die Vorschriften §§ 118 OWiG, 111, 130 StGB nicht Teil des Prüfungsstoffes für die Examensklausuren im Strafrecht. Falls das bei Ihnen auch so sein sollte, können sie davon ausgehen, dass der Tatbestand des § 130 StGB erfüllt ist. Eine ausführliche Befassung folgt unten.
(2) 118 OWiG

Zunächst könnte ein Verstoß gegen § 118 OWiG in Betracht kommen. Nach § 118 Alt. 2 OWiG stellt es eine Ordnungswidrigkeit dar, eine Störung der öffentlichen Ordnung zu verursachen. Eine Störung der öffentlichen Ordnung wird angenommen, wenn gegen die ungeschriebenen Verhaltensregeln, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Auffassungen und Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens angesehen wird.[15]Nach: BVerfG NJW 1985, 2395, 2398.

Problematisch ist hieran, dass durch die im Strafgesetzbuch getroffenen Regelungen ausschließlich Meinungsäußerungen, die gegen die enumerativen §§ 185, 111, 130, 86a, 90a, 90b StGB verstoßen, nicht mehr vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst sind.[16]BVerfG NJW 2004, 2814, 2815. Diese Vorschriften zeichnen sich dadurch aus, dass sie in ihrem Tatbestand eindeutig umrissen sind. § 118 Alt. 2 OWiG stellt jedoch eine im Tatbestand offene Vorschrift dar, welche nicht geeignet ist die Reichweite der Meinungsfreiheit eindeutig zu schützen.[17]ebd. Gerade um einen exekutiven Eingriff in die Meinungsfreiheit und die Chancengleichheit der Parteien zu rechtfertigen, reicht ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung aufgrund der ihr inhärenten Fragen zu ihrer Bestimmtheit[18]Dabei kommt es nicht auf die verfassungsrechtlichen Bedenken an. Diese sind auch wegen der über Jahrzehnte entwickelten Rechtsprechung nicht laut.nicht aus.[19]M.w.N.: OVG Bautzen NVwZ 2021, 1717, 1719.

Auf einen Verstoß gegen § 118 OWiG kommt es nicht an.

(3) Öffentliche Aufforderung zu Straftaten

Jedoch könnte ein Verstoß gegen § 111 StGB, die öffentliche Aufforderung zu Straftaten, vorliegen. Nach dieser Norm wird, wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts zu einer rechtswidrigen Tat auffordert, wie ein Anstifter bestraft. Auch eine Aufforderung ohne Erfolg ist strafbar.

Hier könnte eine Aufforderung Parteimitglieder der Grünen zu töten vorliegen, also den Straftatbestand der §§ 212, 211 StGB zu verwirklichen. Das rein wörtliche Verständnis des Plakates schließt dies nicht aus. Voraussetzung ist jedoch, dass die Aussage auch den Eindruck der Ernstlichkeit macht.[20]OVG Bautzen NVwZ 2021, 1717, 1719, Rn. 25. Dies ist bereits fraglich.

Hinzukommt, dass eine plakativ formulierte Herabwürdigung einer Partei und ihrer Mitglieder im politischen Meinungskampf noch keine Aufforderung zu bestimmten Taten darstellen muss.[21]Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 111 Rn. 4 c.

Mithin ist ein Verstoß gegen den Tatbestand des § 111 StGB jedenfalls nicht evident.

(4) Volskverhetzung

In Betracht kommt weiterhin ein Verstoß gegen § 130 I Nr. 1 und 2 StGB, den Tatbestand der Volksverhetzung. Hiernach ist strafbar wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,

1. gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt oder

2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet.

§ 130 StGB setzt voraus, dass eine Person nicht lediglich in ihrer Ehre, sondern auch in ihrer Menschenwürde angegriffen wird. Für die Verwirklichung des Tatbestands ist es erforderlich, dass der angegriffenen Person ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft abgesprochen wird und sie als minderwertiges Wesen behandelt wird. Ein Angriff muss also auf den den menschlichen Wert ausmachenden Kern der Persönlichkeit gerichtet sein.[22]BGH NJW 1994, 1421, 1422.

(a) Richtiger Adressat: Teile der Bevölkerung

Zunächst müsste sich die Aussage an einen tauglichen Adressaten richten. Also müssten „die Grünen“ Teile der Bevölkerung darstellen. Teile der Bevölkerung sind im Inland lebende Personenmehrheiten nicht ganz geringfügiger Größe und Bedeutung, die von der Gesamtheit der Bevölkerung auf Grund äußerer oder innerer Merkmale als unterscheidbare Teile abgegrenzt werden können, wie z.B. Mitglieder politischer Gruppierungen.[23]Heger in Lackner/Kühl, StGB § 130 Rn. 2. Damit sind die Mitglieder der G-Partei ein ausreichend abgrenzbarer Teil der Bevölkerung und können Adressat einer Volksverhetzung sein.

(b) Handlungsform

Weiter müsste eine der Handlungsvarianten des § 130 StGB durch die Aussage erfüllt sein.

Zur Verwirklichung des Tatbestands „Aufstacheln zum Hass“ ist es notwendig, dass nachhaltig auf Sinne und Gefühle anderer mit dem Ziel eingewirkt wird, eine feindselige Haltung, nicht bloße Ablehnung oder Verachtung, zu erzeugen oder zu steigern [24]Fischer, StGB § 130 Rn. 8; Heger in Lackner/Kühl, StGB § 130 Rn. 4.

Die Aussage „HÄNGT DIE GRÜNEN!“ enthält eine eindeutig hervortretende feindselige Haltung, die durch ihre Vortragsweise auch auf die Sinne und Gefühle der Wahrnehmenden einwirken soll. Diese Tatbestandsalternative ist mithin erfüllt.  

Zur Verwirklichung des Tatbestands „Beschimpfen“ ist eine über eine Beleidigung hinausgehende nach Inhalt und Form besonders verletzende Missachtenskundgabe notwendig. Durch den Aufruf jemand anderen zu erhängen, wird auch eine weit über die bloße Ablehnung und Verächtlichmachung hinausgehende Aussage getroffen, die den betroffenen Personen ihr Lebensrecht als gleichwertiger Teil der Bevölkerung abspricht.

Zur Verwirklichung des Tatbestands „böswilliges Verächtlichmachen“ sind Äußerungen nötig, in denen die Betroffenen aus verwerflichen Beweggründen als der Achtung der Bürger unwert oder unwürdig hingestellt werden.[25]Sternberg-Lieben/Schittenhelm in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB, § 130 Rn. 5 d.

Mit der Aufforderung „HÄNGT DIE GRÜNEN!“ wird jedenfalls zum Ausdruck gebracht, dass diese Personengruppe erhängt werden soll, also dass ihnen das Lebensrecht abgesprochen wird. So werden sie als unwert und unwürdig dargestellt.[26]Zur Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale OVG Bautzen NVwZ 2021, 1716, 1719 f. Rn. 27 – 30.

Mithin liegen Handlungen im Sinne von § 130 I Nr. 1 und 2 StGB vor, die auch einen ausreichenden Bezug zur Verletzung der Menschenwürde aufweisen.

(c) Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens

Weiterhin müsste die Aussage auch geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Dafür ist es nicht notwendig, dass eine konkrete Gefahr eintritt.[27]BGH NJW 2001, 624, 627. Notwendig ist aber, dass bei einer generellen Betrachtung eine konkrete Gefahrneigung vorliegt. Diese kann vor allem in einer Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen liegen, deren Angehörigen pauschal der sittliche, personale oder soziale Geltungswert abgesprochen wird und sie – mit dem erforderlichen Angriff auf die Menschenwürde – als „Unperson“ abgestempelt werden.[28]OVG Bautzen NVwZ 2021, 1716, 1720 Rn. 31. Der bereits beschriebene objektive Sinngehalt der Äußerung „HÄNGT DIE GRÜNEN!“ ist geeignet, das psychische Klima zu erhitzen und das Aggressionspotential im sozialen Gefüge zu erhöhen. Dies ist auch gerade vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren erfolgten Übergriffe auf politisch Andersdenkende, wie dem Mord am Regierungspräsidenten Lübcke 2019, und politisch-religiösen Straftaten, wie den Anschlägen in Halle 2019 und Hanau 2020, zu befürchten.

(d) Erfüllung des Objektiven Tatbestands

Der Objektive Tatbestand der Volksverhetzung ist mithin durch die Aussage evident erfüllt. Eine mögliche Verwirklichung des Tatbestands von § 130 II Nr. 1 lit. b und lit. c StGB wird hier von § 130 I StGB verdrängt.[29]BGH NJW 2001, 624, Rn. 45.

(4) Zwischenergebnis: Tatbestand der öffentlichen Sicherheit

Mithin liegt ein evidenter Verstoß gegen § 130 I StGB vor. Eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit i.S.d. polizeilichen Generalklausel des § 12 SächsPBG liegt vor.

(5) Gefahr / Störung

Weil der Tatbestand des § 130 I StGB durch die Plakate mit der Aufschrift „HÄNGT DIE GRÜNEN!“ als erfüllt anzusehen ist, hat sich die Gefahr bereits realisiert und es liegt eine Störung der öffentlichen Sicherheit vor.

(6) Verantwortlichkeit

Die Maßnahme adressiert die W-Partei als Verhaltens- und Zustandsstörer Störer, § 14 I SächsPBG.

(7) Zwischenergebnis: Tatbestand der Rechtsgrundlage

Der Tatbestand der Rechtsgrundlage (§ 12 SächsPBG) ist erfüllt.

bb) Rechtsfolge: Ermessen

§ 12 SächsPBG räumt der Behörde Ermessen ein. Es dürften keine Ermessensfehler vorliegen.

Hier könnte ein Ermessensfehler in Form eines Ermessensfehlgebrauchs vorliegen, wenn der Verwaltungsakt die W-Partei in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 I, II GG oder ihrem Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 GG verletzt.

Anmerkung: Prüfungsstandort Grundrechtsverstoß
Ein möglicher Grundrechtsverstoß kann sowohl als Ermessensfehler als auch eigenständiger Prüfungspunkt nach der Prüfung der Ermessensfehler erfolgen.
(1) Meinungsfreiheit

Hier könnte eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I GG vorliegen.

(a) Schutzbereich der Meinungsfreiheit

Zunächst müsste der Schutzbereich der Meinungsfreiheit eröffnet sein.

(aa) Persönlicher Schutzbereich

In persönlicher Hinsicht umfasst die Meinungsfreiheit sowohl natürliche als auch juristische Personen (über Art. 19 III GG), soweit die Meinungsfreiheit ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist.[30]Schemmer in BeckOK GG/Epping/Hillgruber, 49. Ed. Stand: 15.11.2021, Art. 5 Rn. 2. Politische Parteien sind als juristische Personen geradezu dazu geschaffen, um Meinungsäußerungen zu tätigen. Die W-Partei ist vom persönlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst.

Anmerkung: Wiederholung von Prüfungsinhalten
Bereits zuvor wurde ja die Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Auslegung des Tatbestands diskutiert. Während das Gericht dies als ausreichend ansah, um dem Schutz der Meinungsfreiheit gerecht zu werden, bietet es sich in der Klausur / Falllösung an den Prüfungspunkt sowohl auf Ebene des Tatbestands als auch nochmals in einer zusätzlichen Prüfung an dieser Stelle zu prüfen. Hier an dieser Stelle kann weitgehend nach oben verwiesen werden, aber so kann die Systematik der Grundrechtsprüfung nochmal zweifelsfrei umgesetzt werden.
Da hier schon beim Tatbestand besondere Anforderungen aufgrund dem Schutz der Meinungsfreiheit angenommen wurden, ist auch eine Trennscharfe Abgrenzung von Prüfungsinhalten für den „Anfang“ und das „Ende“ der Klausur nicht möglich.
(bb) Sachlicher Schutzbereich

In sachlicher Hinsicht umfasst der Schutzbereich der Meinungsfreiheit im weitesten Sinne Äußerungen, die durch das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens oder der Beurteilung geprägt sind. Eine Begründung oder gar nachprüfbare Gründe sind nicht erforderlich. Ziel der Meinungsfreiheit ist es, dass jeder sagen und meinen kann, was er will.[31]ebd. Rn. 4.

Die Aussage „HÄNGT DIE GRÜNEN!“ nach dem objektivierten Verständnis (s.o.) enthält ein Werturteil und ist damit vom sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit geschützt.

(2) Eingriff

In der Aufforderung die Plakate abzuhängen, müsste ein Eingriff in den Schutzbereich liegen. Ein Eingriff ist jede Verkürzung des Schutzbereichs. Hier zielt die Maßnahme darauf ab, dass sich die W-Partei nicht mehr in der von ihr für die Plakate gewählten Form äußern kann. Damit liegt ein Eingriff vor.

(3) Rechtfertigung

Der Eingriff könnte jedoch gerechtfertigt sein. 

(a) Schranke

Art. 5 II GG enthält einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, wonach Eingriffe nur gerechtfertigt sind, wenn diese wegen einem Verstoß gegen die allgemeinen Gesetze oder Vorschriften zum Schutz der Jugend oder dem Recht der persönlichen Ehre erfolgen.

Wie zuvor besprochen führt die tatbestandliche Unbegrenztheit von Tatbestandsmerkmalen wie öffentliche Ordnung zu einer unzulässigen unter-Vorbehalt-Stellung der Meinungsfreiheit.[32]Schemmer in BeckOK GG/Epping/Hillgruber, 49. Ed. Stand: 15.11.2021, Art. 5 Rn. 22.

Auch müsste das Gesetz ein allgemeines Gesetz i.S.v. Art. 5 II GG sein.[33]s.o. § 12 SächsPBG i.V.m. § 130 I StGB ist ein allgemeines Gesetz und richtet sich nicht gegen bestimmte Meinungsäußerungen.

(aa) Schranken-Schranke
(aaa) Verfassungsmäßigkeit des eingreifenden formellen Gesetzes

In Bezug auf § 130 StGB bestehen weder in formeller noch in materieller Hinsicht – auch  unter Berücksichtigung der Wechselwirkungslehre – Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit.

Anmerkung: Verfassungsmäßigkeitsprüfung des eingreifenden Gesetzes
Das eingreifende Gesetz muss ausführlich geprüft werden, wenn es sich um ein fiktives oder neu eingeführtes Gesetz handelt. Auch bei Gesetzen, an deren Verfassungsmäßigkeit im Sachverhalt Zweifel geäußert werden ist eine ausführliche Prüfung nötig. Bei Gesetzen die bereits länger tatsächlich bestehen (also die man in seiner Gesetzessammlung im Zweifel dabei hat) ist eine ausführliche Prüfung grundsätzlich nicht nötig.
(bbb) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes

Weiter müsste auch der in Frage stehende Verwaltungsakt die verfassungsrechtlichen Grenzen bewahren und insbesondere verhältnismäßig sein.

(aaaa) Legitimes Ziel

Die Maßnahme muss ein legitimes Ziel verfolgen. Legitim ist ein Ziel, wenn es nicht im Widerspruch zur Verfassung steht. Die Maßnahme, gestützt auf § 12 SächsPBG, verfolgt das Ziel die zur-Schau-Stellung der den Tatbestand von § 130 StGB erfüllenden Aussage auf den Plakaten zu unterbinden. Das Ziel ist legitim.

(bbbb) Geeignetheit und Erforderlichkeit

Zweifel an der Eignung der Maßnahme bestehen nicht. Auch ist keine weniger eingriffsintensive aber gleich geeignete Maßnahme ersichtlich.

(cccc) Angemessenheit

Die Maßnahme müsste angemessen sein. Auf der einen Seite steht hier das Interesse der W-Partei ihre „HÄNGT DIE GRÜNEN!“-Plakate weiter im Wahlkampf zu verwenden. Auf der anderen Seite steht das Interesse eine den Tatbestand des § 130 StGB erfüllende Aussage, die auf die Verächtlichmachung der Mitglieder der G-Partei abzielt zu unterbinden.

Insbesondere ist hier die Wechselwirkungslehre zu beachten, welche vorsieht, dass die die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetze selbst im Lichte der Meinungsfreiheit betrachtet werden müssen, um dieser ausreichende Geltung zu verschaffen.[34]So bereits: BVerfG NJW 1958 257. Dafür müssen die durch das die Meinungsfreiheit einschränkende Gesetz geschützten Interessen im Einzelfall berücksichtigt werden.

Dabei ist auch die Auslegung des mehrdeutigen Wortlauts zu berücksichtigen (s.o.).

Durch die auf § 12 SächsPBG i.V.m. § 130 StGB gestützte Maßnahme soll neben der gesellschaftlichen Friedenssicherung der Schutz der Menschenwürde verfolgt werden. Alle nicht sanktionsbewährten Verständnismöglichkeiten wurden mit einer angemessenen Begründung ausgeschlossen (s.o.). Der Schutz der Meinungsfreiheit kann nicht über den Schutz den Schutz der Menschenwürde hinaus gehen und findet darin schließlich seine Grenze.

Letztlich ist auch unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit das ausgesprochene Verbot aufgrund eines Verstoßes gegen § 130 StGB angemessen.

(4) Ergebnis: Verstoß gegen die Meinungsfreiheit

Der Eingriff ist gerechtfertigt. Eine Verletzung von Art. 5 I, II GG ist nicht ersichtlich.

bb) Chancengleichheit im politischen Meinungskampf

Weiter dürfte auch durch die Maßnahme die Chancengleichheit im politischen Meinungskampf aus Art. 21 GG i.V.m. Art.  3 I GG[35]Siehe zur Herleitung des Grundrechtsschutzes und zur Frage ob es sich um ein Gleichheitsrecht oder ein Freiheitsrecht handelt: Kluth in BeckOK GG /Epping/Hillgruber, 49. Ed. Stand 15.11.2021, Art. 21 … Continue reading nicht verletzt sein.

Während der Schutzbereich in persönlicher und sachlicher Hinsicht eröffnet ist, könnte die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt sein. Dies wäre sie aber, wenn die Ungleichbehandlung an ein nicht-parteienspezifisches Verhalten bzw. Programmatik anknüpft. Es ist jedoch jeder Partei verboten Plakate aufzuhängen, aus denen ein Verstoß gegen § 130 StGB folgt.

Auch ist es der W-Partei weiterhin gestattet in jeder anderen Form Plakatwerbung zu machen. Lediglich die Verwendung des einen Motivs ist untersagt. Mit dieser Argumentation kann bereits an der Ungleichbehandlung der Parteien gezweifelt werden.

(5) Zwischenergebnis: Ermessen

Es liegt kein Ermessensfehler vor.

d) Zwischenergebnis: Erfolgsaussichten in der Hauptsache

Im Ergebnis hat ein Vorgehen in der Hauptsache keine Aussicht auf Erfolg.

2. Materielle Interessenabwägung

Das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt bei einem rechtmäßigen Verwaltungsakt das private Aussetzungsinteresse.

Wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen wären, könnte jedoch auch dann das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegen. Wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen sind, ist eine Folgenabschätzung vorzunehmen. Entscheidend ist dann, ob mit einer im Eilverfahren vom Hauptsacheverfahren abweichenden Entscheidung nicht wieder revidierbare Tatsachen geschaffen werden würden. Würde in der Hauptsache entschieden, dass es sich um eine hinzunehmende Meinungsäußerung handelt, wäre der W-Partei für den verbleibenden Wahlkampf (dann unrichtigerweise) verboten mit diesem spezifischen Slogan Wahlwerbung zu machen. Die von der Stadt für den Wahlkampf erteilte Sondernutzungserlaubnis erlaubt jedoch weiterhin Wahlplakate mit jedem anderen Slogan (so lange diese nicht gegen die die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetze verstoßen) Wahlwerbung zu machen. Eine ausreichende Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien wäre hierin nicht zu befürchten. Zugleich wären bei einem ausbleibenden Verbot die zuvor besprochenen Rechtsverletzungen zu befürchten.[36]OVG NVwZ 2021, 1716, 1720, Rn. 20.

Mithin würde auch bei einem offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens das öffentliche Vollziehungsinteresse überwiegen.

C. Ergebnis

Ein Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz hätte keine Aussicht auf Erfolg.


Zusatzfragen

1. Sind Minister*innen in ihrer Äußerungsbefugnis gegenüber politischen Mitbewerbern begrenzt?
Minister*innen sind in ihrer verfassungsrechtlichen Rolle verpflichtet die Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb aus Art. 21 i.V.m. Art. 3 I / Art. 38 I GG zu wahren. Das ihnen zustehende Recht auf sachliche Informations- und Öffentlichkeitsarbeit erlaubt ihnen als Minister*innen auch Aussagen über politische Mitbewerber zu treffen, solange diese im Rahmen der sachlichen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit verbleiben.

Treten Minister*innen aber in ihrer Rolle als Parteipolitiker*innen auf, können sie sich auch wertend über politische Mitbewerber äußern. Eine derartige Äußerung darf aber nicht auf Mittel zurückgreifen, die ihnen aufgrund des politischen Amtes zustehen. Dazu gehören Veröffentlichungen auf der Webseite des Ministeriums (auch wenn es sich dabei lediglich um einen Ausschnitt oder Verweis auf ein Interview in einer Zeitung handelt), eine Rede in der sie als Minister*innen auftreten oder die Verwendung von staatlichen Zeichen (wie dem ministeriellen Briefkopf o.ä.).

Zum Ganzen: https://staging.examensgerecht.de/aeusserung-eines-bundesministers/#I_P_Verfassungsrechtliches_Recht_von_A

2. Unter welchen Voraussetzungen ist der Ausschluss von extremistischen Partien von der staatlichen Parteienfinanzierung möglich?
Parteien genießen das sog. Parteienprivileg, welches politische Parteien nach § 2 ParteiG vor staatlichen Beeinträchtigungen schützt, solange diese nicht in einem Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 II GG, §§ 43 ff. BVerfGG vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurden.

Art. 21 II GG bestimmt, dass „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“

Durch das Urteil des BVerfG vom 17.01.2017 (BVerG Urt. v. 17.01.2017 – 2 BvB 1/13) wurde entschieden, dass für ein erfolgreiches Parteiverbotsverfahren neben den verfassungsfeindlichen Bestrebungen einer Partei auch ein ausreichendes Potenzial zur Durchsetzung der verfassungsfeindlichen Ziele der Partei notwendig ist.

Zugleich stellte das BVerfG in einem obiter dictum dar, dass der Staat aber nicht beschränkt ist auf ein Parteienverbot, sondern zwischen Parteien, die durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurden, und solchen, die nicht als verfassungswidrig eingestuft wurden unterscheiden kann.

Daraufhin wurde Art. 21 III GG neu gefasst, welcher nun für Parteien, die zwar verfassungswidrige Bestrebungen verfolgen, aber nicht vom Bundesverfassungsgericht verboten wurden, von der Parteienfinanzierung und von steuerlichen Begünstigungen ausgeschlossen werden können.

Dies gilt jedoch nicht für Fraktionen in Parlamenten, die sich aus Abgeordneten von verfassungswidrigen Parteien zusammensetzen. Die Finanzierung der Fraktionen ist zweckgebunden und soll die Wahrnehmung des politischen Mandates ermöglichen, weshalb damit keine Finanzierung der hinter den Fraktionsmitgliedern stehenden Partei verbunden ist. Ein Ausschluss verstößt gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG.[37]VGH Kassel, Urteil vom 05.04.2017 – 8 C 459/17.N.

Zusammenfassung:

1. Die Aussagen auf Wahlwerbeplakaten von Parteien sind sowohl von der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I, II als auch vom Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb, Art. 21 i.V.m. 3 I GG geschützt.

2. Bei einer staatlichen Untersagung der Nutzung einer bestimmten Wahlplakataussage muss der Schutz der beiden Grundrechte bereits im Tatbestand der Rechtsgrundlage ausreichend berücksichtigt werden. Ein Verbot kann z.B. nicht auf einen Verstoß gegen die (tatbestandlich nicht eindeutig begrenzte) öffentliche Ordnung gestützt werden.

3. Die Meinungsfreiheit schützt auch polemische und überspitzte Aussagen. Um eine Aussage zu untersagen ist es im ersten Schritt notwendig den Aussagegehalt objektiv zu bestimmen. Weder das subjektive Verständnis des Äußernden noch des Betroffenen entscheiden. Sanktionslose Interpretationsmöglichkeiten müssen mit einer eindeutigen und gewichtigen Begründung ausgeschlossen werden.


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