BGH, Urteil vom 11.09.2019 – 2 StR 563/18 – BeckRS 2019, 34879
Sachverhalt
A, S und K trafen sich abends in der Wohnung von A, um dort zu „chillen“. Als ihnen langweilig wurde, verließen sie die Wohnung und liefen, jeweils mit Mobiltelefonen ausgerüstet, in der Stadt umher. Zwischen 0.00 und 0.30 Uhr befanden sie sich auf dem Gelände der Kreisrealschule und trafen dort zufällig auf den M, der allen Beteiligten bekannt war. A, S und K erkannten, dass M, erheblich alkoholisiert war (BAK von 2,26 pro Mille). In der Folge stand M mit A, S und K zusammen. K holte nun einen Joint mit „Spice“ hervor, der von A hergestellt wurde und den Wirkstoff 5F-ADB enthielt. Dieses synthetische Cannabinoid wirkt um ein Vielfaches stärker als normales THC. K und S nahmen im Wechsel einige Züge von dem Joint. M fragte, ob er den Joint auch einmal haben könne. K und S folgten dieser Bitte nicht. Sie hatten zwar keine Kenntnis von gesundheitlich negativen Folgen des Joints, wussten aber, dass es sich nach Aussagen des A um „starkes Zeug“ handele. M rief „Kindergarten“ in Richtung von A, S und K, nahm dem K eigenmächtig den Joint aus der Hand und rauchte einen Zug. Danach ging er einen Schritt zurück und nahm einen zweiten Zug. Sodann machte er einen Schritt nach vorne und ging unter dem vernehmbaren Ausspruch „Ups“ zunächst auf die Knie, bevor er nach vorne auf die Wiese fiel und regungslos liegen blieb. A, S und K waren schockiert und rannten einige Meter davon. S beschloss aber sodann, nach dem Geschädigten zu schauen, und lief zu ihm zurück. M erbrach sich nun ein erstes Mal. S und K brachten ihn in eine „Art stabile Seitenlage“, wobei sich M zwei weitere Male erbrach. M war nicht ansprechbar. Die A, S und K beschlossen, dem M keine weitere Hilfe, etwa durch einen Notruf, zukommen zu lassen, da sie im Hinblick auf den von dem Geschädigten konsumierten Joint strafrechtliche Konsequenzen fürchteten. K fertigte um 0.30 Uhr ein kurzes Video von dem M und äußerte dazu: „Ich hab dem sein Leben gerettet, Alter“. Die Angeklagten erkannten weder den tödlichen Ausgang des Geschehens noch nahmen sie seinen Tod billigend in Kauf. M verstarb vermutlich spätestens um 4.00 Uhr an einem zentralen Regulationsversagen, verursacht durch eine Mischintoxikation von Alkohol und dem synthetischen Cannabinoid 5F-ADB. M wurde gegen 6.10 Uhr tot aufgefunden. Bei unverzüglichem Absetzen eines Notrufs wäre eine Rettung überwiegend wahrscheinlich gewesen.
Strafbarkeit von A, S und K?
Bearbeitungshinweis: Der Wirkstoff 5F-ABD war zum Tatzeitpunkt noch nicht in der Anlage II zum BtMG enthalten.
Skizze
Gutachten
A. Strafbarkeit gem. §§ 222 I, 13 I StGB
A, S und K könnten sich (nebentäterschaftlich) der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen gem. §§ 222 I, 13 I StGB strafbar gemacht haben, indem sie keinen Notruf absetzten, nachdem M einen Zug von dem Joint mit „Spice“ nahm, zusammenbrach und sich mehrfach erbrach.
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Taterfolg
Der tatbestandsmäßige Erfolg des Todes eines anderen ist durch das Versterben des M eingetreten.
b) Unterlassen trotz Möglichkeit
Zudem müssten es A, S und K jeweils trotz physisch-realer Möglichkeit unterlassen haben, eine (gebotene) Handlung vorzunehmen. Alle drei waren zwar mit Mobiltelefonen ausgerüstet, setzten jedoch keinen Notruf ab.
c) Quasikausalität
Dieses Unterlassen müsste für den Erfolg auch kausal gewesen sein. Ein Unterlassen ist für den Erfolg dann kausal, wenn die Vornahme der gebotenen Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. [1]Ransiek, JuS 2010, 490, 492. Hier hätte ein Notruf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem erfolgreichen Rettungsverlauf geführt. Quasikausalität liegt mithin vor.
Anmerkung: Anforderungen an den Kausalitätsnachweisd) Objektive Fahrlässigkeit
A, S und K müssten auch objektiv fahrlässig gehandelt haben. Dafür müsste zunächst eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vorliegen. Der Sorgfaltsmaßstab richtet sich nach den Anforderungen, die an einen gewissenhaften und besonnenen Menschen, der sich in der konkreten Lage befindet und dem Verkehrskreis des Täters angehört, bei einer ex-ante Betrachtung der Gefahrenlage zu stellen sind.[2]Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 49. Aufl. 2019, Rn. 667a. Hier durfte von einem solchen gewissenhaften und besonnenen in der Lage der A, S und K erwartet werden, dass er in Anbetracht des Zustandes des M Rettungskräfte herbeiruft. Da sie dies nicht taten liegt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vor. Zudem müsste der Eintritt des Erfolges bei Verletzung dieser Sorgfaltspflicht für die drei objektiv vorhersehbar gewesen sein. Objektive Vorhersehbarkeit liegt vor, wenn der eingetretene Erfolg nach allgemeiner Lebenserfahrung, sei es auch nicht als regelmäßige, so doch als nicht ungewöhnliche Folge, erwartet werden konnte.[3]Vgl. Kühl, in: Lackner/Kühl, 29. Aufl. 2018, § 15 Rn. 46 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. Spätestens nach Wiedereintreffen von A, S und K auf dem Schulhof und der Wahrnehmung des unveränderten Zustands des M, war es nach allgemeiner Lebenserfahrung ein tödlicher Verlauf erwartbar. Daher handeln die A, S und K vorhersehbar und damit objektiv fahrlässig.
e) Objektive Zurechnung
Der Erfolg müsste A, S und K auch objektiv zurechenbar sein. Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg, wenn der Täter ein rechtlich missbilligtes Risiko schafft, das sich im tatbestandlichen Erfolg niederschlägt.[4]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 46. Das Unterlassen des Notrufes schafft das rechtlich missbilligte Risiko der Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis hin zu einer letalem Verlauf. Dieses Risiko schlägt sich hier in dem Tod des M nieder. Daher ist der Erfolg objektiv zurechenbar.
Vernetztes Lernen: Wieso kommt es hier nicht auf eine etwaige freiverantwortliche Selbstgefährdung an?e) (P) Garantenpflicht
Zudem müsste für die A, S und K jeweils eine Garantenpflicht bestanden haben. Ein unechtes, dem aktiven Tun gleichgestelltes Unterlassen setzt nämlich gem. § 13 StGB eine besondere rechtliche Einstandspflicht für einen tatbestandlichen Erfolg voraus.
aa) Zugehörigkeit zu einer Gefahrengemeinschaft
Zunächst kommt eine Garantenpflicht aus Zugehörigkeit zu einer Gefahrengemeinschaft in Betracht. Eine solche kommt in Frage, wenn Menschen sich zumindest vorübergehend freiwillig in einer Gemeinschaft befinden, die ihrem Wesen nach auf gegenseitige Hilfe angelegt ist.[5] Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 23. Abzugrenzen sind solche Gefahrengemeinschaften von losen Zusammenschlüssen, wie es bei gemeinschaftlichem Alkohol- oder Rauschgiftkonsum der Fall ist.[6]BGH NJW 1954, 1047, 1048; NStZ 1983, 454; BayObLG NJW 1953, 556 stellt fest, dass zu der Zechgemeinschaft noch weitere Umstände, wie das Überreden zum übermäßigen Alkoholkonsum hinzutreten … Continue reading Zwar basieren diese Zusammenschlüsse in der Regel auf einer Freiwilligkeit. Aber aus ihrem Zuschnitt lässt sich kaum eine konkludente gegenseitige Hilfszusage erkennen.[7] Freund, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. 2020, § 13 Rn. 174. Im vorliegenden Fall handelt es sich zunächst gerade um eine solche Konsumgemeinschaft. Ein davon abweichender Bewertung könnte hier nur deshalb geboten sein, weil der Konsum eines Joints mit „Spice“ objektiv und vor allem in Kombination mit Alkohol gefährlicher ist als das Rauchen „gewöhnlicher“ Cannabissorten. Aus zwei Gründen lässt sich dennoch keine Gefahrengemeinschaft begründen: Erstens lehnten die S und K es ab, den M in den Kreis der Konsumenten mit aufzunehmen, ihn also Teil der (Gefahren-)Gemeinschaft werden zu lassen. Zweitens war den A, S und K nicht die konkrete Gefährlichkeit des „Spice“ mit dem Wirkstoff 5F-ABD bekannt, die den gemeinsamen Konsum hätte von der einfachen Konsumgemeinschaft abheben können. Deshalb steht die gemeinsame Absicherung gerade nicht im Zentrum des gemeinsamen Konsumvorhabens. Daher liegt keine Garantenpflicht aus Zugehörigkeit zu einer Gefahrengemeinschaft vor.
bb) Tatsächliche Übernahme
Eine Garantenpflicht hätte aber auch aus tatsächlicher und freiwilliger Übernahme von Verantwortung resultieren können, wenn einseitig Schutzfunktionen übernommen werden, die eine berechtigte Erwartung des Rechtsgüterschutzes begründen.[8]Ransiek JuS 2010, 585, 588. Eine solche Übernahme lässt sich unter Anknüpfungen an verschiedene Handlungen der Beteiligten diskutieren:
Erstens könnte die Übernahme von Verantwortung darin gesehen werden, dass die K und S dem M den Konsum verwehrten. Dabei handelt es sich aber letztlich lediglich um ein von der Rechtsordnung anderweitig gefordertes Verhalten, nämlich die Vermeidung eines pflichtwidrigen Verhaltens. Wären K und S nämlich dem Ansinnen des M nachgekommen und hätten ihm den Joint überlassen, so hätte diese Handlung ihrerseits eine Ingerenzhaftung begründen können.[9] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 17.
Zweitens kann in der eigenmächtigen Wegnahme des Joints durch M keine verantwortungsbegründende Übernahme von K gesehen werden, da es sich lediglich um Drittverhalten handelt.[10] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 17
Drittens könnte in dem Verbringen des M in eine Art stabile Seitenlage durch K und S eine konkludente Zusage gesehen werden, sich weiter um diesen zu kümmern, sollte sich sein Zustand nicht alsbald verbessern. Jedoch handelt es sich bei solchen Erste-Hilfe-Maßnahmen allein um die ungenügende Erfüllung der aus § 323c StGB resultierenden Pflichten. Eine darüberhinausgehende Übernahme der Obhut würde dazu führen, dass derjenige der überhaupt Rettungsmaßnahmen einleitet schlechter gestellt würde als derjenige, der gar keine Handlungen in diese Richtung vornimmt. Darin würde ein handgreiflicher Wertungswiderspruch liegen.[11] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 18; so auch Hoyer Anm. zu BGH NStZ 1994, 84, 85. Anders liegt es nur dann, wenn die freiwillige Übernahme einer Hilfeleistung andere konkrete Rettungsmöglichkeiten vereitelt oder die Situation des Hilfsbedürftigen sonst risikofördernd verändert.[12] Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 27; eingehend Mitsch JuS 1994, 555. Eine solche Konstellation wäre beispielsweise dann vorliegend, wenn die A, S und K den M an einen anderen Ort verbrachten, wo ein Auffinden durch Dritte unwahrscheinlicher würde. Ähnliches gelte, wenn sie die Hilfe anderer nächtlich Spazierender verhinderten, indem sie sagten, dass „sie sich schon kümmern würden“. Eine solche „Verschlechterung“ oder „Veränderung“ der Lage lag hier jedoch nicht durch die A, K oder S vor, sodass eine Garantenstellung aus tatsächlicher Gewährübernahme zu verneinen ist.
cc) Ingerenz
Sodann kommt eine Garantenpflicht aus Ingerenz in Betracht. Eine solche Pflicht entsteht, wenn durch ein pflichtwidriges Vorverhalten die nahe Gefahr des konkreten tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht wurde.[13]Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 32. Fraglich ist zunächst, ob die Herstellung des Joints mit „Spice“ und die Abgabe an K durch A pflichtwidrig war. Dagegen spricht zunächst, dass „Spice“ mit dem Wirkstoff 5F-ABD zum Tatzeitpunkt noch nicht dem BtMG unterstellt und daher die Herstellung und Weitergabe nicht mit Strafe belegt war. Damit allein dürfte eine Pflichtwidrigkeit jedoch noch nicht völlig ausgeschlossen sein[14]Vgl. auch Brüning ZJS 2017, 727, 731., wenn dem A die konkrete Gefährlichkeit des Wirkstoffes bekannt gewesen wäre. Dies war jedoch gerade nicht der Fall. Der A wusste lediglich, dass es sich um Rauschgift mit besonders starker Wirkung handele, weshalb er den K darauf hinwies, dass es sich um „starkes Zeug“ handele.
Auch für K und S kann sich aus dem geteilten Konsum kein pflichtwidriges Verhalten ergeben, da sie völlig eigenverantwortlich und nur in Bezug auf den eigenen Konsum handelten.
Anmerkung: Freiverantwortliche SelbstgefährdungEin anderes positives Tun, mit dem K und S die Gefahr der Gesundheitsschädigung des M verursachten kann auch insbesondere nicht in der Weigerung der Übergabe des Joints gesehen werden, da diese gerade der Vermeidung einer Gefahrschaffung und einer Garantenpflicht aus Ingerenz dient.[16]BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 24. Die Nichtverhinderung der Wegnahme oder ein mögliches Herausgabeverlangen stellen indessen keine positiven Handlungen dar und bedürften zu ihrer Beachtlichkeit ihrerseits eine Handlungspflicht.[17]BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 25. Daher ist auch eine Garantenpflicht aus Ingerenz zu verneinen.
dd) Gefahrenherrschaft
Letztlich kommt eine Garantenpflicht aus der Herrschaft über eine Gefahrenquelle in Betracht. Werden die gebotenen Schutzvorkehrungen, die nach Würdigung der Gesamtumstände, insbesondere des Gefahrengrades, notwendig und zumutbar sein müssen, nicht getroffen, kann sich eine Unterlassensstrafbarkeit ergeben.[18] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 27; BGH NStZ 2012, 319, 320. Ob sich diese sodann aus der Nichtvornahme von Rettungshandlungen ergeben kann ist umstritten, weil sich die Pflicht zunächst einmal auf die Absicherung der Gefahrenquelle bezieht. Letztlich lässt sich aber eine Rettungspflicht, bei Realisierung der Gefahr zumindest über die Ingerenzdogmatik begründen, wenn man in der Nichtvornahme ausreichender Sicherungsmaßnahmen ein pflichtwidriges Vorverhalten erblickt.[19]Brüning ZJS 2017, 727, 731; Kudlich JA 2012, 470, 472; Kudlich JA 2017, 229, 231; Og˘lakcιog˘lu NStZ-RR 2012, 246, 247.
Anmerkung: AufbauEine solche Gefahrenquelle könnte A durch die Herstellung und K durch das Herausholen des Joints geschaffen haben.
(1) Freiverantwortliche Selbstgefährdung
(a) Verhältnis von freiverantwortlicher Selbstgefährdung und Garantenpflicht
Fraglich ist, ob eine freiverantwortliche Selbstgefährdung des M eine Garantenpflicht ausschließen kann. Nach der herrschenden Meinung in der Literatur schließt eine freiverantwortliche Selbstgefährdung auch das Entstehen einer Garantenpflicht aus. Der Grund dafür liegt in Folgendem: Die objektive Zurechnung eines Körperverletzungs- oder gar Tötungserfolges zu einem Dritten ist gestört, weil dem Opfer aufgrund seines Verhaltens die Verantwortung für den Erfolg zugeschrieben wird. Eine Verantwortung des Dritten im Rahmen der Unterlassungshaftung zu begründen, sobald sich das Risiko realisiert hat, ist dann zumindest nicht ohne weiteres erklärbar.[20] BGH Urt. v. 11.09.2019 – 2 StR 563/18, Rn. 19; Vgl. auch Fünfsinn StV 1985, 57. Die Rechtsprechung nimmt dann eine Ausnahme an, wenn sich das Gefahrenpotential für das Leben des Selbstgefährdenden zu realisieren beginnt. In einem solchen Fall soll die eigenverantwortliche Selbstgefährdung die Entstehung einer Erfolgsabwendungspflicht nicht hindern.[21]BGH NStZ 2016, 406, 407; vgl. auch bereits BGH NStZ 1984, 452; sowie BGH NStZ 2017, 219, 220; NStZ 2017, 223, 225. Die Rechtsprechung begründet diese Ansicht damit, dass bei der Selbstgefährdung anders als bei der Selbsttötung nur das Risiko eines Erfolgseintritts eingegangen wird. Entwickle sich das auf die Gefährdung angelegte Geschehen jedoch erwartungswidrig in Richtung auf den Verlust des Rechtsguts, erfasse die ursprüngliche Entscheidung der Hinnahme des Risikos nicht den Verzicht auf Maßnahmen zum Erhalt des Rechtsguts.[22]BGH NStZ 2016, 406, 407; vgl. zum Rechtssprechungswandel im Fall des Tatherrschaftswechsel bei der freiverantwortlichen Selbsttötung BGH NJW 2019, 3089. Diese Auffassung wird im Schrifttum überwiegend als wertungswidersprüchlich kritisiert.[23]Eisele JuS 2016, 276; Jäger JA 2016, 392; Lorenz NStZ 2017, 226; Roxin StV 2016, 428; Schiemann NJW 2016, 176, 178. Sie droht die nach der freiverantwortlichen Selbstgefährdung gefundene Verteilung von Verantwortung zu unterlaufen und dem Herrschenden über eine Gefahrenquelle zum „Vormund und Hüter all derer zu machen, die sich freiverantwortlich dieser Gefahrenquelle aussetzen.“[24]Jäger JA 2016, 392, 394. Eine Stellungnahme kann hier unterbleiben, wenn gar keine freiverantwortliche Stellungnahme vorliegt.
(b) Vorliegen einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung
Ob eine freiverantwortliche Selbstgefährdung vorliegt, ist in zwei Schritten zu prüfen: Damit es sich um eine Selbst- nicht um eine Fremdgefährdung handelt muss der Geschädigte die Tatherrschaft über die letztlich gefährdende Handlung innehaben.[25]Vgl. Rönnau JuS 2019, 119 f.; vgl. auch für die freiverantwortliche Selbsttötung BGH NJW 2019, 3089 f. Hier hat der M ohne Zweifel die Tatherrschaft über den letztlich gefährdenden Akt des Konsums.
Sodann ist zu prüfen, ob die Selbstgefährdung auch freiverantwortlich ist. Umstritten ist indessen, anhand welcher Kriterien Freiverantwortlichkeit zu prüfen ist. Nach der zum Teil vertretenen „Exkulpationslösung“ soll mit Blick auf die §§ 19, 20, 35 StGB und § 3 JGG maßgebend sein, ob der Geschädigte schuldhaft handeln würde, wenn er jemand anderen schädigen bzw. gefährden würde.[26]Vgl. Brand/Lotz JR 2011, 513, 517. Die von der wohl überwiegenden Auffassung und Rechtsprechung vertretene „Einwilligungslösung“ setzt einen strengeren Maßstab und fragt, wie bei der Einwilligung, danach, ob der Geschädigte Inhaber des Rechtsguts ist, frei von Willensmängeln und in Kenntnis der Reichweite seiner Entscheidung handelt.[27]BGH NJW 2019, 3089 m.w.N.; Eser/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, Vorb. §§ 211 ff. Rn. 36; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht Allgemeiner Teil, 49. Aufl. … Continue reading Im Hinblick auf die Exkulpationslösung ist zu fragen, ob die Alkoholisierung des M eine Schuldunfähigkeit begründen würde gesetzt dem Fall, dass er Dritte gefährden würde. Bei BAK-Werten zwischen 2 und 3 pro Mille ist das Bild jedoch recht uneinheitlich und kann hier mangels weiterer Angaben kaum abschließend geklärt werden. [28]Vgl. eingehend Perron/Weißer, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 16b.Ob der M tatsächlich die Reichweite der Gefährdung i.S.d. Einwilligungslösung nachvollziehen kann, dürfte zweifelhaft sein. Zwar schließt eine erhebliche Alkoholisierung allein eine Freiverantwortlichkeit noch nicht aus. Jedoch konnte der M sich kein Vorstellungsbild von der konkreten Gefährlichkeit des Konsums machen, wurde er doch nicht einmal von A gewarnt, dass es sich um „starkes Zeug“ handele. Die Kombination aus Alkoholisierung und mangelnder Kenntnis über den konkreten Wirkstoff muss zu einer Ablehnung der Freiverantwortlichkeit nach der Einwilligungslösung führen. Eine Garantenstellung kann nicht aus diesem Grund entfallen.
Vernetztes Lernen: Wie ist weiter zu prüfen, wenn die Freiverantwortlichkeit zu verneinen ist?(2) Unvorhersehbare Selbstgefährdung
Dennoch ist es sowohl für den A als auch für K und S nicht vorhersehbar gewesen, dass sich der M (ungeachtet der Freiverantwortlichkeit) selbst gefährden würde. Die Verletzung einer Pflicht zur Absicherung der Gefahrenquelle kann aber nur dann angenommen werden, wenn die Gefahr der Realisierung nahegelegen hat. So war für den A zwar eine Gefährdung der Rechtsgüter des K und des S auf dem Schuldgelände vorhersehbar. Nach Verweigerung der Übergabe des Joints an den M war eine eigenmächtige Wegnahme jedoch kaum vorherzusehen. Daher ist eine unzureichende Gefahrverhütung in Richtung des M abzulehnen.
Anmerkung: Parallele zum Begehungsdeliktee) Zwischenergebnis
Eine Garantenpflicht der A, S und K liegt mithin nicht vor.
b) Zwischenergebnis
Der objektive Tatbestand liegt nicht vor.
2. Zwischenergebnis
Der Tatbestand ist nicht erfüllt.
II. Ergebnis
A, S und K sind nicht gem. §§ 222 I, 13 I StGB strafbar.
B. Strafbarkeit der A, S und K gem. § 323c I StGB
A, S und K könnten sich jedoch (nebentäterschaftlich) der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323c I StGB strafbar gemacht haben, indem sie keinen Notruf absetzten.
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Unglücksfall
Dafür müsste ein Unglücksfall vorgelegen haben. Ein Unglücksfall ist jedes plötzliche Ereignis, das erhebliche Gefahren für Personen oder Sachen von bedeutendem Wert mit sich bringt oder zu bringen droht.[31]Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 21. Aufl. 2020, § 42 Rn. 3. Bei dem Zusammenbruch des M handelt es sich um ein unvorhersehbares Ereignis, das Lebensgefahren mit sich bringt. Dass sich dieser Zustand aus einer Selbstgefährdung des M realisiert, ändert daran insofern nichts, als dass es sich nicht um eine freiverantwortliche Selbstgefährdung handelt, die sich schon gar nicht mit einem freiverantwortlichen Selbsttötungsversuch vergleichen lässt.[32]Hecker, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 323c Rn. 8.Daher liegt ein Unglücksfall vor.
b) Unterlassene Hilfeleistung
T müsste auch mit Vorsatz gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller wesentlicher Tatumstände zum Zeitpunkt der Tat.[33]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2019, § 14 Außerdem müsste die unterlassene Hilfeleistung, also das Nichtabsetzen eines Notrufes erforderlich und zumutbar gewesen sein. Erforderlich ist die Hilfeleistung, wenn sie nach dem Urteil eines verständigen Beobachters geeignet und notwendig ist, um drohende weitere Schäden abzuwenden.[34]Hecker, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 323c Rn. 14. Nicht zumutbar ist die Hilfeleistung, wenn sich der Täter durch sie einer erheblichen eigenen Gefahr aussetzt oder andere wichtige Pflichten verletzt.[35]Hecker, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 323c Rn. 19. Ein verständiger Dritter hätte es in Anbetracht des gesundheitlichen Zustandes des M, namentlich dem mehrmaligen Erbrechen und dem Ausbleiben der Besserung für nötig erachtet, einen Notarzt zu rufen, um schwerwiegende Folgen für den M abzuwenden. Die A, S und K hätten sich auch selbst keinen Gefahren, nicht einmal der Strafverfolgung ausgesetzt, wenn sie ärztliche Hilfe herbeigerufen hätten. Schließlich haben sie sich durch ihr Vorverhalten nicht strafbar gemacht. (s.o.) Daher liegt eine unterlassene erforderliche und zumutbare Hilfeleistung vor.
Anmerkung: Gefahr der Strafverfolgung2. Subjektiver Tatbestand
A, S und K müssten auch mit Vorsatz gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller wesentlicher Tatumstände zum Zeitpunkt der Tat.[37]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 5. Hier wussten die drei Beteiligten um die Gefahren für die Gesundheit des M und davon, dass eine Hilfeleistung erforderlich und zumutbar gewesen wäre. Daher liegt auch der subjektive Tatbestand vor.
II. Rechtswidrigkeit
T könnte jedoch durch eine rechtfertigende Einwilligung des G geRechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. A, S und K handelten rechtswidrig.
III. Schuld
Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Daher handeln A, S und K auch schuldhaft.
IV. Ergebnis
A, S und K machen sich (nebentäterschaftlich) gem. § 323c I StGB strafbar.
Zusatzfragen
Auf welchem Gedanken baut die Strafbarkeit nach 323c StGB auf? Fällt dir eine weitere Ausprägung dieses Gedankens aus dem StGB ein?Zusammenfassung
1. Eine Garantenstellung aus der Zugehörigkeit einer Gefahrengemeinschaft liegt nicht bei einfachen Konsumgemeinschaften vor. Soll etwas anderes gelten, müssen alle Mitkonsumenten um die Gefährlichkeit des Vorhabens wissen und das Vertrauen auf das gegenseitige Einstehen zur „Geschäftsgrundlage des Vorhabens“ werden.
2. Eine Garantenpflicht aus tatsächlicher Übernahme lässt sich regelmäßig nicht aus der Einleitung von Erste-Hilfe-Maßnahmen ableiten. Darin kann lediglich der (ungenügende) Versuch gesehen werden, der Pflicht aus § 323c StGB nachzukommen. Eine Schlechterstellung des Hilfeleistenden gegenüber dem gar nicht Tätigwerdenden kann nicht überzeugen. Anders kann es nur bei einer Lageveränderung des Geschädigten liegen.
3. Eine Garantenstellung aus Ingerenz scheitert bei der Herstellung, Weitergabe und dem eigenständigen Konsum bereits, wenn die keine Pflichtwidrigkeit besteht. Gründe dafür sind, dass der in Frage stehende Wirkstoff nicht dem BtMG untersteht und ein Konsum durch Dritte nicht vorhersehbar ist.
4. Die Garantenpflicht aus Gefahrenherrschaft bedarf keines pflichtwidrigen Vorverhaltens. Von einer ungenügenden Absicherung der Gefahrenquelle kann jedoch dann nicht gesprochen werden, wenn sich die Gefahr durch eine unvorhersehbare Selbstgefährdung in die Richtung eines Dritten bewegt.