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Section Control – eine neue Art der Tempoüberwachung

OVG Lüneburg, Urteil vom 13.11.2019 – 12 LC 79/19; NZV 2020, 145;
OVG Lüneburg, Beschluss vom 3.7.2019 – 12 MC 93/19; NJW 2019, 2951

Sachverhalt

Auf der Bundesstraße 6 in Niedersachsen wurde auf 2 km von der Polizeidirektion P für das Land Niedersachsen als Pilotprojekt ein mit Schildern gekennzeichneter Streckenradar installiert. Bei dieser Abschnittskontrolle werden die Kennzeichen aller Kfz erfasst, die in den Streckenabschnitt ein- und ausfahren. Durch den Abgleich der Fotos und der jeweiligen Zeitstempel wird die Durchschnittsgeschwindigkeit ermittelt. Überschreitet diese die zulässige Höchstgeschwindigkeit (Trefferfall), macht eine dritte Kamera ein Foto zur Fahrerer*innenerkennung. Bei einem Nichttrefferfall werden die Datensätze automatisch und sofort gelöscht.

Die Autofahrerin A, die die Strecke nahezu täglich privat zurücklegt, fühlt sich durch den präventiven Teil der Abschnittskontrolle in ihren Grundrechten verletzt. Das Land sei nicht zuständig und die Kontrolle müsse sich auf besonders unfallträchtige Strecken beschränken. Übliche Messgeräte reichten nach ihrer Meinung vollkommen aus.

P wendet ein, eine Verletzung eigener Rechte von A sei bereits deshalb ausgeschlossen, weil sie die fragliche Strecke umfahren könne. Auch sei jedenfalls im Nichttrefferfall ein Eingriff in Grundrechte ausgeschlossen, da nur eine notwendige technische Miterfassung vorliege. Die Maßnahme sei auf § 32 VI NPOG zu stützen. Eine vergleichbare Regelung auf Bundesebene gebe es nicht.

Hat eine Klage der A gegen den Streckenradar Erfolg?

§ 32 VI NPOG:

1Die Verwaltungsbehörden und die Polizei dürfen im öffentlichen Verkehrsraum zur Verhütung der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von Kraftfahrzeugen nach Maßgabe des Satzes 2 Bildaufzeichnungen offen anfertigen und damit auf einer festgelegten Wegstrecke die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Kraftfahrzeugs ermitteln (Abschnittskontrolle). 2Die Bildaufzeichnungen dürfen nur das Kraftfahrzeugkennzeichen, das Kraftfahrzeug und seine Fahrtrichtung sowie Zeit und Ort erfassen; es ist technisch sicherzustellen, dass Insassen nicht zu sehen sind oder sichtbar gemacht werden können. 3Bei Kraftfahrzeugen, bei denen nach Feststellung der Durchschnittsgeschwindigkeit keine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vorliegt, sind die nach Satz 2 erhobenen Daten sofort automatisch zu löschen. 4Die Abschnittskontrolle ist kenntlich zu machen.


Skizze


Gutachten

Eine Klage von A hat Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges

Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 I 1 VwGO. Streitentscheidend ist § 32 VI NPOG der einseitig einen Träger öffentlicher Gewalt berechtigt. Nach der modifizierten Subjektstheorie handelt es sich folglich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Diese ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art. Jedenfalls die Kennzeichenerfassungen am Anfang und Ende der Strecke stellen präventive Maßnahmen dar, sodass § 23 EGGVG insofern nicht einschlägig ist und eine abdrängende Sonderzuweisung nicht vorliegt. Der Verwaltungsrechtsweg ist demnach nach § 40 I 1 VwGO eröffnet.

II. Statthafte Klageart

Die Statthaftigkeit richtet sich nach dem Begehren der Klägerin, § 88 VwGO. A begehrt, die Abschnittskontrolle auf der B 6 zu unterlassen. Die Abschnittskontrolle zielt nicht auf die Herbeiführung eines Rechtserfolges, ist damit kein Verwaltungsakt gem. § 35 VwVfG i.V.m. § 1 I NVwVfG[1]In anderen Ländern ist natürlich auf die entsprechenden Normen zu verweisen., sondern stellt vielmehr einen Realakt dar. Statthaft ist mithin die allgemeine Leistungsklage (in §§ 43 II, 111, 113 IV VwGO vorausgesetzt) in Form der Unterlassungsklage.

III. (P) Klagebefugnis

A müsste analog § 42 II VwGO klagebefugt sein. A fährt nahezu täglich die Strecke, auf der sich die Abschnittskontrolle befindet. A hat auch grundsätzlich das Recht (Art. 2 I GG) auf Nutzung aller öffentlich gewidmeter Straßen und kann somit nicht darauf verwiesen werden, einen Umweg zu fahren. Dies würde zudem eine stärkere Umweltbelastung (Art. 20 a GG) und einen höheren Spritverbrauch für A bedeuten.[2]Vgl. VG Hannover BeckRS 2019, 3284 Rn. 24. Aufgrund der Erfassung und des Abgleichs von Kennzeichendaten ist eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsgrundrechts in Form des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 I i.V.m. Art. 2 I GG) nicht von vornherein ausgeschlossen. A ist mithin klagebefugt.

IV. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen

Die Klage ist gegen das Land Niedersachsen zu richten (Rechtsträgerprinzip). A und das Land sind nach § 61 Nr. 1 VwGO beteiligten- und nach § 62 I Nr. 1 bzw. III VwGO prozessfähig. Die Klage muss den Anforderungen von § 81f. VwGO an die Form entsprechen. Einer Fristwahrung bedarf es ebenso wenig wie der Einleitung eines Vorverfahrens.

V. Zwischenergebnis

Die Unterlassungsklage von A ist demnach zulässig.

B. Begründetheit

Die Klage ist begründet, wenn A einen Anspruch gegen das Land Niedersachsen auf Unterlassung der Geschwindigkeitskontrolle hat. Das wäre der Fall, wenn die Abschnittskontrolle A in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsgrundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG verletzt.

I. Schutzbereich

Das APR schützt auch die Befugnis des Einzelnen grundsätzlich selbst zu entscheiden wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.[3]BVerfGE 65, 1, 43 = NJW 1984, 419 – Volkszählungsurteil Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, als besondere Ausprägung des APR umfasst alle Informationen, die etwas über die Bezugsperson aussagen könnten, wobei ein nur geringer Informationsgehalt genügt.[4]BVerfG NJW 2019, 827, 828 f. Rn. 38. Der Schutzbereich ist mithin eröffnet.

II. (P) Eingriff

Die Erfassung und der Abgleich der Kennzeichendaten müssten einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellen. Ein Eingriff im klassischen Sinne ist jeder staatliche Rechtsakt, der final, unmittelbar und imperativ zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt.[5]Vgl. Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 392. Da hier ein Realakt und nicht ein Rechtsakt in Rede steht und kein Gebot oder Verbot auferlegt wird, liegt ein Eingriff im klassischen Sinne nicht vor. Aber auch Realakte können Eingriffe darstellen und auf das Merkmal der Imperativität kann verzichtet werden, wenn dem Staat die Grundrechtsverkürzung anderweitig zuzurechnen ist.[6]Zum erweiterten Eingriffsbegriff Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 393 ff.

Das könnte im Hinblick auf Nichttrefferfälle zweifelhaft sein. In diesen werden die Daten sofort gelöscht, sodass insofern keine Konsequenzen drohen.[7]Vgl. BVerfG NJW 2019, 827, 830. Nichtsdestotrotz ist die Aufnahme und der Abgleich auch dieser Daten ein notwendiger und gewollter Teil der Kontrolle; insofern besteht ein spezifisches verdichtetes Interesse der Behörde alle Kennzeichen zu erfassen.[8]Neue Rechtsprechung BVerfG NJW 2019, 827, 830. Dass kann man bezweifeln, da im konkreten Fall kein Abgleich mit externen Daten stattfinden soll.[9]Brenner DAR 241, 243; Müller NZV 2019, 279, 283. Letztlich findet aber ein Abgleich zwischen den Daten, die beim Einfahren erfasst wurden, zu denjenigen statt, die bei der Ausfahrt aufgenommen wurden. Daher ist es überzeugender auch im Nichttrefferfall ein verdichtetes behördliches Interesse und nicht nur eine ungezielte technikbedingte Miterfassung anzunehmen.

Die automatisierte Datenauswertung stellt insofern einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, die Grundrechteverkürzung kann dem Staat im Sinne des erweiterten Grundrechtseingriffs zugerechnet werden.[10]Vgl. hierzu und insg. lesenswert Rademacher/Perkowski JuS 2020, 713, 718.  Ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – auch von A – besteht damit unabhängig davon, ob ein Trefferfall gegeben ist oder nicht.[11]Ausführlich zum Grundrechtseingriff die Vorinstanz VG Hannover BeckRS 2019, 3284 Rn. 30 ff.

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Der Eingriff wäre verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er Ausprägung der Schranke des Art. 2 I GG wäre. Es bedarf eines verfassungskonformen formellen Gesetzes. Ein solches könnte hier § 32 VI NPOG darstellen.

1. (P) Formelle Verfassungsmäßigkeit

Problematisch im Rahmen der formellen Verfassungsmäßigkeit ist allein die Gesetzgebungsbefugnis. Das Land müsste zum Erlass von § 32 VI NPOG zuständig sein. Nach Art. 70 GG sind die Länder zuständig, soweit das Grundgesetz die Kompetenz nicht dem Bund zuweist. Die Abschnittskontrolle als neue Form der Geschwindigkeitsüberwachung könnte als Maßnahme des Strafverfahrens bzw. des Ordnungswidrigkeitenrechts (Art. 74 I Nr. 1 Var. 4 GG), der Strafverfolgungsvorsorge (Art. 74 I Nr. 1 Var. 4 GG)[12]Vgl. zur Zuordnung BVerfG NJW 2019, 827, 831, des Straßenverkehrsrechts (Art. 74 I Nr. 22) oder des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts eingeordnet werden.[13]OVG Lüneburg NZV 2020, 145. All diese Bereiche – bis auf das allgemeine Gefahrenabwehrrecht, welches schon nach Art. 70 ff. GG nicht dem Bund zugewiesen ist – gehören zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gem. Art. 72, 74 GG.

Bei der Zuordnung zu einem Kompetenztitel ist zwischen den Fotos zu differenzieren. Das dritte Foto, welches zur Fahrer*innenerkennung bei festgestellter Geschwindigkeitsüberschreitung angefertigt wird, dient bereits zur Verfolgung eines strafrechtlichen Anfangsverdachts und stützt sich auf § 100h StPO.[14]Vgl. Brenner DAR 2019, 241, 243. § 32 VI NPOG betrifft den repressiven Teil der Maßnahme aber nicht, da er gem. § 32 VI 1 NPOG allein der „Verhütung der Überschreitung“ dient und den repressiven Teil damit ausklammert. Die Kompetenz des Landes ist in Bezug auf den präventiven Teil insofern nicht ausgeschlossen.

Betrachtet man die anderen beiden Kennzeichenerfassungen bei der Einfahrt in und der Ausfahrt aus der maßgeblichen Strecke, so dient § 32 VI NPOG dazu, Geschwindigkeitsüberschreitungen zu verhüten, womit das Gefahrenabwehrrecht angesprochen ist.

Ferner könnte die Maßnahme der Vorsorge der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten dienen. In diesem Bereich hat der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz, nicht abschließend – auch nicht durch die StPO – Gebrauch gemacht.

Begrenzt man den Sachbereich auf das Straßenverkehrsrecht, was besonderes Ordnungsrecht darstellt,[15]Vgl. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 74 Rn. 154. ist entscheidend, ob der Bundesgesetzgeber mit dem StVG und der StVO abschließend von seiner konkurrierenden Kompetenz Gebrauch gemacht hat.[16]Dafür Brenner DAR 2019, 241, 244. Eine Regelung über Abschnittskontrollen zur Geschwindigkeitsüberwachung findet sich auf Bundesebene hingegen nicht. „Verkehrsüberwachung“ kommt als Begriff im StVG nicht vor, sodass anzunehmen ist, dass der Bundesgesetzgeber die Abschnittskontrolle zur Geschwindigkeitsüberwachung nicht abschließend geregelt hat und dies auch nicht wollte.[17]Müller NZV 2019, 279, 283. Der Bund hat von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz gem. Art. 74 I Nr. 22 GG nicht abschließend Gebrauch gemacht, sodass die Kompetenz der Länder insofern nicht nach Art. 72 I GG ausgeschlossen ist.[18]OVG Lüneburg NZV 2020, 145.

Unabhängig davon, welcher Kompetenztitel konkret einschlägig ist, hat der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Kompetenz jedenfalls nicht abschließend Gebrauch gemacht. Die Einordnung zu einem bestimmten Kompetenztitel kann demnach dahingestellt bleiben. Das Land war für den Erlass von § 32 VI NPOG gesetzgebungsbefugt. § 32 VI NPOG ist folglich formell verfassungskonform.

Anmerkung: Erforderlichkeitsprüfung?
Eine Überprüfung der Erforderlichkeit nach Art. 72 II GG bedarf es hier nicht, da Art. 72 II GG allein eine Anforderung an Bundesgesetze stellt.
Vernetztes Lernen: Wann ist eine Bundesregelung im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich?
Art. 72 II GG:
1. Zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse:
Eine bundesgesetzliche Regelung ist zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse erforderlich, „wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet“[19]BVerfG NJW 2015, 2399, 2400..
2. Zur Wahrung der Rechtseinheit
Eine bundesgesetzliche Regelung ist zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich, wenn eine ländereigene Regelung die Gefahr einer „Rechtszersplitterung“ mit problematischen Folgen“ bedeutete, „die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann“[20]BVerfG NJW 2015, 2399, 2402..
3. Zur Wahrung der Wirtschaftseinheit
Eine bundesgesetzliche Regelung ist zur Wahrung der „Wirtschaftseinheit erforderlich, wenn und soweit sie Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik ist, wenn also unterschiedliche Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich brächten“[21]BVerfG NJW 2015, 2399, 2402..

2. Materielle Verfassungsmäßigkeit

Als Ermächtigung zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung muss § 32 VI NPOG insbesondere dem aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.

a. Legitimes Ziel

Die Kennzeichenkontrolle knüpft an ein gefährliches und risikobehaftetes Tun an.[22]OVG Lüneburg NJW 2019, 2951, 2953. § 32 VI NPOG ist insofern Ausprägung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 GG. Das Ziel steht nicht im Widerspruch zur Verfassung und ist mithin legitim.

b. Geeignetheit

Die von § 32 VI NPOG geregelte Maßnahme ist gerade durch die Kenntlichmachung durch Beschilderung zweckförderlich, indem sich Verkehrsteilnehmer*innen gehalten sehen, die Geschwindigkeitshöchstgrenze nicht zu überschreiten. § 32 VI NPOG ist folglich geeignet.

c. Erforderlichkeit

Es könnte mit dem Einsatz klassischer Messgeräte ein gleich wirksames aber weniger eingriffsintensives Mittel zur Verfügung stehen. Die Erforderlichkeit müsste dann abgelehnt werden. Die Abschnittskontrolle ermittelt die Geschwindigkeit nicht nur punktuell, sondern über einen längeren Abschnitt und führt damit erstens zu der Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit über einen längeren Abschnitt und zweitens verhindert sie ein gefährliches abruptes Abbremsen vor dem „Blitzer“.[23]OVG Lüneburg NJW 2019, 2951, 2953. Damit ist die Abschnittsüberwachung wirksamer als der übliche Messvorgang. § 32 VI NPOG ist folglich erforderlich.

d. (P) Angemessenheit

Zweck und Mittel müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG hat mit seinem Menschenwürdebezug schon abstrakt ein hohes Gewicht. Der Eingriff in dieses hat hier aber aufgrund der Art der erhobenen Daten eine geringe Intensität – nur das Kennzeichen, das Kfz, die Fahrtrichtung, Zeit und Ort (§ 32 VI 2 NPOG), mithin keine weit in die Privatsphäre reichenden Umstände. Den aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz resultierenden Anforderungen an Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtlicher Kontrolle[24]BVerfG NJW 2019, 827, 835 Rn. 101. wird hier mit den S. 2-4 des § 32 NPOG und den weiteren allgemeinen Datenschutzregelungen, §§ 30 ff. NPOG, genügt. S. 2-4 mindern insofern auch die Intensität des Eingriffs.

Gefordert werden könnte die Beschränkung der Maßnahmen in § 32 VI NPOG auf besonders unfallträchtige Strecken. Auf solchen Strecken kommt der mit § 32 VI NPOG verfolgte Zweck stärker zur Geltung. Dass auf gefahrträchtigen Strecken Abschnittskontrollen besonders zweckdienlich sind, führt aber nicht dazu, dass eine Beschränkung auf eben diese Strecken verfassungsrechtlich angezeigt ist. Denkbar ist die Berücksichtigung dieses Aspektes im Rahmen der exekutiven Ermessensentscheidung. Zur Unangemessenheit der gesetzlichen Grundlage führt der Aspekt damit indes nicht.[25]Im Ergebnis auch so OVG Lüneburg NVZ 2020, 145, 146.

Damit ist § 32 VI NPOG angemessen, verhältnismäßig und materiell rechtmäßig.

Anmerkung: Aufbau
Die Rechtmäßigkeit der konkreten Abschnittskontrolle müsste bei Anhaltspunkten im Sachverhalt geprüft werden. A bezweifelt aber nicht, dass die Voraussetzungen des § 32 VI NPOG vorlagen oder dass die Ermessensentscheidung fehlerhaft war. Breite Ausführungen hierzu gingen also fehl.

IV. Ergebnis zur Begründetheit

A ist nicht in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt und hat damit keinen Anspruch auf Unterlassung der Abschnittskontrolle auf der B 6. Die Klage ist demnach unbegründet.

C. Ergebnis

Die zulässige Klage von A ist unbegründet und hat keinen Erfolg.


Zusatzfragen

Abwandlung: Vor Erlass der Rechtsgrundlage wendet sich A gegen die Section Control. Das VG Hannover erlässt eine einstweilige Anordnung und untersagt die Maßnahme mit der Begründung, der Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung beruhe nicht auf einer Ermächtigungsgrundlage. Das OVG bestätigt den Erlass der einstweiligen Anordnung. Nach Inkrafttreten der tauglichen Rechtsgrundlage möchte das Land Niedersachsen die Abschnittskontrolle nun durchführen. Welches gerichtliche Verfahren kann das Land Niedersachsen anstrengen?
In Betracht kommt ein Antrag auf Änderung der einstweiligen Anordnung. Letztere beruht auf § 123 VwGO. § 123 VwGO sieht weder selbst noch gem. Abs. 3 i.V.m. der ZPO einen Änderungsantrag vor. § 927 ZPO, der im Zivilprozess die Aufhebung des Arrestes wegen veränderter Umstände regelt, hilft nicht weiter, da § 123 III VwGO § 927 ZPO nicht mit einschließt. Möglich ist jedoch ein Änderungsantrag analog § 80 VII VwGO, der unmittelbar nur auf das Verfahren nach § 80 V VwGO anwendbar ist. Eine analoge Anwendung setzt eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage voraus. Allein dem Umstand, dass § 123 III VwGO nicht auf § 927 ZPO verweist, kann nicht entnommen werden, ein Änderungsantrag solle ausgeschlossen sein. Eine Änderung der Umstände kann im Rahmen eines Verfahrens nach § 123 VwGO ebenso eintreten wie im Verfahren nach § 80 V VwGO. Ein Änderungs- bzw. Aufhebungsbedürfnis kann in beiden Fällen gleichermaßen bestehen. Die Analogie ist damit geboten.[26]Vgl. OVG Lüneburg NJW 2019, 2951 Rn. 9; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 77 auch mit Hinweis auf einen anderen Ansatz, der sich auf § 927 ZPO analog stützt. Statthaft ist mithin ein Änderungsantrag analog § 80 VII VwGO.
Welches Gericht ist dafür zuständig?
Zuständig ist analog § 80 VII 1 VwGO das Gericht der Hauptsache. Welches dies ist, hängt davon ab, in welchem Verfahrensstadium sich die Hauptsache befindet. Ist bereits eine Berufung anhängig, dann entscheidet das OVG. Anderenfalls ist das VG zuständig.[27]Vgl. Gersdorf, in: BeckOK-VwGO, 54. Ed. 2019, § 80 Rn. 198; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 79. Selbst wenn die einstweilige Anordnung vom OVG als Beschwerdegericht (§ 146 OVG) erlassen wurde, ist das VG zuständig, sofern noch keine Berufung im Hauptsacheverfahren anhängig ist.[28]Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 79.
Wann ist ein solcher Antrag begründet?
Bei der Begründetheit des Änderungsverfahrens ist zwischen § 80 VII 1 und § 80 VII 2 VwGO zu differenzieren. S. 1 betrifft das Verfahren von Amts wegen. Bei S. 1 reicht es aus, wenn das Gericht zu einer anderen Beurteilung der Rechtslage kommt oder die Interessenabwägung nun anders ausfällt. S. 2 betrifft den hier relevanten Änderungsantrag. Dieser ist nur dann begründet, wenn veränderte Umstände vorliegen oder Umstände im vorherigen Verfahren unverschuldet nicht geltend gemacht worden sind, die im Ergebnis zu einer anderen Beurteilung führen.[29]Gersdorf, in: BeckOK-VwGO, 54. Ed. 2019, § 80 Rn. 200.. Dieser Abänderungsgrund und die damit einhergehende materielle andere Entscheidung sind glaubhaft zu machen, was zu einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage führt.[30]Gersdorf, in: BeckOK-VwGO, 54. Ed. 2019, § 80 Rn. 176..

Zusammenfassung:

1. Die Länder sind für die Regelung einer gesetzlichen Grundlage von Abschnittskontrollen zur Geschwindigkeitsüberwachung vorbehaltlich einer zukünftigen Bundesregelung gemäß Art. 70 I, Art. 72 II GG zuständig.

2. Abschnittskontrollen zur Geschwindigkeitsüberwachung greifen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG auch dann ein, wenn die Fotos nach dem Abgleich von Ein- und Ausfahrterfassungen gelöscht werden, weil eine Geschwindigkeitsüberschreitung nicht festgestellt wurde. Es besteht ein spezifisches behördliches Interesse, alle Kennzeichen zu erfassen und abzugleichen.

3. Der Eingriff wiegt nicht schwer und ist in Wahrnehmung der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 II 1 GG gerechtfertigt.


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