highlight_off
Schutzloser Fußball-Ultra

BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, https://www.bverwg.de/de/240424U6C2.22.0

Sachverhalt

(abgewandelt und gekürzt)

Am 27. April 2024 fand die Partie der Herrenbundesliga zwischen der Heimmannschaft Borussia Dortmund und Schalke 04 statt, bei dem die Polizei mit Ausschreitungen der als feindschaftlich eingeschätzten Fangruppen aus der sog. Ultraszene rechnete. In beiden Anhängergruppen befänden sich gewaltbereite und gewaltsuchende Fans. Im Stadion sowie im Innenstadtbereich wurden außerdem befreundete Ultras anderer Vereine sowie Personen erwartet, gegenüber denen ein Stadionverbot verhängt wurde.

Der in Bochum lebende A ist leidenschaftlicher Fan des Fußballclubs Borussia Dortmund und war nach Einschätzung der Polizei ein Kopf – sog. „Capo“ – der gewaltbereiten Fanszene. Aufgrund seines Verhaltens in der Vergangenheit müsse nach Ansicht der Polizei damit gerechnet werden, dass er Straftaten begehen oder sich daran beteiligen werde. So sei er im Mai 2022 an einem Landfriedensbruch beteiligt gewesen und habe einige hundert Ultras aufgerufen, eine Polizeikette zu durchbrechen. Er habe Polizeibeamte mehrmals beleidigt und habe zur Emotionalisierung heikler Situationen beigetragen. Seit dem Vorfall aus 2022 habe er sich unauffällig verhalten, was auf die Geburt des Sohnes von A zurückgeführt werden könne. Das sei nach Ansicht der Polizei aber nicht weiter relevant, weil nach polizeilicher Erfahrung Wohlverhaltensphasen oft nicht lange andauerten.

Vor diesem Hintergrund erlässt die zuständige Polizeibehörde nach Anhörung schriftlich ein Aufenthaltsverbot gegenüber A für den 27. April 2024 für einen näher begrenzten Innenstadtbereich in Dortmund und macht es ihm bekannt. Ein Platzverweis genüge nach ihrer Ansicht nicht.

A hält die Maßnahme gegen ihn für rechtswidrig und möchte sich dagegen zur Wehr setzen. Die Prozessvertreterin des beklagten Landes ist der Auffassung, dass man sich doch nicht gegen alles Mögliche zur Wehr setzen könne. Dass A sich wegen der Kurzlebigkeit der Maßnahme nicht vor Gericht wehren könne, sei sein Problem. Zumal die zuständige Polizeibehörde zugesagt habe, aufgrund des zuletzt gezeigten Wohlverhaltens und des Rückzugs des A aus seiner „Capo“-Funktion, keine entsprechenden Maßnahmen mehr aufgrund vergangener Vorfälle zu treffen. Außerdem gehe der Bescheid allein dem A zu und stelle ihn daher nicht gegenüber anderen in einem schlechten Licht dar. Auch handele es sich doch nicht um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff. A entgegnet, dass er sich hier doch nicht gegen „alles Mögliche“ wehren möchte, sondern gegen die Verletzung seiner Grundrechte. Eine umfassende Prüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme sei verfassungs- und europarechtlich notwendig. Es könne doch nicht darauf ankommen, ob ein besonders intensiver Grundrechtseingriff vorliege. Schließlich sei es doch kaum möglich, sinnvoll zwischen schwerwiegenden und nicht schwerwiegenden Eingriffen zu differenzieren.

Aufgaben:

A. Ist eine am 10. Mai 2024 eingereichte Klage des A zulässig?

B. Ist das Aufenthaltsverbot rechtswidrig?

Bearbeitungsvermerk:

Ein Vorverfahren ist für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen in NRW grundsätzlich gem. § 68 I 2 VwGO i.V.m. § 110 JustG NRW[1]S. zu weiteren gesetzlichen Ausnahmen Hüttenbrink, in: Posser et al., BeckOK-VwGO, § 68 Rn. 21 ff. nicht statthaft.

Auszug aus dem Polizeigesetz NRW

§ 2 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

(1) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat die Polizei diejenige zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt.

(2) Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.

(3) Eine Maßnahme ist nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann.

§ 3 Ermessen, Wahl der Mittel

(1) Die Polizei trifft ihre Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen.

(2) 1Kommen zur Abwehr einer Gefahr mehrere Mittel in Betracht, so genügt es, wenn eines davon bestimmt wird. 2Der betroffenen Person ist auf Antrag zu gestatten, ein anderes ebenso wirksames Mittel anzuwenden, sofern die Allgemeinheit dadurch nicht stärker beeinträchtigt wird.

§ 34 Platzverweisung[2]Vgl. aus anderen Bundesländern Art. 16 II 1 Nr. 2a PAG Bayern; § 30 II PolG Baden-Württemberg; § 16 II PolG Bbg; § 29 ASOG Berlin; § 11 II PolG Bremen; § 12b II SOG Hamburg; § 31 III SOG … Continue reading

(1) 1Die Polizei kann zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten. 2Die Platzverweisung kann ferner gegen eine Person angeordnet werden, die den Einsatz der Feuerwehr oder von Hilfs- oder Rettungsdiensten behindert.

(2) 1Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann ihr für eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung oder nimmt dort berechtigte Interessen wahr. 2Örtlicher Bereich im Sinne des Satzes 1 ist ein Gemeindegebiet oder ein Gebietsteil innerhalb einer Gemeinde. 3Die Maßnahme ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu beschränken. 4Sie darf die Dauer von drei Monaten nicht überschreiten.


Skizze


Gutachten

A. Zulässigkeit der Klage

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges richtet sich mangels aufdrängender Sonderzuweisung nach § 40 I 1 VwGO. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit ist dabei nach der modifizierten Subjektstheorie eine solche, bei der die streitentscheidenden Normen einseitig einen Träger öffentlicher Gewalt berechtigen oder verpflichten. Streitentscheidend ist hier § 34 II PolG NRW, der die zuständige Behörde als Träger öffentlicher Gewalt einseitig berechtigt. Da die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Art ist und keine abdrängende Sonderzuweisung einschlägig ist, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

II. Statthafte Klageart

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des*der Klägers*Klägerin, § 88 VwGO. A wendet sich gegen das Aufenthaltsverbot. Das an A gerichtete Aufenthaltsverbot ist eine hoheitliche Maßnahme einer Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit Außenwirkung und damit ein Verwaltungsakt gem. § 35 S. 1 VwVfG NRW (Parallelnorm zu § 35 S. 1 VwVfG). Da das Aufenthaltsverbot auf den 27.04.2024 begrenzt war, hat sich der Verwaltungsakt gem. § 43 II VwVfG NRW (Parallelnorm zu § 43 II VwVfG) durch Zeitablauf erledigt. Daher könnte eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I 4 VwGO statthaft sein. Weil § 113 I 4 VwGO direkt nur die Erledigung nach Klageerhebung und vor Aufhebungserklärung durch das Verwaltungsgericht erfasst, kommt allein eine analoge Anwendung der Norm in Betracht.

Die für die Analogie erforderliche Regelungslücke könnte aufgrund der Möglichkeit einer allgemeinen Feststellungsklage gem. § 43 I VwGO abzulehnen sein, wenn Erledigung vor Klageerhebung eintritt.[3]S. BVerwG NVwZ 2000, 63,  64. Die Befugnis zum Erlass eines Verwaltungsaktes könnte ein überprüfbares Rechtsverhältnis i.S.v. § 43 I VwGO darstellen[4]Dafür etwa Schenke, NVwZ 2000, 1255, 1257; dagegen aber Rozek, JuS 1995, 414, 415.

Für eine analoge Anwendung von § 113 I 4 VwGO spricht der Umstand, dass es nicht von der Zufälligkeit des Erledigungszeitpunkt abhängen darf, ob unterschiedliche Anforderungen an die Zulässigkeit gestellt werden.[5]Vgl. Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2023, Rn. 1421; Decker, in: Posser et al., BeckOK-VwGO, 69. Edition, 01.04.2024, § 113 Rn. 90; Schenke, NVwZ 2000, 1255, 1257. Da zumindest nach der Rspr. des BVerwG bei der Fortsetzungsfeststellungsklage im Falle der Erledigung vor Klageerhebung (und vor Bestandskraft des VA) die Fristanforderungen nach § 74 I VwGO nicht greifen und zudem ein Vorverfahren nach § 68 VwGO entbehrlich sein soll, bleiben kaum unterschiedliche Anforderungen an die Zulässigkeit von allgemeiner Feststellungsklage und Fortsetzungsfeststellungsklage, wenn Erledigung vor Klageerhebung eingetreten ist.[6]Vgl. Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 44. EL März 2023, § 113 Rn. 100, 107. Schließlich ist auch bei der Anwendung von § 43 I VwGO bei Erledigung vor Klageerhebung ein besonderes Feststellungsinteresse parallel zur Fortsetzungsfeststellungsklage erforderlich.[7]Möstl, in: Posser et al., BeckOK-VwGO, 69. Edition, 01.04.2024, Art. 43 Rn. 25. Allein das Erfordernis einer Klagebefugnis bei der Fortsetzungsfeststellungsklage (als verlängerter Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage), welche bei § 43 I VwGO nicht gleichermaßen gefordert wird, spricht für divergierende Voraussetzungen und damit dafür, die Fortsetzungsfeststellungsklage bei Erledigung vor Klageerhebung analog § 113 I 4 VwGO zu behandeln.

Jedenfalls wenn man die Fortsetzungsfeststellungsklage als besondere Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage einordnet,[8]Für eine besondere Form der Feststellungsklage hingegen Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 44. EL 2023, § 113 Rn. 107, der gleichwohl § 43 II VwGO (nicht ganz überzeugend) anwenden … Continue reading spricht zudem § 43 II VwGO für eine Spezialität des § 113 I 4 VwGO auch bei Erledigung vor Klageerhebung. § 113 I 4 VwGO ist damit die sachnähere Regelung bei einer Erledigung auch vor Klageerhebung.[9]Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 44. EL 2023, § 113 Rn. 107; so auch die überwiegende Rechtsprechung des BVerwG, vgl. BVerwG, NVwZ-RR 2011, 279, 280 m.w.N. Statthaft ist hier folglich eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I 4 VwGO.

III. Klagebefugnis

Analog[10]Str., teils wendet man § 42 II VwGO unmittelbar an, vgl. m.w.N. Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2023, Rn. 1425. § 42 II VwGO muss A geltend machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Eine Verletzung muss zumindest möglich sein. Als Adressat des belastenden VAs ist es nicht ausgeschlossen, dass A zumindest in Art. 2 I GG verletzt ist. Mithin ist A klagebefugt.

IV. Fortsetzungsfeststellungsinteresse

Analog § 113 I 4 VwGO müsste A ein besonderes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit haben.

Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein und ergibt sich typischerweise aus einer Wiederholungsgefahr, einem Rehabilitationsinteresse, aus einem Präjudizinteresse oder bei sich kurzfristig erledigenden Verwaltungsakten.[11]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 16.

1. Wiederholungsgefahr

Eine Wiederholungsgefahr setzt die Gefahr voraus, dass zukünftig eine ähnliche Maßnahme erlassen wird, sowie, dass sich die beurteilungsrelevanten rechtlichen und faktischen Umstände nicht wesentlich verändert haben.[12]BVerwG NVwZ 2013, 1481; NVwZ 2023, 1167, 1168. Vorliegend hat sich A aus seiner Stellung als Kopf der Ultraszene zurückgezogen, sodass sich die Umstände geändert haben. Zudem hat die Polizeibehörde zugesagt, keine entsprechenden Verbote mehr aufgrund vergangener Vorfälle auszusprechen.[13]So auch im Ausgangsfall, BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 17. Damit besteht keine Wiederholungsgefahr.

2. Rehabilitationsinteresse

A könnte aber ein Rehabilitationsinteresse haben. Das wäre der Fall, wenn von der ursprünglichen Maßnahme eine diskriminierende Wirkung ausginge.[14]Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl. 2024, § 18 Rn. 50. Eine diskriminierende Wirkung würde vor allem dann entfaltet, wenn die Maßnahme an ein Verschulden anknüpfte.[15]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 18. Das darf man nicht in dem Sinne missverstehen, dass für ein Rehabilitationsinteresse stets ein Verschulden erforderlich wäre. Schließlich kann sich … Continue reading Dann würde A mit der Maßnahme vorgeworfen werden, er habe sich schuldhaft falsch verhalten, was eine Stigmatisierung begründen könnte. Ein Verschuldensvorwurf ist mit der Maßnahme aber aufgrund der objektiven Verantwortlichkeit nicht verbunden, zumal auch bei den zu befürchtenden Straftaten kein Verschulden erforderlich ist, damit ein Aufenthaltsverbot gem. § 34 II PolG NRW erlassen werden kann.[16]Vgl. Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK-POR NRW, 28. Eidition, 01.02.2024, § 34 Rn. 32. Vor allem aber müsste die Maßnahme, um stigmatisierend zu wirken, nach außen wirken.[17]BVerwG NVwZ 2013, 1481, 1482; BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 18.. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Behörde das Verbot in der Öffentlichkeit oder im Umkreis von A verbreitet hat. Ein etwaiges Verbreiten durch A, ohne besondere Gründe hierfür, genügt nicht für die Außenwirkung; A hätte anderenfalls die Möglichkeit, das Rehabilitationsinteresse selbst zu schaffen.[18]Vgl. BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 18. Demnach hat A kein besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse aufgrund eines Rehabilitationsinteresses.

3. Präjudizinteresse

Anhaltspunkte für ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse aufgrund einer Präjudizwirkung der begehrten Feststellung für eine Staatshaftung bestehen nicht.

Anmerkung: Klausursituation
Der Punkt kann auch weggelassen werden, da es keine Anhaltspunkte hierzu im Sachverhalt gibt.
Vernetztes Lernen: Woraus ergibt sich die Präjudizwirkung für einen späteren Staatshaftungsprozess? Auf welche Fälle ist ein besonderes Feststellungsinteresse aufgrund der Vorbereitung eines Staatshaftungsprozesses beschränkt?
Die Präjudizwirkung ergibt sich aus der materiellen Rechtskraft gem. § 121 Nr. 1 VwGO. Die materiell rechtskräftige Entscheidung der Fortsetzungsfeststellungsklage, die sich auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bezieht, ist bindend für den Folgeprozess.[19]Näher Lindner, in: Posser et al., BeckOK-VwGO, 69. Edition, 01.10.2023, § 121 Rn. 19 f..
Dem*der Kläger*in soll es nicht zugemutet werden, in einem Amtshaftungsprozess alles erneut zu verhandeln. Aus diesem Zweck des Präjudizinteresses als besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse folgt, dass diese Fallgruppe nicht greift, wenn sich die Maßnahme schon vor der Klageerhebung erledigt hat.[20]Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl. 2024, § 18 Rn. 51. Dann kann der*die Kläger*in von vornherein einen Staatshaftungsprozess anstrengen, ohne dass die Fragen von zwei verschiedenen Gerichten doppelt geprüft werden. Es besteht kein billigenswertes Interesse, zwei Prozesse zu führen – den Verwaltungsprozess und den nachfolgenden (zivilrechtlichen) Staatshaftungsprozess.[21]Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2023, Rn. 1427. Das Zivilgericht kann die Frage der Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns auch selbst beurteilen. Dem Verwaltungsgericht kommt insoweit kein „Vorrang“ zu.

4. Besonderes Feststellungsinteresse aufgrund kurzfristiger Erledigung

A könnte jedoch ein besonderes Feststellungsinteresse aufgrund kurzfristiger Erledigung des Verwaltungsaktes haben.

a. Kurzfristige Erledigung

Voraussetzung ist zunächst, dass sich Verwaltungsakte dieses Charakters aufgrund ihrer Eigenart typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie keiner Prüfung im Hauptsacheverfahren unterlägen, wenn man ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ablehnte.[22]BVerwG NVwZ 2013, 1481, 1483; BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 19. Aufenthaltsverbote erledigen sich regelmäßig so kurzfristig, dass ihre Überprüfung im Hauptsacheverfahren einer Anfechtungsklage nicht möglich ist. Das zeigt schon die zeitliche Beschränkung in § 34 II S. 3 und 4 PolG NRW. Da das Aufenthaltsverbot gegenüber A nur für den 27.04.2024 galt, trifft diese kurzfristige Erledigung aufgrund der Eigenart des Verwaltungsakts auch im konkreten Fall zu.

Anmerkung: Typisierte oder konkrete Betrachtungsweise?
Das BVerwG bezieht die Fallgruppe zunächst auf Verwaltungsakte, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses in der Regel nicht gerichtlich im Hauptsacheverfahren überprüft werden könnten.[23]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 19; so auch BVerwG NVwZ 2013, 1481, 1483. Das deutet auf eine abstrakte Betrachtung hin, also darauf, dass maßgeblich sei, ob vergleichbare Verwaltungsakte sich typischerweise kurzfristig erledigten. Im Anschluss betrachtet das BVerwG aber den konkreten Fall und nicht typische Aufenthaltsverbote.

Zutreffend dürfte grundsätzlich eine konkrete Betrachtungsweise sein, sodass das BVerwG bereits beim Aufstellen der Anforderungen hätte anders formulieren sollen (nicht „typischerweise“, nicht „regelmäßig“). Dass eine konkrete Betrachtungsweise überzeugt, folgt aus Art. 19 IV GG, dem Gebot effektiven Rechtsschutzes, der die verfassungsrechtliche Grundlage dieser Fallgruppe ist. Art. 19 IV GG gewährleistet schließlich ein Grundrecht des konkreten Individuums.[24]S. nur Funke, in: Brosius-Gersdorf, Dreier-GG, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 4 Rn. 18. Selbst wenn sich der Verwaltungsakt im konkreten Fall kurzfristig erledigt, obwohl sich vergleichbare Verwaltungsakte typischerweise nicht kurzfristig erledigen, fordert Art. 19 IV GG (vorbehaltlich der weiteren Anforderungen an diese Fallgruppe) eine Überprüfbarkeit im Hauptsacheverfahren und damit die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses. Freilich kommen abstrakte und konkrete Betrachtungsweise häufig nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen, sodass es regelmäßig nicht entscheidungserheblich sein dürfte, ob eine abstrakte oder eine konkrete Perspektive eingenommen wird.

b. Zusätzliche Anforderung eines qualifizierten Grundrechtseingriffs

Die kurzfristige Erledigung des Verwaltungsaktes könnte eine nur notwendige und keine hinreichende Voraussetzung für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses im Sinne dieser Fallgruppe sein. Erforderlich könnte sein, dass zusätzlich ein qualifizierter, d. h. tiefgreifender oder schwergewichtiger Grundrechtseingriff vorliegen muss. Ob das der Fall ist, muss durch Auslegung ermittelt werden.

aa. Auslegung des Verwaltungsprozessrechts
(1) Wortlaut als Ausgangspunkt

Nach dem Wortlaut von § 113 I 4 VwGO muss der*die Kläger*in ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit haben. Ein belastender Verwaltungsakt greift stets zumindest in die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 I GG ein. Das prozessuale Erfordernis eines besonderen Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit liefe ohne das Erfordernis eines qualifizierten Grundrechtseingriffs leer. Das bloße Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes genügt daher nicht für ein Interesse i.S.v. § 113 I 4 VwGO. Um ein Leerlaufen des Erfordernisses eines berechtigten Interesses zu verhindern, bedarf es eines qualifizierten Grundrechtseingriffs.[25]Zum Absatz BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 24.

(2) Systematik und Telos: Ausrichtung auf Individualrechtsschutz

Insbesondere in § 42 II VwGO, der die Geltendmachung einer Rechtsverletzung voraussetzt, kommt der individualschützende Charakter des Verwaltungsprozesses zum Ausdruck. Im Verwaltungsprozess geht es nicht um die schlichte Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns, sondern um die Umsetzung subjektiv-öffentlicher Rechte. Dem wird die Anforderung eines qualifizierten Grundrechtseingriffs gerecht. Sie verhindert, dass der*die Kläger*in schlicht Verwaltungshandeln kontrollieren lässt.[26]Zum Absatz BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 25.

(3) Systematischer Bezug zur Kostenentscheidung bei Erledigung

Für das Erfordernis eines qualifizierten Grundrechtseingriffs könnte auch § 161 II 1 VwGO sprechen. Hiernach entscheidet das Gericht bei Erledigung der Hauptsache nach billigem Ermessen über die Kosten. Der Anwendungsbereich dieser Norm wäre erheblich schmäler, wenn bei sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakten das bloße Interesse an der Prüfung der Rechtmäßigkeit ausreichte und zur Fortsetzung des Prozesses bis zur Sachentscheidung führte. Die mit der Norm bezweckte Entlastung würde verfehlt. Mit der Anerkennung des Erfordernisses eines qualifizierten Grundrechtseingriffs kommt es häufiger zu der Situation, dass das Gericht nach § 161 II 1 VwGO über die Kosten nach billigem Ermessen entscheidet.[27]Zum Absatz BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 26.

Anmerkung: Klausursituation
§ 161 II 1 VwGO dürfte vielen Studierenden nicht bekannt sein. Das systematische Argument ist daher grundsätzlich nur leistbar, wenn man die Entscheidung kennt. Daher dürfte ein Fehlen dieses Arguments keine wesentlichen Punkteabzüge bedeuten.
(4) Rechtspraktisches Gegenargument: Schwierige Differenzierbarkeit

Einen qualifizierten Grundrechtseingriff für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses gem. § 113 I 4 VwGO zu fordern, könnte schließlich nicht überzeugen, wenn praktisch kaum festzustellen wäre, wann ein Grundrechtseingriff so schwerwiegend ist, dass er qualifiziert ist und damit ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse begründen kann. Die Grundrechtsordnung gibt Anhaltspunkte für die Frage, wann ein hinreichend schwerwiegender Grundrechtsverstoß vorliegt. So muss eine Überprüfung immer möglich sein, wenn eine Verletzung der Menschenwürdegarantie gem. Art. 1 I GG in Frage steht, wenn Eingriffe unter einem Richtervorbehalt stehen (Art. 13 II, Art. 104 II, III GG), bei in Art. 10 GG eingreifenden Telekommunikationsüberwachungen und bei offensichtlich fehlerhaften Maßnahmen, die objektiv willkürlich erscheinen.[28]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 33 m.w.N. aus der Rechtsprechung des BVerfG. Abseits dessen kommt es insbesondere auf das Ausmaß der Beschränkung individueller Selbstbestimmung an.[29]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 34. Sofern die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG betroffen ist, ist der Eingriff nur ausnahmsweise ausreichend gewichtig, um ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu begründen. Erforderlich ist eine Bedeutung des betroffenen Bereichs für die Persönlichkeitsentfaltung, die mit der Bedeutung spezieller Grundrechtsgüter vergleichbar ist.[30]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 35. Diese Maßgaben machen die Einschätzung, ob ein hinreichend qualifizierter Grundrechtseingriff vorliegt, operabel. Daher führt keine rechtspraktisch schwierige Differenzierbarkeit zur Fehlerhaftigkeit der Annahme, nach der ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse gem. § 113 I 4 VwGO bei kurzfristiger Erledigung der Maßnahme zusätzlich einen qualifizierten Grundrechtseingriff verlangt.

(5) Zwischenergebnis

Die Auslegung des Verwaltungsprozessrechts ergibt somit, dass zusätzlich zur kurzfristigen Erledigung ein qualifizierter Grundrechtseingriff erforderlich ist. Ein schlichtes Interesse an der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme genügt für die Fallgruppe der kurzfristigen Erledigung demnach nicht.

bb. Verfassungskonformität des Auslegungsergebnisses

Dieses Auslegungsergebnis müsste auch mit der Verfassung übereinstimmen. Anderenfalls müsste entweder eine verfassungskonforme Auslegung vorgenommen werden oder gar die Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Vorschriften anzunehmen sein, verbunden mit der Pflicht zur Vorlage beim Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 I GG.

Vernetztes Lernen: Wann kommt eine verfassungskonforme Auslegung in Betracht und wo liegen ihre Grenzen?
Eine verfassungskonforme Auslegung ist vorzunehmen, wenn von mehreren möglich erscheinenden Auslegungsergebnissen nur ein Ergebnis mit der Verfassung im Einklang steht. Dann ist nur dieses Auslegungsergebnis heranzuziehen.[31]BVerfGE 124, 25, 39; Tettinger/Mann, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 5. Aufl. 2015, Rn. 289.
Die Grenze verläuft dort, wo die Auslegung mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers im Widerspruch steht.[32]Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl. 2024, Art. 20 Rn. 68 m.w.N.; Tettinger/Mann, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 5. Aufl. 2015, Rn. 290
Ist diese Grenze überschritten, muss das auslegende Gericht nach Art. 100 I GG vorlegen. Hält es sich nicht daran, ist das Gebot des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 I 2 GG verletzt.[33]BVerfG NVwZ 2015, 510, 513 u. 517.

Dass bei einem sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakt ein qualifizierter Grundrechtseingriff hinzutreten muss, damit ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse gem. § 113 I 4 VwGO besteht, muss insbesondere Art. 19 IV 1 GG entsprechen. Nach Art. 19 IV 1 GG steht der Rechtsweg offen, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt ist. Es muss ein effektiver Rechtsschutz, eine wirksame gerichtliche Kontrolle bestehen.[34]BVerfG NJW 2004, 2510, 2510 f.; NVwZ 2017, 305, 305. Es ist allerdings schon immanente Bedingung der Rechtsweggarantie, dass die betroffene Person auch ein Rechtsschutzbedürfnis aufweist.[35]Funke, in: Brosius-Gersdorf, Dreier-GG, 4. Aufl. 2023, Art. 19 Abs. 4 Rn. 76. An ein solches Rechtsschutzbedürfnis dürfen, damit die Rechtsweggarantie gem. Art. 19 IV GG nicht übermäßig beschränkt wird, nur sachlich begründete Anforderungen gestellt werden.[36] BVerfG NJW 2004, 2510, 2511; BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 28. Die Garantie effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht, dass Verwaltungsgerichte auch noch in Anspruch genommen werden, wenn sich die Maßnahme erledigt hat und die Einschätzung der Rechtslage nach der Erledigung wirkungslos ist.[37]BVerfG NJW 2002, 2456, 2456. Etwas anderes gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei gewichtigen Grundrechtseingriffen; dann fordert die Rechtsweggarantie die Überprüfbarkeit der erledigten Maßnahme.[38]BVerfG NJW 2004, 2510, 2511; NJW 2017, 545, 545. Der sachliche Grund für diese nähere Konturierung des Rechtsschutzbedürfnisses liegt in der Entlastung der Gerichte, die auch damit einen effektiveren Rechtsschutz für andere Rechtsschutzsuchenden gewährleisten können.[39]BVerfG NJW 2002, 2456, 2456. Ferner wird diese Sichtweise gerade der auch in der Rechtsweggarantie implizierten Ausrichtung des Verwaltungsprozesses auf den Individualrechtsschutz gerecht.[40]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 29.

Vor diesem Hintergrund entspricht es der Garantie effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 IV 1 GG, dass nicht alle erledigten Maßnahmen einer gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden können müssen.[41]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 30.

cc. Europarechtskonformität des Auslegungsergebnisses

Dass es bei der Fallgruppe der kurzfristigen Erledigung auch eines qualifizierten Grundrechtseingriffs bedarf, damit ein berechtigtes Fortsetzungsfeststellungsinteresse besteht, könnte jedoch eine europarechtswidrige Auslegung von § 113 I 4 VwGO sein. Art. 47 I GRCh verbürgt ein Recht auf effektiven Rechtsschutz. Damit Art. 47 I GRCh für das Aufenthaltsverbot relevant ist, müsste die GRCh anwendbar sein. Nach Art. 51 GRCh gilt die Charta für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts. § 34 II PolG NRW setzt weder Vorgaben des Unionsrechts um, noch besteht sonst ein Bezug zum Unionsrecht, sodass Art. 47 I GRCh schon keine Anwendung findet.[42]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 31.

Darüber hinaus könnte aus Art. 47 I GRCh auch inhaltlich keine Verpflichtung folgen, bei erledigten Maßnahmen eine Überprüfung zu ermöglichen, wenn kein gewichtiger Grundrechtseingriff vorliegt. Art. 47 I GRCh verbietet den Mitgliedsstaaten nicht, ein qualifiziertes Interesse des*der Klägers*Klägerin am Rechtsschutz zu fordern, und verpflichtet sie nicht, ein nur abstraktes Rechtsklärungsinteresse beim Zugang zum Gericht ausreichen zu lassen.[43]BVerwG NVwZ 2013, 1481, 1484 f.; BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 31.

Demnach stehen weder Verfassungsrecht noch Europarecht der Auslegung entgegen, nach der es für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses gem. § 113 I 4 VwGO in der Fallgruppe der kurzfristigen Erledigung des Verwaltungsaktes eines qualifizierten Grundrechtseingriffs bedarf.

c. Qualifizierter Grundrechtseingriff im konkreten Fall

Damit A ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse aufgrund kurzfristiger Erledigung des Verwaltungsaktes hat, muss weiterhin ein qualifizierter Grundrechtseingriff in Rede stehen.

aa. Berührtes Grundrecht

Fraglich ist, welches Grundrecht des A durch das Aufenthaltsverbot betroffen ist.

Gem. Art. 11 I GG genießen alle Deutschen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. Geschützt ist neben der Wohnsitznahme die Aufenthaltsnahme, also das Verweilen an einem Ort über eine gewisse Dauer und Bedeutung.[44]S. nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl. 2024, Art. 11 Rn. 2. A wird es hier aufgrund der zeitlichen Beschränkung des Aufenthaltsverbots auf einen Tag nicht unmöglich gemacht, einen näher bestimmten Innenstadtbereich Dortmunds für eine ausreichend erhebliche Dauer und zu einer ausreichend erheblichen Bedeutung aufzusuchen. Der Schutzbereich des Grundrechts der Freizügigkeit gem. Art. 11 I GG ist daher nicht berührt.

Nach Art. 2 II 2 GG ist die Freiheit der Person unverletzlich. Geschützt ist die tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit und zwar grundsätzlich die Freiheit, einen Ort aufzusuchen und sich dort aufzuhalten; geschützt ist aber nicht die Befugnis, sich überall hin bewegen zu können.[45]BVerfG NJOZ 2021, 1391, 1397; NJW 2022, 139, 158. Unabhängig der Frage, ob die Freiheit, einen bestimmten Ort aufzusuchen, tatsächlich von Art. 2 II 2 GG geschützt ist,[46]Ablehnend etwa Epping/Lenz/Leydecker, Grundrechte, 10. Aufl. 2024, Rn. 717; bezogen auf das Aufenthaltsverbot auch Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK-POR NRW, 28. Edition, 01.02.2024, § 34 Rn. 28. gewährleistet die Norm jedenfalls keinen Schutz davor, einen eng umgrenzten Ort für nur wenige Stunden nicht aufsuchen zu dürfen.[47]BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 41. Das Aufenthaltsverbot greift damit nur in Art. 2 I GG, die allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht ein.

Anmerkung: Klausursituation
In der Klausur wäre es wohl auch vertretbar eine Betroffenheit von Art. 2 II 2 GG zu bejahen, v.a. mit der Definition des BVerfG, dass von Art. 2 II 2 GG auch das Aufsuchen eines Ortes geschützt sei. Besonders positiv wäre eine Auseinandersetzung mit der Problematik. Das BVerwG geht etwas lapidar über die Frage hinweg.[48]S. BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 41. Nimmt man eine Betroffenheit von Art. 2 II 2 GG an, ist der grundrechtliche Schutz zwar prima facie höhergewichtig als bei der allgemeinen Handlungsfreiheit. Daraus folgt aber noch nicht, dass es sich um einen qualifizierten Grundrechtseingriff handelt, sodass das Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen wäre. Vielmehr handelt es sich nicht um eine Freiheitsentziehung, für die die Wertung aus Art. 104 II GG ergibt, dass es einer Überprüfbarkeit im Hauptsacheverfahren auch nach der Erledigung bedarf.[49]S. schon oben und BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 33. Eine intensive Beeinträchtigung ist es hier wohl nicht, sodass ein qualifizierter Grundrechtseingriff auch bei der Annahme eines Eingriffs in Art. 2 II 2 GG abgelehnt werden müsste.

bb. Qualifizierter Grundrechtseingriff

Ein Eingriff in Art. 2 I GG ist nur dann qualifiziert, sodass sich ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei kurzfristiger Erledigung ergeben kann, wenn der betroffene Bereich eine gesteigerte, dem Schutzgut der speziellen Grundrechte ähnliche Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung aufweist. Vorliegend wird es A nur verboten, für die Dauer eines Tages einen näher umgrenzten räumlichen Bereich aufzusuchen. Es wird lediglich die Möglichkeit seiner Freizeitgestaltung in einem recht begrenzten Bereich erschwert. Da hierfür ein objektiver Maßstab anzulegen ist, um den Ausnahmecharakter der Überprüfbarkeit erledigter Maßnahmen beizubehalten, kommt es nicht darauf an, ob die Freizeitgestaltung für A als Individuum einen gesteigerten Wert hat.[50]Zum Absatz BVerwG, Urt. v. 24.04.2024 – 6 C 2.22, Rn. 42.

d. Zwischenergebnis

Damit liegt kein qualifizierter Grundrechtseingriff vor. Damit ist eine Anforderung an das Vorliegen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresse gem. § 113 I 4 VwGO bei kurzfristiger Erledigung der Maßnahme nicht erfüllt, sodass A kein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme hat.

V. Ergebnis

Die Fortsetzungsfeststellungsklage von A analog § 113 I 4 VwGO ist unzulässig.

B. Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsverbots

Das auf § 34 II PolG NRW gestützte Aufenthaltsverbot könnte rechtswidrig sein.

Anmerkung: Entscheidung des BVerwG
Der 6. Senat des BVerwG verhält sich nicht mehr zur Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsverbots, da er schon von der Unzulässigkeit der Klage ausgeht.

I. Formelle Voraussetzungen

Laut Sachverhalt handelte die zuständige Behörde. Ferner wurde A gem. § 28 I VwVfG NRW (Parallelnorm zu § 28 I VwVfG) angehört. Das Aufenthaltsverbot wurde schriftlich, s. § 37 II VwVfG NRW (Parallelnorm zu § 37 II VwVfG), erlassen und war inhaltlich hinreichend bestimmt i.S.v. § 37 I VwVfG NRW (Parallelnorm zu § 37 I VwVfG). Die formellen Anforderungen wurden also eingehalten.

II. Materielle Voraussetzungen

Nach § 34 II PolG NRW mussten Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird. A war eine führende Figur in der gewaltbereiten Ultraszene. Er ist durch Straftaten des Landfriedensbruchs und der Beleidigung in Erscheinung getreten. Auch wenn die Wohlverhaltensperiode des A schon etwas andauerte, konnte nach polizeilicher Erfahrung davon ausgegangen werden, dass sich das Verhalten erneut ändern, A Straftaten begehen oder sich an der Begehung beteiligen würde. Bei dem fraglichen Spiel handelte es sich um ein Hochrisikospiel, bei dem ganz besonders mit Gewalttaten zu rechnen war, zu denen A als ehemaliger „Capo“ zumindest hätte beitragen können. Im Sinne einer anzustellenden Prognoseentscheidung war die Begehung bzw. ein Beitrag zur Begehung von Straftaten durch A hinreichend wahrscheinlich.[51]Zur Prognoseentscheidung Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK-POR NRW, 28. Eidition, 01.02.2024, § 34 Rn. 36 f. Damit rechtfertigten Tatsachen die Annahme, dass A in Dortmund im Zusammenhang mit dem Fußballspiel am 27.04.2024 Straftaten begangen hätte oder zur Begehung hätte beitragen können.

Eines Rückgriffs auf die Vorschriften zur polizeirechtlichen Verantwortlichkeit bedarf es nicht. § 34 II PolG NRW bestimmt abschließend, wer richtiger Adressat der Maßnahme ist.[52]Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK-POR NRW, 28. Eidition, 01.02.2024, § 34 Rn. 38 ff. Da gerade bei A mit der Begehung bzw. einem Beitrag zur Begehung zu rechnen war, hat die Polizei das Aufenthaltsverbot richtigerweise an ihn adressiert.

Die Polizeibehörde begrenzte das Aufenthaltsverbot auch auf einen bestimmten räumlichen Bereich und begrenzte es zeitlich in Übereinstimmung mit § 34 II PolG NRW. Die materiellen Voraussetzungen für den Erlass des Aufenthaltsverbots lagen demnach vor.

III. Rechtsfolge

§ 34 II PolG NRW räumt der Polizeibehörde Ermessen ein. Nach § 40 VwVfG NRW (Parallelnorm zu § 40 VwVfG) hat sie ihr pflichtgemäßes Ermessen, vgl. § 3 I PolG NRW, am Zweck der Ermächtigung auszurichten und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die Polizeibehörde könnte ihr Ermessen überschritten haben, indem sie eine von der gesetzlichen Rechtsfolge nicht gedeckte Maßnahme traf. Das wäre u.a. dann der Fall, wenn die Maßnahme nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gem. § 2 PolG NRW übereinstimmt.

1. Zweck und Eignung

Das Aufenthaltsverbot bezweckt, A daran zu hindern Straftaten zu begehen oder zu ihnen beizutragen. Jedenfalls durch die abschreckende Wirkung des Verbots ist es zweckförderlich und mithin geeignet gem. § 2 I PolG NRW.

2. Erforderlichkeit

Als milderes Mittel gegenüber einem Aufenthaltsverbot für den 27.04.2024 kommt ein Platzverweis gem. § 34 I 1 PolG NRW in Betracht. Hiernach kann die Polizei zur Gefahrenabwehr einer Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten. Da sich der Platzverweis nur auf einen engeren begrenzten Ort bezieht und das Aufenthaltsverbot einen ganzen örtlichen Bereich umfasst, hätte auch ein Platzverweis gegenüber A nur bezogen und begrenzt auf einzelne Orte erfolgen können, wohl aber nicht für den Innenstadtbereich Dortmunds.[53]Näher zu den räumlichen Unterschieden Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK-POR NRW, 28. Eidition, 01.02.2024, § 34 Rn. 50. Bei einem auf einen kleineren Ort beschränkten Platzverweis hätte A, um Straftaten zu begehen oder zu ihnen beizutragen, ausweichen und andere Orte im Innenstadtbereich, in denen sich Fangruppen aufhalten, aufsuchen können. Damit ist der Platzverweis nicht gleichermaßen geeignet und das Aufenthaltsverbot das mildeste effektive Mittel.

3. Angemessenheit

Nach § 2 II PolG darf die Maßnahme nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.

Das Gewicht des Ziels ist grundsätzlich hoch. Da A in der Vergangenheit vor allem durch Beleidigungsdelikte – immerhin aber auch durch Landfriedensbruch gem. § 125 StGB – in Erscheinung getreten ist, ist das Gewicht etwas verringert.

Hier handelt es sich lediglich um Fragen der Freizeitgestaltung, sodass das Gewicht des Interesses von A reduziert sein könnte. Zu berücksichtigen ist aber, dass A ein leidenschaftlicher Fan ist und das individuelle Interesse daher von einigem Gewicht ist. A hat sich seit einiger Zeit friedlich verhalten, was auch die Polizeibehörde als Veranlassung sieht, keine weiteren Aufenthaltsverbote aufgrund vergangener Straffälligkeiten zu verhängen. Zwar handelte es sich hier um ein Hochrisikospiel, welches einige Polizeikräfte bindet. Es bestand aber wohl weiterhin die zwar etwas weniger effektive, aber erheblich mildere Möglichkeit, gegenüber A vor Ort einen Platzverweis oder kurzfristig ein Aufenthaltsverbot auszusprechen, sofern es in concreto nahegelegen hätte, dass er Straftaten begehen wird.

Damit hat die Polizeibehörde eine unangemessene Maßnahme getroffen und die Grenzen ihres Ermessens überschritten.

IV. Ergebnis

Das Aufenthaltsverbot war rechtswidrig.

Anmerkung: Klausursituation
Eine andere Ansicht ist mit entsprechender Argumentation gut vertretbar.

Zusatzfragen

1. Ist die Fortsetzungsfeststellungsklage fristgebunden?
War im Zeitpunkt der Erledigung des Verwaltungsaktes eine Anfechtungsklage verfristet, ist auch eine Fortsetzungsfeststellungsklage verfristet. Das ist unstreitig. Eine unzulässige Anfechtungsklage kann nicht aufgrund der Erledigung zu einer zulässigen Fortsetzungsfeststellungsklage werden.
Umstritten ist der Fall, dass die Anfechtungsklage im Zeitpunkt der Erledigung hätte erhoben werden können, der VA bei der Erledigung also noch nicht bestandskräftig war. Teils wird eine Fristbindung auch der Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß oder analog § 74 I VwGO befürwortet.[54]So z.B. Schenke, JuS 2007, 697, 700. Dagegen spricht, dass die Fortsetzungsfeststellungsklage ihrer Natur nach eine Feststellungsklage und keine Anfechtungsklage (bzw. Verpflichtungsklage) ist. Feststellungsklagen unterliegen keiner Fristbindung. Auch die Zwecke der Frist – Rechtssicherheit herzustellen und Vertrauensschutz dadurch zu gewährleisten, dass der Verwaltungsakt bestandskräftig wird – greifen bei bereits erledigten Verwaltungsakten nicht.[55]So die h.M. vgl. Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2023, Rn. 1433 f.; aus der Rspr. vgl. nur BVerwG NVwZ 2000, 63, 64; VGH München BeckRS 2018, 21843, Rn. 21.
2. Wäre ein Vorverfahren nicht wie im Fall unstatthaft: Bedarf es eines solchen im Falle einer Fortsetzungsfeststellungsklage?
Die Fortsetzungsfeststellungsklage tritt an die Stelle einer ursprünglich statthaften Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage. Ist eine solche unzulässig, darf an ihrer statt nicht eine zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage treten. Unzulässig ist daher auch eine Fortsetzungsfeststellungsklage, wenn eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage im Zeitpunkt der Erledigung unzulässig gewesen wäre. Tritt Erledigung nach Ablauf der Widerspruchsfrist nach § 70 VwGO ein, muss ein Widerspruch eingeleitet sein, anderenfalls ist die Fortsetzungsfeststellungsklage unzulässig. (Hier lassen sich Probleme mit der Rechtsbehelfsbelehrung gut in eine Klausur einbauen, §§ 70 II, 58 VwGO.)[56]Zu diesem Absatz Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2023, Rn. 1428 f.
Erledigt sich der Verwaltungsakt vor Ablauf der Widerspruchsfrist, ist ein Widerspruchsverfahren hingegen nach h.M. nicht durchzuführen und nicht statthaft. Nach einer anderen Ansicht ist hingegen auch bei Erledigung vor Ablauf der Widerspruchsfrist die Durchführung eines Vorverfahrens erforderlich. Für die h.M. spricht die teleologische Auslegung: Der Verwaltung ist es nicht mehr möglich, den Verwaltungsakt wegen Unzweckmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit aufzuheben, wenn er erledigt ist.[57]Vgl. zu den Zwecken Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2023, Rn. 1354. Berücksichtigt man den weiteren Zweck des Vorverfahrens, dem*der Kläger*in eine weitere Rechtsschutzmöglichkeit zu geben, könnte man auch der Minderheitsmeinung folgen. Anders ist es hingegen, wenn das Interesse gerade in der gerichtlichen Feststellung liegt. Für die h.M. spricht auch, dass die VwGO die behördliche Feststellung der Rechtswidrigkeit nicht vorsieht. Dem kann entgegnet werden, dass, wenn gem. § 44 V VwVfG die Nichtigkeit des VA jederzeit von der Behörde festgestellt werden kann, eine behördliche Feststellung der Rechtswidrigkeit erst recht möglich sein muss. Andererseits könnte man wie in § 44 V VwGO eine Entscheidung des Gesetzgebers fordern und das vorherige a-fortiori-Argument damit ablehnen.[58]Zu diesem Absatz und Streit Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2023, Rn. 1430 f.; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl. 2024, § 18 Rn. 55.

Zusammenfassung

1. Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse gem. § 113 I 4 VwGO verlangt in der Fallgruppe des sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsaktes zusätzlich einen qualifizierten Grundrechtseingriff.

2. Das Vorliegen eines qualifizierten Grundrechtseingriffs, bemisst sich nach der grundgesetzlichen Ordnung. Ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 I GG ist nur dann qualifiziert, wenn der betroffene Bereich eine gesteigerte, dem Schutzgut der speziellen Grundrechte ähnliche Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung aufweist.

[+]

Schreibe einen Kommentar