BGH, Beschluss vom 10.05.2023 – 4 StR 515/22 – NStZ 2023, 677
Sachverhalt
A verschafft sich unter einem Vorwand Zutritt zu dem Wohnhaus der O. Als O für A ersichtlich bemerkt, dass sie getäuscht wird, fesselt A sie mit Klebeband an einen Stuhl, um sie dazu zu bringen, ihm aus Sorge um ihr Wohl das Versteck des Tresorschlüssels zu nennen. Mit diesem will er den ihm bekannten Tresor öffnen und das darin befindliche Bargeld entwenden. Unter dem Eindruck der Fesselung und des Gesamtgeschehens erklärt O sich bereit, das Versteck des Tresorschlüssels zu nennen. Der Tresor lässt sich mit dem Schlüssel aber nicht öffnen, weil O ihn unbemerkt nach der letzten Benutzung verbogen hat. A sieht keine andere Möglichkeit, an das Bargeld zu gelangen. Er sperrt O in ein Badezimmer ihres Hauses ein und verlässt das Haus.
Strafbarkeit von A?
Skizze
Gutachten
A. Strafbarkeit gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b) StGB
A könnte sich der schweren räuberischen Erpressung gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b) StGB schuldig gemacht haben, indem er O an den Stuhl fesselte, um sie dazu zu bringen, ihm den Aufbewahrungsort des Tresorschlüssels zu zeigen.
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Qualifiziertes Nötigungsmittel
Als qualifiziertes Nötigungsmittel kommen sowohl Gewalt als auch Drohung in Betracht. Gewalt ist die nicht unerhebliche körperliche Kraftentfaltung, die bei dem Opfer einen körperlich wirkenden Zwang erzielt und der Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands dient. Indem A die O fesselt, entfaltet er körperliche Kraft, die sich unmittelbar bei O physisch äußert und ihre Fortbewegung und Verteidigung hindert. Es kann an dieser Stelle dahinstehen, ob auf die Fesselung noch eine konkludente Drohung mit weiterer Gewaltanwendung folgt. Ein qualifiziertes Nötigungsmittel liegt vor.
Anmerkung: Zur Unterscheidung der Fesselungsgewalt von der konkludenten Drohungb) Nötigungserfolg (Vermögensverschiebung)
Sodann müsste durch das qualifizierte Nötigungsmittel ein Nötigungserfolg eingetreten sein. Ob das jedes Handeln, Dulden oder Unterlassen sein kann, das letztlich zu einem Vermögensschaden führt oder eine Vermögensverschiebung darstellt, ist umstritten. Da die Rechtsprechung davon ausgeht, dass es sich bei dem Raub um eine Qualifikation der räuberischen Erpressung handelt, fordert sie keine Vermögensverschiebung. Sowohl der Raub als auch die räuberische Erpressung seien demnach Fremdschädigungsdelikte. Die überwiegende Literatur hingegen will die Strukturähnlichkeit von räuberischer Erpressung und Betrug anerkennen, behandelt beide als Selbstschädigungsdelikte und erfordert demnach eine Vermögensverfügung. In der Folge stehen Raub und räuberische Erpressung in einem Exklusivitätsverhältnis.
Eine Stellungnahme könnte hier dahinstehen, falls beide Ansichten die Abgrenzungsfrage im Ergebnis gleich beantworten. Die Rechtsprechung will es dafür auf das äußere Erscheinungsbild ankommen lassen: Nimmt der Täter, so handelt es sich um einen Raub; übergibt das Opfer, geht es um eine räuberische Erpressung. In der Literatur wird hingegen überwiegend – nämlich ausgehend von dem Erfordernis einer Vermögensverfügung – darauf abgestellt, ob das Opfer aus seiner Perspektive noch Schlüsselperson für die Erlangung der Sache durch den Täter ist. Wenn nämlich dem Opfer aus seiner Sicht ohnehin keine Möglichkeit verbleibt, handelt es sich um einen Raub; die Erlangung der Sache ist nicht mehr von der Willensbildung des Opfers abhängig. Unabhängig davon, ob man auf den Erhalt des Tresorschlüssels oder den des Tresorinhalts abstellt, ist nach dem äußeren Erscheinungsbild von einem Raub auszugehen. Der A nimmt sich nämlich den Tresorschlüssel. Nach der Literaturauffassung hingegen ist dadurch, dass der Schlüssel in der Wohnung versteckt ist, der A davon abhängig, dass die O den Aufenthaltsort preisgibt. Sie bleibt also Schlüsselperson für die Erlangung der Sache. Da beide Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist eine Stellungnahme notwendig.
Für die Rechtsprechung könnte zunächst sprechen, dass sich das Merkmal der Vermögensverfügung und damit der Grund dafür, auf die innere Willensrichtung des Opfers abzustellen, nicht dem Wortlaut entnehmen lässt. Dem ist jedoch zu erwidern, dass auch dem § 263 StGB das Merkmal der Vermögensverschiebung nicht zu entnehmen ist, ihre Zugehörigkeit zum tatbestandlichen Programm derweil aber unbestritten bleibt. Die Rechtsprechung argumentiert weiter, dass durch die Forderung der Vermögensverschiebung Strafbarkeitslücken entstehen, wenn etwa eine Zueignungsabsicht zu verneinen ist und zum Zwecke der Gebrauchsanmaßung einer Sache vis absoluta eingesetzt wird. Das aber ist ein kriminalpolitisches Anliegen und kann nicht über die dogmatischen, insbesondere systematischen Schwächen hinwegtäuschen, will man von einem lex specialis-lex generalis-Verhältnis von § 249 StGB zu §§ 253, 255 StGB ausgehen: Erstens ist es unüblich – und ansonsten nur nach dem kritikwürdigen Rechtsprechungsverständnis von §§ 211 f. StGB bekannt –, dass das Grunddelikt hinter der Qualifikation verortet werden soll. Ebenso ist es zweitens fragwürdig, dass das Grunddelikt auf die Qualifikation verweist. Daraus ergibt sich drittens, dass es nicht überzeugt, dass Grunddelikt und Qualifikation den gleichen Strafrahmen haben sollen. Es ist daher vorzugswürdig, mit der überwiegenden Literatur von einem Exklusivitätsverhältnis und damit zusammenhängend von einer Abgrenzung nach der inneren Willensrichtung auszugehen.[1]Zum Gesamten vgl. Schladitz, JA 2022, 89; Bode, JA 2017, 110. Danach liegt hier eine Vermögensverschiebung vor, weil nach der Vorstellung der O ihre Mitwirkung unerlässlich ist, um an den Tresorschlüssel zu gelangen.
c) Vermögensschaden
Es müsste auch ein Vermögensschaden eingetreten sein. Der Schaden ist durch einen Vergleich des Vermögens vor der Verfügung und nach der Verfügung im Wege der Gesamtsaldierung zu ermitteln. Letztlich liegt in der Übergabe des Schlüssels jedoch noch kein Vermögensschaden, weil nicht zu befürchten stand und von A nicht geplant war, dass er den Schlüssel mitnehmen würde. Da der Schlüssel den Tresor nicht öffnen kann, fehlt es letztlich an einem Vermögensschaden.[2]Anders anscheinend Bosch, JURA 2023, 1481.
2. Zwischenergebnis
Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt.
II. Ergebnis
A hat sich nicht gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b) StGB strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b), 22, 23 I StGB
A könnte sich durch gleiches Verhalten des versuchten schweren räuberischen Diebstahls gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b), 22, 23 I StGB schuldig gemacht haben.
I. Vorprüfung
Mangels Eintritt des Vermögensschadens ist das Delikt nicht vollendet. Da es sich bei §§ 253, 255, 250 StGB um ein Verbrechen mit einer Mindestfreiheitsstrafe von nicht unter einem Jahr (sonst Vergehen) handelt (§ 12 I StGB), ist der Versuch strafbar.
II. Tatbestand
1. Tatentschluss
Da A davon ausgeht, dass der abgepresste Schlüssel den Tresor öffnen würde, handelt er mit Tatentschluss nicht nur hinsichtlich des qualifizierten Nötigungsmittels, sondern auch hinsichtlich des Vermögensschadens.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Vermögensschaden nach der Vorstellung des A auf der Vermögensverfügung oder einer gesonderten Wegnahme beruht. Denn stellt man letztlich auf die Entnahme des Geldes aus dem Tresor als Vermögensschaden ab, so könnte man auch meinen, dass diese nicht unmittelbar auf der Nennung des Aufbewahrungsortes des Schlüssels beruht, sondern auf einer eigenständigen Entnahme durch den Täter. Diese Entnahme wäre nach seiner Vorstellung dann aufgrund der Schlüsselgewalt wohl nicht mehr von dem Willen des Opfers abhängig. Mit diesem Gedanken würde man das Geschehen als versuchten Raub, nicht als versuchte räuberische Erpressung einordnen. Es liegt hier aber ein anderes nahe, nämlich dass nach der Vorstellung des A dem Erhalt des Schlüssels selbst schon ein eigenständiger Vermögenswert zukommt, der – wie gezeigt – nach der vorzugswürdigen Ansicht durch Vermögensverfügung der O eintritt. Der eigenständige Vermögenswert ergibt sich nämlich aus der – nur nach der Vorstellung des A – unmittelbaren Verwendbarkeit, um an das Geld im Tresor zu gelangen. [3]Dazu Bosch, JURA 2023, 1481 m.w.N. aus der widersprüchlichen Rechtsprechung.
Daneben hat A einen Tatentschluss bzgl. des Qualifikationstatbestandes gem. § 250 I b) StGB, indem er vorhatte, die O mit Klebeband an den Stuhl zu fesseln und so potenziellen Widerstand zu überwinden.
2. Unmittelbares Ansetzen
Indem A die O fesselt und sich den Aufenthaltsort des Schlüssels sagen lässt, hat er die Schwelle zum „Jetzt-gehts-los“ überschritten und nach seiner Vorstellung wären keine weiteren wesentlichen Zwischenschritte bis zur Vollendung der Tat notwendig gewesen. Er hat unmittelbar angesetzt.
III. Rechtswidrigkeit und Schuld
A handelt rechtswidrig und schuldhaft.
IV. Rücktritt
A tritt nicht strafbefreiend vom Versuch zurück, da der Versuch fehlgeschlagen ist, A also aus seiner Sicht mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr an die Gegenstände im Tresor gelangen konnte.
V. Ergebnis
A hat sich gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b), 22, 23 I StGB schuldig gemacht.
C. Strafbarkeit gem. § 239a I 1. Var. StGB
A könnte sich durch gleiches Verhalten zusätzlich des erpresserischen Menschenraubes gem. § 239a I 1. Var. StGB strafbar gemacht haben.
Vernetztes Lernen: Wo liegen die Unterschiede zwischen Para. 239a StGB und Para. 239b StGB?I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand: Sich-Bemächtigen
Zunächst müsste A sich der O bemächtigt haben. Von einem Sich-Bemächtigen kann gesprochen werden, wenn die Verfügungsgewalt über den Körper eines anderen erlangt wird, der dadurch an einer freien Bestimmung über sich selbst gehindert wird.[4]Rengier, BT I, § 24 Rn. 7. Durch die Fesselung der O an den Stuhl erlangt die A die Verfügungsgewalt über den Körper der O.
Vernetztes Lernen: Wieso ist es für den Para. 239a StGB relevant, welcher Auffassung man bei der Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung folgt?2. Subjektiver Tatbestand
a) Vorsatz
A handelt auch vorsätzlich hinsichtlich des Sich-Bemächtigens.
b) Erpressungsabsicht
Fraglich ist, ob auch eine Erpressungsabsicht als besonderes subjektives Merkmal (sog. überschießende Innentendenz) zu bejahen ist. Erforderlich ist ausgehend vom Wortlaut zunächst einmal, dass der Täter die Absicht hat, die Sorge des Opfers um sein Wohl (Zwei-Personen-Konstellation) oder die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers (Drei-Personen-Konstellation) zu einer Erpressung (§ 253 StGB) auszunutzen. A fesselt die O gerade, um Sorge um ihr eigenes Wohl auszulösen und sie dazu zu bringen, ihr das Versteck des Tresorschlüssels zu nennen.
Vernetztes Lernen: Wieso ist die Frage nach der Unmittelbarkeit der Vermögensminderung durch den Erhalt des Schlüssels in der Vorstellung des A für Para. 239a StGB relevant, wenn man der überwiegenden Literatur folgt?Gleichwohl ist zu beachten, dass § 239a StGB im Zwei-Personen-Verhältnis restriktiv auszulegen ist. Gründe dafür bestehen in der erheblichen Strafandrohung, der frühen Vollendung, sodass Rücktrittshandlungen im Hinblick auf § 255 StGB ins Leere laufen würden, und starken Überschneidungen mit den §§ 253, 255 StGB im Generellen, wenn es um Zwei-Personen-Verhältnisse geht.[5]Rengier, BT I, § 24 Rn. 17; vgl. insbesondere BGHSt 40, 350 (Großer Senat); sowie Kudlich/Schütz, NStZ 2023, 678. Um den Unterschied zur (räuberischen) Erpressung hervorzuheben, wird der Charakter als sog. unvollkommenes zweiaktiges Delikt betont: Der Täterwille muss dahingehen, die durch die Bemächtigung geschaffene Zwangslage für einen zweiten Nötigungsakt auszunutzen (sog. Ausnutzungsbewusstsein). Das ist gerade nicht der Fall, wenn die Bemächtigung keine eigenständige Bedeutung erlangt, weil Bemächtigungs- und Nötigungshandlung in einem Akt zusammenfallen. Eine eigenständige Bedeutung lässt sich andererseits vor allem dort annehmen, wo sich die Bemächtigungssituation stabilisiert hat.[6]Rengier, BT I, § 24 Rn. 18 ff.
Anmerkung: Faustformel als KontrollfrageVorliegend könnte man nun versucht sein, davon auszugehen, dass es die Fesselung ist, die sowohl die Bemächtigung als auch die Erpressungshandlung darstellen soll.[8]So BGH NStZ 2023, 677. Schließlich hat die O sich bereit erklärt, unter dem Eindruck der Fesselung den Tresorschlüssel herauszugeben. Näher liegt es jedoch, dass es nicht die Gewalteinwirkung der Fesselung als solcher ist, die O letztlich bewegt, sondern die konkludente Drohung, weitere Gewalt anzuwenden, die dann auf der Bemächtigungslage aufbaut.[9]So auch Kudlich/Schütz, NStZ 2023, 678. Denn nicht nur die Fesselung, sondern auch andere nicht weiter benannte Umstände der Gesamtsituation bewegen letztlich die O zur Nennung des Verstecks.
Anmerkung: Anwendung der FaustformelII. Rechtswidrigkeit und Schuld
A handelt rechtswidrig und schuldhaft.
III. Ergebnis
A hat sich gem. § 239a I 1. Var. StGB schuldig gemacht.
D. Strafbarkeit gem. § 239 StGB durch Fesselung
Durch die Fesselung der O macht sich A der Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB schuldig.
E. Strafbarkeit gem. § 239 StGB durch Einsperren in das Badezimmer
Indem A die O ins Badezimmer einsperrt und das Haus verlässt, macht er sich der Freiheitsberaubung gem. § 239 I StGB schuldig.
F. Konkurrenzen und Gesamtergebnis
Die versuchte schwere räuberische Erpressung gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b), 22, 23 I StGB steht in Idealkonkurrenz zum erpresserischen Menschenraub gem. § 239a I Var. 1 StGB. Die Freiheitsberaubung durch Fesselung tritt dahinter zurück. Die Freiheitsberaubung durch Einsperren in das Badezimmer steht wiederum in Idealkonkurrenz. A hat sich des erpresserischen Menschenraubes gem. § 239a I Var. 1 StGB in Tateinheit (§ 52 StGB) mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung gem. §§ 253, 255, 250 I Nr. 1 b), 22, 23 I StGB und einer Freiheitsberaubung gem. § 239 I StGB strafbar gemacht.
Zusatzfragen
1. Macht es für den Raubtatbestand einen Unterschied, ob der Täter das Opfer bewusstlos schlägt, dann das Bargeld in dessen Hosentasche entdeckt und mitnimmt oder ob der Täter das Opfer fesselt und nach Fesselung das Geld entdeckt und mitnimmt?Zusammenfassung
1. Bei der Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung ist es vorzugswürdig von einem Exklusivitätsverhältnis der Tatbestände auszugehen, für §§ 253, 255 StGB eine Vermögensverfügung zu fordern und davon ausgehend nach der inneren Willensrichtung des Opfers abzugrenzen.
2. Die Frage nach dem Verhältnis von §§ 253, 255 StGB ist für den Anwendungsbereich von § 239a StGB von Bedeutung, weil Anknüpfungspunkt die Erpressung und nicht der Raub ist.
3. Im Zwei-Personen-Verhältnis ist eine restriktive Auslegung der Erpressungsabsicht i.R.v. § 239a I Var. 1 StGB geboten. Es ist die (unvollkommene) Zweiaktigkeit zu betonen und zu fragen, ob der Bemächtigung gegenüber der geplanten Erpressungshandlung eine eigenständige Bedeutung zukommt. Das wird regelmäßig dann der Fall sein, wenn sich die Bemächtigungssituation stabilisiert hat.