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Recht auf Vergessen I & II

BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 16/13; NJW 2020, 300 – Recht auf Vergessen I;
BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 276/17; NJW 2020, 314 – Recht auf Vergessen II

Sachverhalt

Teil I

A wurde 1982 wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 1982 und 1983 veröffentlichte das Magazin Der Spiegel unter Auseinandersetzung mit der Person und Nennung des Namens von A drei Artikel in gedruckter Ausgabe. Seit 1999 werden die Berichte von der S-GmbH in einem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zur Verfügung gestellt. Gibt man den Namen von A in bekannten Suchmaschinen ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt. A verlangte – gestützt auf §§ 823 I, 1004 I 2 BGB i.V.m. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG – gerichtlich, dass der S-GmbH untersagt werde, über die Straftat unter Nennung des Namens zu berichten. Der BGH wies die Klage ab. Der Schutz der Persönlichkeit müsse hinter dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und der freien Meinungsäußerung der S-GmbH zurücktreten.

A erhebt form- und fristgemäß Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BGH.

Mit Erfolg?

Bearbeitervermerk:
Bitte beachte folgende Verordnung der EU, von deren Geltung zum fraglichen Zeitpunkt auszugehen ist; andere Vorschriften der DS-GVO sind für die Fallbearbeitung irrelevant:

Artikel 85 DS-GVO: Verarbeitung und Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
(2) Für die Verarbeitung, die zu journalistischen Zwecken […] erfolgt, sehen die Mitgliedstaaten Abweichungen oder Ausnahmen von Kapitel II (Grundsätze), Kapitel III (Rechte der betroffenen Person) […] vor, wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.

Teil II

2010 strahlte der NDR einen Beitrag mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ aus. Geschäftsführerin F wird darin ein unfairer Umgang mit einem gekündigten Mitarbeiter vorgeworfen. Auf der Internetseite des NDR wurde der Beitrag mit obigem Titel eingestellt. Gab man den vollständigen Namen von F bei der Suchmaschine der Betreiberin G an, wurde als eines der ersten Suchergebnisse der Link zu dem Beitrag des NDR angezeigt. F klagte gegen G auf Unterlassung – gestützt auf §§ 823 I, 1004 I 2 BGB –, war aber letztinstanzlich erfolglos.

F erhebt form- und fristgemäß Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil. Das Bundesverfassungsgericht gibt der Suchmaschinenbetreiberin G Gelegenheit zur Äußerung (§ 94 III BVerfGG). Diese hält die Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig, da der Rechtsstreit vollständig unionsrechtlich vereinheitlicht sei. Denn hier greife das Medienprivileg des § 85 II DS-GVO (s.o.) nicht. Eine Suchmaschinenbetreiberin werde nicht journalistisch tätig. Diese Ausführungen sind zutreffend.

Ist die Verfassungsbeschwerde zulässig?


Skizze


Gutachten

Teil I

Die Verfassungsbeschwerde von A hat gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 23 I, 90 ff. BVerfGG Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. Beteiligtenfähigkeit

Beteiligtenfähig ist gem. § 90 I BVerfGG „Jedermann“, d.h. jeder der Träger von Grundrechten (oder grundrechtsgleichen Rechten) ist. Als natürliche Person (wohl) deutscher Staatsangehörigkeit ist A Träger aller Grundrechte. Damit ist er beteiligtenfähig.

II. Beschwerdegegenstand

Tauglicher Beschwerdegegenstand ist gem. § 90 I BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt, d.h. Akte der Legislative, Exekutive oder Judikative. A wendet sich vorliegend gegen das Urteil des BGH, einen Akt der Judikative als Teil der deutschen Staatsgewalt.

III. Beschwerdebefugnis

A müsste gem. § 90 I BVerfGG behaupten in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Dafür muss die Möglichkeit einer Verletzung bestehen, d.h. eine solche darf nicht von vornherein und nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen sein (sog. Möglichkeitstheorie).[1]Vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 8. Aufl. 2018, § 51 Rn. 23.

1. (P) Anwendung deutscher Grundrechte

Dem könnte es entgegenstehen, wenn die dem Urteil zugrundeliegenden Regelungen als Durchführung des Unionsrechts zu beurteilen wären, Art. 51 I 1 GRCh. Die Anwendung deutscher Grundrechte könnte dann ausgeschlossen sein. Entscheidend ist hierbei, ob der deutschen Staatsgewalt bei der Anwendung von Unionsrecht ein Umsetzungsspielraum verbleibt; ist das der Fall, ist an den deutschen Grundrechten zu prüfen.[2]C. Grünewald, in: BeckOK-BVerfGG, 8. Ed. 2020, § 90 Abs. 1 Rn. 77. Eine Verfassungsbeschwerde ist dann nicht wegen der Durchführung von Unionsrecht unzulässig. Das gilt auch dann, wenn die Unionsgrundrechte im Einzelfall trotzdem zu beachten wären. Dies ist vielmehr eine materiell-rechtliche Frage.[3]Vgl. BVerfG NJW 2020, 300, 301; dazu der Prüfungsmaßstab in der Begründetheit.

Vorliegend ermöglicht § 85 II DS-GVO den Mitgliedsstaaten das Verhältnis von journalistischer Verarbeitung einerseits und dem Schutz personenbezogener Daten andererseits durch Konkretisierung in Einklang zu bringen (sog. Medienprivileg). Insbesondere ist den Mitgliedsstaaten nach § 85 II DS-GVO die Abweichung von bestimmten Kapiteln der DS-GVO möglich. Damit ist die dem Rechtsstreit zugrundeliegende Rechtsmaterie nicht vollständig unionsrechtlich determiniert. Die Grundrechte des GG finden folglich Anwendung.[4]BVerfG NJW 2020, 300, 301.

Anmerkung: Aufbau
Zweitrangig dürfte sein, an welcher Stelle im Rahmen der Zulässigkeit dieses Problem angesprochen wird. Auch im Beschwerdegegenstand wäre das möglich.[5]So macht es statt vieler C. Grünewald, in: BeckOK-BVerfGG, 8. Ed. 2020, § 90 Abs. 1 Rn. 77. Das BVerfG ordnet die Problematik der Be-schwerdebefugnis unter.[6]BVerfG BeckRS 2019, 29201, Rn. 38f.; BVerfG NJW 2020, 314, 315. Der Aufbau darf in der Klausur aber nicht erklärt werden.
2. Verletzung spezifischen Verfassungsrechts

Der Beschwerdeführer muss die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht rügen. Da das BVerfG keine Superrevisionsinstanz ist, kann A keine fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts rügen. Spezifisches Verfassungsrecht könnte bei der Verkennung der Bedeutung und Tragweite von Grundrechten verletzt sein. Indem der BGH der S-GmbH letztlich nicht untersagte, über den Mord zu berichten, ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der BGH die Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsgrundrecht (APR) von A aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG verkannt hat. A ist durch das Urteil auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Damit ist A beschwerdebefugt gem. § 90 I BVerfGG.

IV. Rechtswegerschöpfung

Mit dem letztinstanzlichen Urteil des BGH war der Rechtsweg gem. § 90 II 1 BVerfGG erschöpft.

V. Form und Frist

Die Erfordernisse der §§ 23 I, 92, 93 I 1 BVerfGG an Form und Frist wurden gewahrt.

VI. Zwischenergebnis

Die Verfassungsbeschwerde von A ist zulässig.

B. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A in seinen Grundrechten verletzt ist. In Betracht kommt eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsgrundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG.

I. Prüfungsmaßstab

1. (P) Einfluss des Unionsrechts auf den Prüfungsmaßstab

Vorgelagert ist zu erörtern, wieweit die Prüfung des Urteils des BGH am Maßstab der deutschen Grundrechte durch die Unionsgrundrechte beeinflusst wird.

Anmerkung: Aufbau
Während oben beim Beschwerdegegenstand geprüft wurde, dass die Rechtsmaterie nicht vollständig unionsrechtlich determiniert wurde und daher die deutschen Grundrechte grundsätzlich anzuwenden sind, ist hier die Frage, inwiefern die Unionsgrundrechte Einfluss auf die Anwendung der deutschen Grundrechte haben.

Ist das nationale Recht nicht vollständig unionsrechtlich determiniert, ist grundsätzlich am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen, da die Bindung an die Grundrechte der legislativen und exekutiven Verantwortung folgt, vgl. Art. 1 III, Art 20 III GG. Im Einzelfall können aber auch die Unionsgrundrechte Geltung beanspruchen. Der Grundrechtsschutz ist vielgestaltig, was selbst die GRCh anerkennt, so z.B. Art. 52 IV GRCh. Wo das Unionsrecht den Mitgliedsstaaten Gestaltungsspielräume einräumt, muss der Grundrechtsschutz regelmäßig nicht einheitlich sein. Im Fall eines Gestaltungsspielraums besteht zudem die Vermutung, dass das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts mitgewährleistet ist, wenn eine Prüfung anhand der mitgliedsstaatlichen Grundrechte erfolgt. Das ergibt sich aus der gemeinsamen Grundrechtstradition von Grundgesetz und GRCh, die selbst auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gestützt ist. Auch die EMRK ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Sie verbindet verschiedene mitgliedschaftliche Grundrechtsordnungen und auch das Unionsrecht nimmt auf sie über Art. 6 II EUV und Art. 52 III, Art. 53 GRCh Bezug.[7]Zu diesem Absatz BVerfG NJW 2020, 300, 301 ff.

Die Vermutung, dass das Schutzniveau der GRCh mitgewährleistet ist, wird dann widerlegt, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte allein die deutschen Grundrechte das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrecht nicht gewährleisten können. Gibt es dann ungeklärte Fragen bei der Prüfung der GRCh, kommt eine Vorlage beim EuGH in Betracht. Im Falle der Prüfung durch das BVerfG ist diese dann zwingend, Art. 267 III AEUV. Sind die Fragen bereits hinreichend geklärt, sind die Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab einzubeziehen.[8]Zu diesem Absatz BVerfG NJW 2020, 300, 304 f.

Vernetztes Lernen: Wann entfällt die Vorlagepflicht?
Die Vorlagepflicht an den EuGH nach Art. 267 III AEUV entfällt, wenn die zugrunde liegende Frage der eindeutigen Rechtslage entspricht (acte claire) oder es bereits eine gesicherte unionsrechtliche Rechtsprechung zu der Frage gibt (acte éclairé). Sollte das letztinstanzliche Gericht abseits dieser Ausnahmen der Vorlagepflicht aus Art. 267 III AEUV in unvertretbarer Weise nicht nachkommen, verletzt es das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 I 2 GG, wogegen vor dem BVerfG vorgegangen werden kann.

Daraus folgt für den vorliegenden Fall: § 85 II DS-GVO belässt den Mitgliedsstaaten einen Gestaltungsspielraum (s.o.). Konkrete Anhaltspunkte, dass die nationalen Grundrechte hinter dem Schutzniveau der Grundrechte des Unionsrecht zurückbleiben, sind nicht gegeben. Vielmehr gewährleistet Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG ein Recht auf Persönlichkeitsentfaltung. Dass dies hinter dem Schutz der GRCh, etwa Art. 7 u. 8 GRCh, zurücksteht, ist nicht ersichtlich. Daher wird die Vermutung nicht widerlegt, dass die nationalen Grundrechte das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrecht mitgewährleisten.

2. (P) Grundrechtsbindung zwischen Privaten

Voraussetzung ist weiter, dass die Grundrechte im Privatrechtsverhältnis gelten. Gegen den Prüfungsmaßstab der Grundrechte bei einem Rechtsstreit zwischen Privaten spricht zunächst die Grundrechtsbindung aus Art. 1 III GG, der Private nicht adressiert. Aufgrund der objektiven Wertordnung der Grundrechte zielt die Verfassung aber auf einen Ausgleich gleichberechtigter Freiheit zwischen Privaten, wobei die Grundrechte über unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln in das Privatrecht Eingang finden (mittelbare Drittwirkung).[9]Vgl. Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 347a f.; Leitentscheidung hierzu: BVerfGE 7, 198 (204 ff.) (Lüth). Zur Begründung ist die Schutzpflicht der Grundrechte anzuführen, die den Zivilgesetzgeber und den Zivilrichter adressiert, Art. 1 III GG.[10]Vgl. Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 350 ff.; Leitentscheidung hierzu: BVerfGE 81, 242 (255) (Handelsvertreter). Festzuhalten ist damit, dass die privatrechtliche Beziehung zwischen A und der S-GmbH einer möglichen Grundrechtsverletzung durch das letztinstanzliche Urteil nicht entgegensteht.

II. (P) Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsgrundrechts

Der Schutzbereich des APR aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG müsste eröffnet sein. Als Jedermann-Grundrecht schützt Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG auch A in persönlicher Hinsicht.

Sachlich schützt das APR die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Es bietet dabei auch Schutz vor der Verbreitung von Informationen, die geeignet sind, die Persönlichkeitsentfaltung zu beeinträchtigen, wozu der Schutz vor Äußerungen gehört, die geeignet sind, das Ansehen der Person in der Öffentlichkeit zu beschädigen (äußerungsrechtliche Ausprägung).[11]BVerfG NJW 2020, 300, 306.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des APR schützt zwischen Privaten davor, dass sich Dritte personenbezogener Daten bemächtigen, um den Betroffenen Eigenschaften o.ä. zuzuweisen. Im vorliegenden Fall liegt der Schutzbedarf aber nicht in dieser intransparenten Zuweisung von Persönlichkeitsmerkmalen durch Dritte, sondern in der sichtbaren Verbreitung von Informationen im öffentlichen Raum. Gegen die dadurch entstehenden Gefährdungen schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner äußerungsrechtlichen Ausprägung und nicht durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.[12]BVerfG NJW 2020, 300, 308.

Damit ist der Schutzbereich des APR aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG in seiner äußerungsrechtlichen Ausprägung eröffnet.

Anmerkung: Herangehensweise des BVerfG
Das BVerfG argumentiert, dass sich die konkrete Schutzdimension des APR in Fällen mittelbarer Drittwirkung einzelfallbezogen in Abwägung mit den Grundrechten Dritter ergibt. Es vermischt insofern den Schutzbereichs mit der Abwägung. Damit geht es einen Weg, der von der bekannten Grundrechtsprüfung in Klausuren abweicht. Wenngleich der vom BVerfG gewählte Weg in einer Prüfung nicht falsch sein dürfte, folgen wir hier dem klassischen, strukturierten Aufbau.

III. Eingriff

In den Schutzbereich müsste eingegriffen worden sein. Ein Eingriff ist jede staatliche Maßnahme, die final und unmittelbar durch Auferlegung eines Verbots- oder Gebots zur Verkürzung grundrechtlicher Freiheit führt.[13]Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 8. Aufl. 2018, § 24 Rn. 5. Jedenfalls das Urteil des BGH, gegen welches sich A wendet stellt einen staatlichen Rechtsakt dar, der unmittelbar und final zur Verkürzung der äußerungsrechtlichen Ausprägung des APR führt. Die Imperativität des staatlichen Handelns lässt sich damit begründen, dass an A das Gebot erlassen wird, die Veröffentlichung der Berichte zu dulden. Damit liegt ein Eingriff im klassischen Sinne vor.

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Da die äußerungsrechtliche Ausprägung des APR im vorliegenden Fall nicht die Intimsphäre betrifft, ist von der Beschränkbarkeit des Grundrechts auszugehen. Die Schranke findet sich in der verfassungsmäßigen Ordnung gem. Art. 2 I Hs. 2 GG, welche als einfacher Gesetzesvorbehalt zu verstehen ist.[14]Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 8. Aufl. 2018, § 27 Rn. 14. §§ 823 I, 1004 I 2 BGB ermöglichen eine Berücksichtigung der Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 I GG auf Seiten der S-GmbH, die hier die Schranke darstellen.

Die Entscheidung des BGH müsste aber mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 20 III GG) vereinbar sein.

1. Legitimes Ziel

Die Nichtuntersagung der Berichterstattung gewährleistet die Verbreitung von Berichten über Vorgänge des öffentlichen Lebens und dient daher der Meinungsfreiheit der S-GmbH aus Art. 5 I 1 GG. Ferner wird hierdurch die institutionelle Eigenständigkeit der Presse geschützt, nämlich die Entscheidung des Presseverlags, frühere Berichte in den Archiven der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Maßnahme dient also auch der Pressefreiheit der S-GmbH aus Art. 5 I 2 GG. Allein die Zugänglichmachung mittels elektronischer Informations- und Kommunikationssysteme genügt aber noch nicht dafür, dass auch noch die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 I 2 GG berührt ist.[15]So BVerfG NJW 2020, 300, 308. Hinsichtlich der Rundfunkfreiheit ist auch anderes vertretbar.

Vernetztes Lernen: Schützt die Pressefreiheit auch den Inhalt des Presseerzeugnisses?
Der Inhalt ist nach stetiger Rspr. des BVerfG allein durch die Meinungsfreiheit geschützt. Die Pressefreiheit umfasst lediglich die Funktion der freien Presse, d.h. die im Pressewesen Tätigen, das Presseerzeugnis selbst, die institutionell-organisatorischen Voraussetzungen der Presse (z.B. Finanzierung) sowie die Institution der freien Presse.[16]BVerfGE 85, 1, 13. Nach anderem Ansatz ist die Pressefreiheit ggü. der Meinungsfreiheit lex specialis und umfasst auch den Inhalt.[17]Bethge, in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 47. Da die Beschränkbarkeit mit Art. 5 II GG jeweils gleich ist, sollten in einer Klausur keine epischen Ausführungen erfolgen, wenngleich wir präzise sein sollten. Ähnlich verhält es sich auch mit der Frage, ob die Pressefreiheit nur Druckerzeugnisse oder auch sonstige Trägermedien umfasst, und wann der Schutzbereich der Rundfunkfreiheit anfängt.[18]Hierzu: Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 228 f.

Die S-GmbH müsste sich auf Art. 5 I 1, 2 GG als juristische Person des Privatrechts berufen können, damit der verfolgte Zweck das Persönlichkeitsrecht von A tatsächlich einschränken kann. Das richtet sich nach Art. 19 III GG. Sowohl nach der Begründung über das personale Substrat, d.h. Grundrechtsschutz für die hinter der juristischen Personen stehenden natürlichen Personen, als auch über die grundrechtstypische Gefährdungslage sind die Grundrechte aus Art. 5 I GG auf juristische Personen des Privatrechts, die Onlinearchive zu journalistischen Zwecken anbieten – wie die S-GmbH – ihrem Wesen nach anwendbar (Art. 19 III GG).[19]Vgl. statt aller Schemmer, in: BeckOK-GG, 42. Ed. 2019, Art. 5 Rn. 2.

2. Geeignetheit, Erforderlichkeit

Die Nichtuntersagung fördert die Gewährleistung der Rechte aus Art. 5 I GG zugunsten der S-GmbH und ist folglich geeignet. Es existieren ferner keine relativ milderen Mittel, sodass die Maßnahme auch erforderlich ist.

3. Angemessenheit

Das geschützte Rechtsgut muss mit dem beeinträchtigten Rechtsgut in einem angemessenen Verhältnis stehen. Im Rahmen der mittelbaren Drittwirkung sind die privaten Rechtsgüter nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz derart in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.[20]BVerfG NJW 2020, 300, 306.

Bei der danach gebotenen Abwägung ist zunächst der zeitliche Faktor zu berücksichtigen. Der Straftäter hat auf der einen Seite ein Interesse an der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Vergangenes muss in Vergessenheit geraten können. „Die Möglichkeit des Vergessens gehört zur Zeitlichkeit der Freiheit.“[21]BVerfG NJW 2020, 300, 309. Insofern gehört zur Wahrung der Persönlichkeitsentfaltung ein Recht auf Vergessenwerden.[22]Zu diesem Absatz: BVerfG NJW 2020, 300, 309.

Die Persönlichkeitsentfaltung ist aber im Wechselprozess mit der Kommunikation Dritter zu betrachten. Aus dem Recht auf Vergessenwerden folgt daher nicht das Recht, öffentlich zugängliche Informationen nach freier Entscheidung zu beschränken. Gerade die Auseinandersetzung mit öffentlichen Personen, zu denen auch Straftäter gehören können, ist für das Gemeinwesen prägend.[23]Hierzu BVerfG NJW 2020, 300, 310.

Auf der anderen Seite hat die Meinungs- und Pressefreiheit der S-GmbH aus Art. 5 I 1, 2 GG ein hohes Gewicht; sie ist schlechthin konstituierend für die freiheitliche demokratische Grundordnung und die sie beschränkenden Gesetze sind im Lichte dieser Bedeutung auszulegen (Wechselwirkungslehre).[24]Umfassend zur Wechselwirkungslehre: Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019 Rn. 249 ff. Vor diesem Hintergrund sollte der Zugriff auf den Originalbericht möglichst weitgehend erhalten bleiben.

Jedoch führt die einfache Auffindbarkeit der Artikel und der Bezug der Straftat zu A zu einer erheblichen Beeinträchtigung des A im sozialen Umfeld. Dem Schutzbedarf des A könnte damit Rechnung getragen werden, dass die namentliche Suche durch Suchmaschinen begrenzt wird. Gemessen an der langen Zeit, seit die Straftat begangen wurde und der allseitigen Verfügbarkeit des Internets, überwiegt damit das Interesse des A auf Vergessen seiner früheren Fehler gegenüber dem Interesse der S-GmbH an der Veröffentlichung der Berichte.[25]Vgl. die Argumentation des BVerfG NJW 2020, 300, 313 f.

Damit stellte der BGH nicht praktische Konkordanz in dem Sinne her, dass das APR des A aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG derart mit der Meinungs- und Pressefreiheit der S-GmbH in Ausgleich gebracht wurde, dass alle Rechte zur größtmöglichen Geltung gelangten.

Der Eingriff ist daher unverhältnismäßig und kann nicht gerechtfertigt werden. Die Verfassungsbeschwerde ist folglich begründet.

C. Ergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet und hat daher Erfolg.

Teil II

Die Verfassungsbeschwerde der F ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen gegeben sind.

Als natürliche Person ist F „Jedermann“ iSv § 90 I BVerfGG und daher beschwerdefähig. Mit dem Urteil handelt es sich auch um einen Akt deutscher Staatsgewalt und damit um einen tauglichen Beschwerdegegenstand gem. § 90 I BVerfGG. F hat den Rechtsweg erschöpft, § 90 II BVerfGG. Die Form- und Fristerfordernisse der §§ 23 I, 92, 93 I 1 BVerfGG hat sie gewahrt.

Problematisch ist, ob F auch beschwerdebefugt ist. Gem. § 90 I BVerfGG muss sie geltend machen, in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Dies muss zumindest möglich erscheinen.

A. (P) Keine Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bei vollständiger unionsrechtlicher Vereinheitlichung

Dem könnte die vollständige Determiniertheit der dem Rechtsstreit zugrundeliegenden Rechtsmaterie entgegenstehen. Im vollständig vereinheitlichten Bereich genießt das Unionsrecht Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht, was als Konsequenz der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die EU nach Art. 23 I 2 GG zu sehen ist. Schafft die EU in übertragenen Bereichen Regelungen, die in der gesamten EU einheitlich angewendet werden sollen, muss auch der bei der Anwendung maßgebliche Grundrechtsschutz einheitlich sein. Diesen Schutz gewährleistet die GRCh der EU, vgl. Art. 51 I 1 GRCh. Eine divergierende Handhabung je nach Mitgliedsstaat würde den Zweck einer einheitlichen Anwendung konterkarieren.[26]Zu diesem Absatz: BVerfG NJW 2020, 314, 317.

Der Anwendungsvorrang des Unionsrecht berührt aber nicht die Geltung der Grundrechte des GG als solche. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Bereich der Grundrechte wird nur anerkannt, solange der jeweilige Grundrechtsschutz durch die Union hinreichend wirksam ist.[27]BVerfGE 73, 339, 375 ff. (Solange II). Diese Reservefunktion wird hier aber nicht aktiviert, da die GRCh einen Grundrechtsschutz gewährleistet, der dem des GG im Wesentlichen gleich zu achten ist.[28]BVerfG NJW 2020, 314, 317.

Damit sind die Grundrechte des Grundgesetzes nicht auf den vorliegenden Fall anzuwenden.

B. (P) Überprüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte durch das BVerfG

Denkbar wäre, dass das BVerfG das deutsche letztinstanzliche Urteil anhand der Unionsgrundrechte überprüft. Kern dieser Frage ist die Interpretation von „Grundrechte“ in Art. 93 I Nr. 4a GG und § 90 I BVerfGG. Wäre „Grundrechte“ auf die nationalen Grundrechte beschränkt, bestünde die Möglichkeit der Verletzung von Grundrechten der F nicht, sie wäre damit nicht beschwerdebefugt.

In seiner bisherigen Rechtsprechung verzichtete das BVerfG auf eine Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte. Die Grundrechtskontrolle wurde dann den Fachgerichten und dem EuGH überlassen. Etwas anderes könnte sich nun aus der Integrationsverantwortung der deutschen Staatsgewalt aus Art. 23 I GG ergeben. Integrationsverantwortung meint eine Rückbindung der europäischen Integration an die nationalen Entscheidungsträger, womit die Abgabe von Hoheitsbefugnissen an die EU kompensiert und kontrolliert wird.[29]Vgl. hierzu Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 15. Der Grundrechtsschutz gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte, bliebe im unionsrechtlich voll determinierten Bereich unvollständig, wenn das BVerfG seinen Prüfungsmaßstab nicht auf die Unionsgrundrechte erstreckte, da das Unionsrecht keinen die Verfassungsbeschwerde entsprechenden Rechtsbehelf zum EuGH vorsieht. Die bisherige Überprüfung bei einer Nichtvorlage durch die Fachgerichte anhand von Art. 101 I 2 GG, reicht zum Grundrechtsschutz ggü. den Fachgerichten nicht aus. Bei vollständig unionsrechtlich vereinheitlichter Materie folgt aus Art. 23 I GG, der die Integrationsverantwortung der gesamten deutschen Staatsgewalt also auch des BVerfG normiert, dass das BVerfG am Maßstab der Unionsgrundrechte prüft, sofern es um die richtige Anwendung der Unionsgrundrechte durch die deutsche Staatsgewalt geht.[30]Zu diesem Absatz BVerfG NJW 2020, 314, 318 f.

Art. 93 I Nr. 4a GG ist seinem Wortlaut nach offen. „Grundrechte“ kann sich sowohl auf nationale Grundrechte beschränken als auch die Unionsgrundrechte einbeziehen. Gegen eine Überprüfung anhand der Unionsgrundrechte könnte die systematische Auslegung sprechen. Art. 93 I Nr. 4a GG bezieht sich im Rahmen der grundrechtsgleichen Rechte allein auf Rechte des Grundgesetzes. Hieraus muss aber nicht der Rückschluss gezogen werden, dass auch „Grundrechte“ allein national zu verstehen ist. Die Entstehungsgeschichte nimmt nur die nationalen Grundreche in Blick.

Insofern könnte die extensive Auslegung von Art. 93 I Nr. 4a GG einer Verfassungsänderung gleichkommen, sodass die Entscheidung dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten wäre.[31]So die Kritik bei Muckel JA 2020, 237, 239. Die Wortlautgrenze wird indes gewahrt, und eine Änderung des Grundgesetzes iSv Art. 79 I 1 GG, wozu eine Wortlautänderung erforderlich wäre, dürfte nicht gegeben sein, da es sich lediglich um einen auslegungsgeleiteten Wandel des Normverständnisses handelt.[32]Vgl. Dietlein, in: BeckOK-GG, 42. Ed. 2019, Art. 79 Rn. 5.3.

Für eine Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab spricht entscheidend die Mitwirkung des BVerfG aus Art. 23 I GG bei der Anwendung des Unionsrechts[33]Vgl. BVerfG NJW 2020, 314, 319. und das Erfordernis der Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten auch dann, wenn die Materie voll unionsrechtlich determiniert ist.

Demzufolge überprüft das BVerfG bei vollständig unionsrechtlich vereinheitlichter Rechtsmaterie anhand der Unionsgrundrechte, sofern es um deren Anwendung durch nationale Stellen geht. Dabei kooperiert es eng mit dem EuGH und legt diesem bei Auslegungsfragen unter den Voraussetzungen des Art. 267 III AEUV vor.[34]BVerfG NJW 2020, 314, 320.

Hier ist es nicht von vornherein ausgeschlossen und damit möglich, dass die letztinstanzliche Entscheidung die Bedeutung und Tragweite der Art. 7 und Art. 8 GRCh verkannt und damit die Unionsgrundrechte von F verletzt hat. F ist folglich beschwerdebefugt.

C. Ergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist demnach zulässig.

Anmerkung: Aufbau
Auch hier ist zweitrangig, unter welchem Punkt das Problem angesprochen wird.. Hier folgt der Aufbau dem BVerfG. Vertretbar dürfte auch die Prüfung zu Beginn der Begründetheit unter „Prüfungsmaßstab“ sein, da für die Beschwerdebefugnis die Möglichkeit der Verletzung genügt. Mit dem hier gewählten Aufbau ist man aber auf der sicheren Seite.
Anmerkung: mögliche Folgefragen
Durch den Verständniswandel des BVerfG ergeben sich zahlreiche Folgefragen und die weitere Entwicklung solltest Du im Blick behalten. Möglich ist dabei insb. eine Anrufung des Plenums nach § 16 BVerfGG, wenn der 2. Senat der zugrunde liegenden Entscheidung des 1. Senats nicht folgen möchte. Ein paar Folgefragen, die Du in einer Klausur als Problem erkennen solltest, die aber noch ungeklärt sind:[35]Diese und weitere Folgefragen aufwerfend z.B. Sachs JuS 2020, 284, 286f.; Wendel JZ 2020, 157 ff.
1. Gilt entsprechendes bei der Richtervorlage nach Art. 100 I GG wenn die Materie voll unionsrechtlich determiniert ist?
2. Bleibt das letztinstanzliche Fachgericht auch iSv Art. 267 III AEUV vorlageverpflichtet, sofern es um die Vereinbarkeit mit Unionsgrundrechten geht?
3. Können sich Beschwerdeführer*innen auch dann auf Unionsgrundrechte berufen, wenn sie im Rahmen der Fachgerichte versäumt haben, eine Verletzung insofern zu rügen, oder steht ihnen dann der Grundsatz materieller Subsidiarität entgegen?
4. Prüft das BVerfG entsprechend auch die Anwendung des Unionsrechts durch nationale Stellen auf die Vereinbarkeit mit anderem europäischen Primärrecht (oder gar Sekundärrecht)?

Zusatzfragen

Berücksichtigt das BVerfG bei seinen Entscheidungen die EMRK?
In Deutschland hat die EMRK den Rang des Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 II GG, d.h. sie ist einfaches Bundesrecht. Damit ist die EMRK nicht unmittelbarer Prüfungsmaßstab des BVerfG. Aus Art. 1 II, Art. 9 II, Art. 24, Art. 59 II GG folgt der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. In Bezug auf die EMRK bedeutet das, dass das BVerfG die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der EMRK auslegt. Es berücksichtigt die Wertungen der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR soweit das methodisch vertretbar mit den Vorschriften des Grundgesetzes in Einklang gebracht werden kann.[36]Vgl. BVerfG NJW 2020, 300, 303 m.w.N.; lesenswert hierzu Herdegen, Europarecht, 21. Aufl. 2019, § 3 Rn. 55 ff.
Überprüft das BVerfG auch Akte der Unionsorgane?
Auch die öffentliche Gewalt der EU betrifft Grundrechtsberechtigte in Deutschland, sodass die Überprüfung auf Vereinbarkeit mit dem GG insoweit auch Aufgabe des BVerfG ist. Mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist die Kontrolle des BVerfG aber begrenzt. Neben dem Solange-Vorbehalt, d.h. der Nichtüberprüfung von unionalen Rechtsakten anhand der Grundrechte des GG, solange das Unionsrecht einen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet, nimmt das BVerfG eine Ultra-vires-Kontrolle vor, wenn der Unionsrechtsakt eine klare Kompetenzüberschreitung darstellt. Ferner führt das BVerfG die Identitätskontrolle durch, wenn Unionsrechtsakte die Verfassungsidentität betreffen (Art. 79 III i.V.m. Art. 1 u. Art. 20 GG).[37]Vgl. hierzu C. Grünewald, in: BeckOK-BVerfGG, 8. Ed. 2020, § 90 Rn. 72 ff. Die Nichtüberprüfung ist damit der Grundsatz, wohingegen eine Überprüfung von EU-Rechtsakten anhand des GG seitens des BVerfG nur ausnahmsweise erfolgt. Hier liegt der Fall aber anders, da es um die richtige Anwendung des Unionsrechts durch nationale Stellen geht. Eine Differenzierung ist dabei essenziell.

Zusammenfassung:

1. Ist die dem Rechtsstreit zugrundeliegende Materie nicht vollständig unionsrechtlich determiniert, erfolgt die Prüfung grundsätzlich am Maßstab der Grundrechte des GG. Das Unionsrecht räumt den Mitgliedsstaaten insofern Gestaltungsspielräume ein und zielt insofern nicht auf die Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes. Dann wird (widerlegbar bei konkreten Anhaltspunkten) vermutet, dass das Schutzniveau der GRCh mitgewährleistet wird.

2. Von der äußerungsrechtlichen Dimension des APR ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu unterscheiden. Geht es um den Schutz vor Gefährdungen durch die öffentliche Verbreitung, ist ersteres einschlägig.

3. Soweit die Rechtsmaterie vollständig unionsrechtlich vereinheitlicht ist, sind die Grundrechte des GG durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt. Die Grundrechte des GG werden dann nicht verdrängt, wenn der Schutz des jeweiligen Grundrechts durch die Union nicht hinreichend wirksam ist.

4. Das BVerfG überprüft – sofern keine Ausnahme vom Vorrang des Unionsrechts zu machen ist – die Anwendung des Unionsrechts durch deutsche Stellen anhand der Unionsgrundrechte. Dabei wird das BVerfG seiner Integrationsverantwortung aus Art. 23 I GG gerecht und kompensiert das Fehlen einer Individualverfassungsbeschwerde auf Unionsebene. Soweit das BVerfG die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab anwendet, kooperiert es eng mit dem EuGH, auch über Vorlagen nach Art. 267 III AEUV.


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