highlight_off
Nutzungsänderung zum Pizzalieferservice

VGH München, Beschluss v. 19.04.2023 – 9 ZB 22.1495, BeckRS 2023, 8770

Sachverhalt

(abgewandelt und gekürzt)

Der A betreibt eine Pizzeria in Bayern. Die Pizzeria liegt in einem Gebiet, welches als Art der baulichen Nutzung ein allgemeines Wohngebiet gemäß § 4 der Baunutzungsverordnung (BauNVO) vorsieht. Entsprechend § 3 Nr. 1 der Bebauungsplan-Satzung wurden die Ausnahmen gemäß § 4 III BauNVO, mit Ausnahme einer Tankstelle, rechtmäßig ausdrücklich ausgeschlossen.

Die Räumlichkeiten des A wurden in den 70er Jahren ursprünglich als eine „Gast- und Schankwirtschaft“ mit der näheren Konkretisierung als „Einbau einer Pizzeria“ genehmigt. Bis zum heutigen Tag erfolgte auch eine Nutzung zuerst als Pizzeria und zuletzt als türkisches Restaurant, wo indes auch Pizzen verkauft wurden, mit 20 Innenraumgastplätzen und 15 Sitzplätzen in der Außengastronomie. Der A möchte den Betrieb wieder als reine Pizzeria betreiben, jedoch mit dem zusätzlichen Angebot eines Lieferservice. Die Öffnungszeiten seien ganzwöchig von 10:00 Uhr bzw. 11:00 Uhr bis 22:30 Uhr geplant. Wobei Speisen vor Ort nur in der Zeit zwischen 15:00 und 22:00 Uhr verzehrt werden können. Vor Ort sei kein Alkoholausschank vorgesehen. Der Lieferservice sei vor allem für die Nachbarschaft im Baugebiet angedacht. Die Bestellungen können nicht nur vor Ort, sondern auch per Telefon oder Internet erfolgen. Die Auslieferung sei mit insgesamt drei Fahrzeugen und drei Fahrrädern geplant. Der Betrieb erfolge in zwei Schichten mit jeweils sechs Mitarbeitern.

Der A meint, dass aufgrund der Kombination aus Verzehr vor Ort und dem Lieferangebot, der Betrieb entsprechend der Beschreibung auch unter den Begriff der Schank- und Speisewirtschaft falle. Die Umwandlung der Pizzeria in eine Pizzeria mit Lieferservice stelle daher als lediglich geringfügige und zeitgemäße Anpassung an die heutigen und üblichen Verhältnisse keine Nutzungsänderung dar und bedürfe keiner Genehmigung.

Falls widererwartend doch eine Genehmigungspflicht bestünde, sei nach der Ansicht des A eine bauplanungsrechtliche Zulässigkeit gegeben, zumindest sei eine Befreiung zu erteilen. Das Vorhaben finde als Teil des Gesamtkonzeptes statt. Entsprechend der heutigen Lebensgewohnheiten nehme der Betrieb eine Versorgungsfunktion für ein weitreichendes Wohnumfeld in Form des Verzehrs vor Ort oder zu Hause wahr, insbesondere um kurzfristig auf das Zubereiten von warmen Mahlzeiten im eigenen Haushalt verzichten zu können. Es gehöre heute zum typischen Erscheinungsbild von Pizzerien, dass diese zusätzlich zum Verzehr vor Ort das Speisen-Angebot auch ins Haus liefern würden. Dies entspreche den heutigen Lebensgewohnheiten und würde auch von der Wohnbevölkerung im unmittelbaren Nahbereich gewünscht. Das Störpotenzial des Betriebs sei zudem gering und sei auch angesichts der Vorbelastung im Wohngebiet mit dem Charakter des Wohngebiets vereinbar. Das Vorhaben befinde sich an einer sehr stark befahrenen Straße. Das zusätzliche Verkehrsaufkommen mit An- und Abfahrt falle daher nicht ins Gewicht. Zudem erfolge die Auslieferung mit E-Bikes und vorzugsweise mit elektrischen Kfz`s, sodass keine Abgas- oder Lärmbelästigung wahrnehmbar sei.

Sie sind Rechtsanwalt und der A sucht Sie mit den Fragen auf, ob er das Vorhaben einfach umsetzen oder ob er eine Genehmigung beantragen kann. Der A bringt Ihnen auch schon den geplanten Internetauftritt mit, wo er hauptsächlich auf den Lieferservice hinweist.

Auszug aus der BayBO

Art. 55 Grundsatz

(1) Die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von Anlagen bedürfen der Baugenehmigung, soweit in Art. 56 bis 58, 72 und 73 nichts anderes bestimmt ist.

(2) Die Genehmigungsfreiheit nach Art. 56 bis 58, 72 und 73 Abs. 1 Satz 3, die Beschränkung der bauaufsichtlichen Prüfung nach Art. 59, 60, 62a Abs. 2, Art. 62b Abs. 2, Art. 73 Abs. 2 und Art. 73a sowie die Genehmigungsfiktion nach Art. 68 Abs. 2 entbinden nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der Anforderungen, die durch öffentlich-rechtliche Vorschriften an Anlagen gestellt werden, und lassen die bauaufsichtlichen Eingriffsbefugnisse unberührt


 

Skizze


Gutachten

Damit das Vorhaben des A rechtmäßig ist, müsste die Änderung von einer Pizzeria in eine Pizzeria mit Lieferservice entweder genehmigungsfrei sein oder bei einer bestehenden Genehmigungspflicht bauplanungsrechtlich zulässig sein.

Anmerkung: Prozessuale Ausgangssituation im streitgegenständlichen Verfahren

In dem dem Urteil zu Grunde liegenden Sachverhalt hatte der Kläger schon die Nutzung als Pizzeria mit Lieferservice aufgenommen. Er ging von einer Genehmigungsfreiheit aus und beantragte laut eigenen Angaben die Baugenehmigung rein vorsorglich. Insofern war in dem Fall die statthafte Klageart die Verpflichtungsklage.

A. Genehmigungspflichtigkeit

Das Vorhaben des A könnte genehmigungspflichtig sein. Nach Art. 55 BayBO bedarf die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von Anlagen einer Baugenehmigung. Eine Nutzungsänderung liegt grundsätzlich vor, wenn die angestrebte Nutzung nicht mehr von der erteilten Baugenehmigung gedeckt ist.

I. Variationsbreite als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt ist die in der Baugenehmigung enthaltende Variationsbreite. Das Vorhaben stellt daher eine Nutzungsänderung dar, wenn durch die Verwirklichung eines Vorhabens die Variationsbreite verlassen wird. Daher ist nicht jede Änderung genehmigungspflichtig. Eine Nutzungsänderung ist jedoch jedenfalls dann anzunehmen, wenn sich durch die geänderte Nutzung die Genehmigungsfrage unter bodenrechtlichen Gesichtspunkten neu stellt.[1]BVerwGE 138, 166. Das kann auch dann der Fall sein, wenn das bisher charakteristische Nutzungsspektrum durch die Änderung erweitert wird.[2]BVerwG, U.v. 8.11.2010 – 4 C 10.09 – juris Rn. 12..

II. Neue bauplanungsrechtliche Anforderungen

Für die geänderte Nutzung des A könnten hier gerade andere bauordnungs- oder bauplanungsrechtliche Anforderungen in Betracht kommen. Voraussetzung für eine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung ist nicht, dass tatsächlich andere Anforderungen an die geänderte Nutzung gestellt werden, sondern nur, dass derartige Anforderungen in Betracht kommen können und die Frage, ob dies tatsächlich der Fall ist, in einem Genehmigungsverfahren geprüft werden muss. Wesentlicher Unterschied zu der bisherigen Nutzung ist, dass nun die Speisen per An- und Abfahrt als Lieferservice zum Kunden gebracht werden. Dies stellt eine Verlagerung der Geschäftstätigkeit dar.[3]VG Ansbach, Urteil vom 12.05.2022 – AN 9 K 20.02573, Beck RS 2022, 12583 Rn. 29. Dies ist insofern nicht als quantitative Änderung, sondern als Aliud anzusehen.[4]VGH München Beschl. v. 19.4.2023 – 9 ZB 22.1495, BeckRS 2023, 8770 Rn. 9. Schon allein durch das zusätzliche Verkehrsaufkommen durch die An- und Abfahrt ergeben sich erweiterte Prüfungen im Hinblick auf das Rücksichtnahmegebot. Dabei ist unerheblich, dass der Lieferservice mit E-Autos und E-Rollern betrieben wird. Von den Verkehrsmitteln mag dann eine niedrigere Lärmbelästigung ausgehen, jedoch bedeutet schon die An- und Abfahrt von sechs Lieferanten über 14 Stunden ein erheblich geändertes Verkehrsaufkommen in dem Baugebiet. Zudem ist trotz der Elektromotorisierung festzuhalten, dass auch durch den Liefervorgang und der Abholung der Speisen selbst Lärmbelästigungen entstehen. Aufgrund der neuen Schwerpunktsetzung der bisherigen Gaststättentätigkeit hin zu einem verstärkten Lieferdienst kommen daher geänderte Anforderungen an öffentlich-rechtliche Vorschriften zum Tragen. Insofern wurde hier die Nutzung in rechtlich relevanter Weise erweitert, sodass der geplante Lieferservice des A eine Nutzungsänderung darstellt.

III. Zwischenergebnis

Das Vorhaben der Klägerin ist nach Art. 55 I BayBO, wonach die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von Anlagen der Baugenehmigung bedürfen, baugenehmigungspflichtig.

Vernetztes Lernen:Bedarf es einer Baugenehmigung, wenn eine genehmigte Nutzung jahrelang nicht ausgeübt wurde und dann wieder innerhalb der Variationsbreite aufgenommen wird?

Stellt sich in der Klausur das Problem der erneuten Nutzungsaufnahme nach einer längeren Pause, muss betrachtet werden, ob es sich ggf. nur um eine reduzierte Nutzung handelte oder die Nutzung aufgegeben wurde. Früher wurde noch vorrangig auf die zeitliche Komponente abgestellt. Die neue Rechtsprechung wendet jedoch nicht mehr die Grundsätze für die Neuerrichtung im Außenbereich nach § 35 IV 1 Nr. 3 BauGB an, wonach im ersten Jahr nach der Nutzungsaufgabe eine Wiederaufnahme zulässig wäre, im zweiten Jahr eine – allerdings widerlegliche – Regelvermutung zugunsten der Wiederaufnahme gälte und nach Ablauf des zweiten Jahres sich diese Vermutung umkehre. Dies ist aber eine zu starre Betrachtungsweise. Das BauGB und das sonstige Bundesrecht kennt keine Vorschrift, nach der der Bestandsschutz eines Vorhabens ab einer bestimmten Zeitdauer entfällt; ferner enthält das Baurecht auch keine Nutzungspflicht.[5]Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, 15. Aufl. 2022, BauGB § 29 Rn. 18. Vielmehr sind nun die landesrechtlichen Bestimmungen und ggf. das Verwaltungsverfahrensrecht, dort insbesondere § 43 II VwVfG, entscheidend.[6]VGH Kassel, NVwZ-RR 2017, 177 Rn. 11. Maßgeblich wird daher zumeist sein, ob bei dem Bauherrn ein hinreichend schlüssiger Wille erkennbar ist, auf die Baugenehmigung zu verzichten, oder ob Anhaltspunkte für eine Übereinkunft der Beteiligten vorliegen, dass die Baugenehmigung sich erledigt habe. Aufgrund dieser Auslegung hat die Rechtsprechung in zahlreichen Fällen auch einen Fortbestand des Bestandsschutzes bei sehr langjährigen Nutzungsunterbrechungen anerkannt.[7]VGH München Urt. v. 20. 2. 2003 – 15 B 00.1363, BauR 2003, 1551; VGH Mannheim Urt. v. 4. 3. 2009 – 3 S 1467/07, BauR 2009, 1881

B. Genehmigungsfähigkeit

Das Vorhaben des A könnte jedoch genehmigungsfähig sein. Eine Baugenehmigung ist nur zu erteilen, wenn dem Vorhaben öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Dabei gilt es zu beachten, dass die Baugenehmigung im Bereich des vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO liegt, da sie keinen Sonderbau i.S.v. Art. 2 IV Nr. 1 bis 20 BayBO zum Gegenstand hat. Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren prüft die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 59 S. 1 BayBO die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB.

I. Bauplanungsrechtliche Zulässigkeit

Das Vorhaben des A könnte bauplanungsrechtlich zulässig sein.

1. Anwendbarkeit der §§ 30 ff. BauGB

Das Vorhaben des A ist in einer auf Dauer gedachten Weise künstlich mit dem Erdboden verbunden und weist durch die Nutzungsänderung bodenrechtliche Relevanz auf. Es ist somit bauliche Anlage i.S.d. § 29 I BauGB und die Zulässigkeit nach §§ 30 ff. BauGB eröffnet.

2. Zulässigkeit gem. § 30 I BauGB

Das Vorhaben liegt im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans gem. § 30 I BauGB. Nach der Festsetzung des B-Plans ist das Gebiet als allgemeines Wohngebiet nach § 4 BauNVO ausgewiesen. In einem allgemeinen Wohngebiet sind nach § 4 II Nr. 2 BauNVO auch Schank- und Speisewirtschaften, die der Versorgung des Gebiets dienen, zulässig.

a) Versorgung des Gebiets

Dabei muss die Pizzeria mit Lieferservice als Schank- und Speisewirtschaft auch der Versorgung des Gebiets dienen. Eine Schank- und Speisewirtschaft dient der Versorgung des Gebiets, wenn sie sich dem allgemeinen Wohngebiet, in dem sie liegt, funktional zuordnen lässt.[8]BverwG, NVwZ-RR 1993, 455, 456. Ein solcher Bezug kann insbesondere fehlen, wenn die Gaststätte auf einen Personenkreis ausgerichtet ist, der nahezu zwangsläufig An- und Abfahrtverkehr mit den damit verbundenen gebietsinadäquaten Begleiterscheinungen verursacht, zB extremer Lärm oder unüblicher Personenverkehr. Die Schank- und Speisewirtschaft muss also auf die Deckung eines gastronomischen Bedarfs ausgerichtet sein, der in dem so abgegrenzten Gebiet und nach den dortigen demographischen und sozialen Gegebenheiten tatsächlich zu erwarten ist.[9]BVerwG, NVwZ 2020, 404, 405. Da der A behauptet mit den Lieferservice nur das Wohngebiet zu beliefern, könnte das hier noch anzunehmen sein. Fraglich ist aber, ob aufgrund der Nutzungsart überhaupt eine Schank- und Speisewirtschaft iSd § 4 BauNVO vorliegt.

Anmerkung: Beurteilung des Kriteriums im streitgegenständlichen Verfahren.

In dem dem Urteil zugrunde liegenden Verfahren brachte der Kläger noch vor, dass 83% der Auslieferungen im Umkreis erfolgen würden. Insofern sah sich das VG in erster Instanz veranlasst sich näher mit dem Kriterium der Versorgung des Gebiets auseinanderzusetzen. An dieser Stelle kann mit einer leichten Abwandlung des Sachverhalts für viel Argumentationsspielraum gesorgt werden. .

b) Schank- und Speisewirtschaft

Was unter einer Schank- und Speisewirtschaft zu verstehen ist, wird im Baurecht nicht legal definiert. Als Ausgangspunkt kann jedoch die Begriffsbestimmung der bundesrechtlichen Legaldefinition, des § 1 I Gaststättengesetzes (GastG) herangezogen werden.[10]VG Ansbach, Urteil vom 12.05.2022 – AN 9 K 20.02573, Beck RS 2022, 12583 Rn. 35. Nach § 1 I GastG betreibt ein Gaststättengewerbe, wer im stehenden Gewerbe nach Nr. 1 Getränke zum Verzehr an Ort und Stelle verabreicht (Schankwirtschaft) oder nach Nr. 2 zubereitete Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle verabreicht (Speisewirtschaft). Der A betreibt die Nutzung sowohl als Verzehr vor Ort, als auch mit dem Lieferservice als ein gastronomisches außer Haus Angebot. Insofern handelt es sich um mehrere Nutzungsarten. Dabei ist zu ermitteln welches das bestimmende Merkmal des Betriebs ist. Dies erfolgt durch die Gesamtwürdigung aller Umstände.[11]Hornmann, in: Spannowsky/Hornmann/Kämper, BeckOK BauNVO, Stand 15.1.2023, § 4 Rn. 62, 64. Zwar kann der A durch die Sitzplätze im Innen- und Außenraum bis zu 35 Personen vor Ort bewirten. Jedoch spricht gegen die Einordnung als Schank und Speisewirtschaft, dass allein sechs Fahrer für den Lieferservice eingeplant sind. Zudem ist ein größerer Teil der Öffnungszeiten nur dem Lieferservice vorbehalten. Ebenso wirbt die Internetseite fast ausschließlich mit dem Lieferangebot des A. Unüblich für eine Schank- und Speisewirtschaft ist zudem, dass vor Ort kein Alkohol ausgeschenkt wird. Insofern spricht daher vorliegend fast alles dafür, dass es sich schwerpunktmäßig um einen Essenslieferdienst handelt. Eine Zulässige Nutzung als Schank- und Speisewirtschaft scheidet daher aus.

Vernetztes Lernen:Gibt es eine generelle Gebietsunverträglichkeit bei einer extensiven Nutzung?

Die Frage wird zum Beispiel relevant, wenn ein Nachbar oder die Behörde meint, dass die Nutzung mit dem Gebietscharakter nicht vereinbar sei. So etwa bei einer Gaststätte von erheblicher Größe und mit langen Betriebszeiten in einem allgemeinen Wohngebiet.
Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Gebietsverträglichkeit ist eine Zulässigkeitsvoraussetzung, die in allen Baugebietstypen anzuwenden ist.[12]Stock, in: König/Roeser/Stock, 4. Aufl. 2019, BauNVO § 8 Rn. 19.
Die Zulässigkeit eines bestimmten Vorhabens innerhalb eines Baugebiets richtet sich danach nicht allein nach der Einordnung des Vorhabens in eine bestimmte Begriffskategorie (Nutzungs- oder Anlagenart), sondern auch nach der Zweckbestimmung des jeweiligen Baugebiets.[13] BVerwG, NVwZ 2020, 404, 406. Gebietsunverträglich wäre demnach, wenn Anlagen zugelassen würden, die hinsichtlich ihrer Nutzung zwar per se nach der BauNVO zulässig wären, gleichwohl den Zweck des Baugebietes konterkarieren. Demnach ist die Gebietsverträglichkeit der Einzelfallprüfung nach § 15 I BauNVO vorgelagert.[14]Stock, in: König/Roeser/Stock, 4. Aufl. 2019, BauNVO § 8 Rn. 19.
Notwendig ist eine doppelte, typisierende Betrachtung, nämlich hinsichtlich der typischen Nutzungsweise des Vorhabens und der typischerweise vorherrschenden Nutzungsart des jeweiligen Gebiets. In Bezug auf gebietsversorgende Schank- und Speisewirtschaft ist zunächst festzustellen, dass die Baunutzungsverordnung diese eher tatbestandlich eng in Kleinsiedlungsgebieten (§ 2 II Nr. 2 BauNVO) und allgemeinen Wohngebieten (§ 4 II Nr. 2 BauNVO) für allgemein zulässig erklärt und ordnet diesen Gebieten sie funktional zu. Die von ihnen bei typisierender Betrachtung ausgehenden Störungen hält der Verordnungsgeber für gebietsverträglich.[15]BVerwG, NVwZ 2020, 404, 406.
Eine extensive Nutzung kann daher als allgemein gebietsunverträglich eingestuft werden.

c) Befreiung nach § 31 II BauGB

In Betracht kommt noch eine Befreiung gemäß § 31 II BauGB. Die Voraussetzungen für eine Befreiung sind, dass zunächst die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft.[16]VGH München Beschl. v. 19.4.2023 – 9 ZB 22.1495, BeckRS 2023, 8770 Rn. 15 Was hierzu zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Dieser manifestiert sich gerade in Form keiner extensiven Nutzung des Gebiets über die zulässigen Vorhaben hinaus, da die Gemeinde sogar die gesetzlich in § 4 III BauNVO angelegten Ausnahmetatbestände ausgeschlossen hat. Es stände daher im Widerspruch, solche ähnlichen Vorhaben dann über die Befreiung zuzulassen. Mithin kommt eine Zulässigkeit nach § 31 II BauGB nicht in Betracht.

C. Ergebnis

Das Vorhaben des A wäre rechtswidrig. Es ist weder genehmigungsfrei noch wäre es genehmigungsfähig.

Zusatzfragen

1. Ist die Ausübung eines freien Berufs in einem reinen Wohngebiet zulässig?

Das reine Wohngebiet ist in § 3 BauNVO geregelt. Demnach sind zulässig Wohngebäude und Anlagen zur Kinderbetreuung, die den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen (§ 3 II BauNVO). Ausnahmsweise können Läden und nicht störende Handwerksbetriebe, die zur Deckung des täglichen Bedarfs für die Bewohner des Gebiets dienen, sowie kleine Betriebe des Beherbergungsgewerbes und sonstige Anlagen für soziale Zwecke sowie den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienende Anlagen für kirchliche, kulturelle, gesundheitliche und sportliche Zwecke zugelassen werden. Nach dem Wortlaut fällt dadurch eine Arztpraxis oder eine Anwaltskanzlei weder unter die zulässige- noch unter die Ausnahmebebauung. Diesen Umstand greift § 13 BauNVO auf, indem er für Freiberufler den durch die Baugebietsvorschriften abgesteckten Zulässigkeitsrahmen erweitert [17]Stock, in: König/Roeser/Stock, 5. Aufl. 2022, BauNVO § 13 Rn. 7.. Der grundsätzlich als lex specialis anzusehende § 13 BauNVO ermöglicht die Zulässigkeit für die Berufsausübung freiberuflich Tätiger und solcher Gewerbetreibender, die ihren Beruf in ähnlicher Art ausüben, in den Baugebieten nach den §§ 2 bis 4 in Räumen, in den Baugebieten nach den §§ 4a bis 9 auch in ganzen Gebäuden.
Für die Zulässigkeit im reinen Wohngebiet gilt daher, dass die Ausübung eines freien Berufs vorliegen muss und dieser nur in einem Raum des Gebäudes ausgeübt werden darf. Im Gegensatz dazu dürfen in den Gebieten nach §§ 4a bis 9 ganze Gebäude von der Nutzung umfasst sein. Ein Ärztehaus wäre daher in einem reinen Wohngebiet unzulässig. Raum meint jedoch nicht nur den Teil einer Wohneinheit, sondern Teile von Gebäuden. Dieser darf kein funktional eigenständiger Bau sein, sodass freistehende Bauten auf einem Grundstück nicht unter den § 13 BauNVO fallen.[18]Stock, in: König/Roeser/Stock, 5. Aufl. 2022, BauNVO § 13 Rn. 20. Damit das Gesamtgepräge nicht gestört wird, darf grundsätzlich die freiberuflich genutzte Fläche nicht mehr als die Hälfte der nutzbaren Fläche ausmachen.[19]BVerwG, NVwZ 1986, 373. Dies ist aber kein allgemeingültiger Grundsatz. Gemessen werden muss die Wirkung anhand des Regelungszusammenhangs des konkreten Baugebiets.

2. Wie kann der A sein Begehren gerichtlich geltend machen, falls tatsächlich eine Genehmigungsfreiheit vorliegt, die Behörde aber zu erkennen gibt dies anders zu sehen?

Da A die Feststellung begehrt, ob überhaupt eine Nutzungsänderung vorliegt, kommt eine Feststellungsklage nach § 43 I Alt. 1 VwGO in Betracht. Diese wäre auf die Feststellung bezogen, dass für das Vorhaben des A keine Baugenehmigung erforderlich sei.
Dem könnte jedoch die Subsidiarität der Feststellungsklage entgegenstehen. Dies wäre der Fall, wenn der A seine Rechte durch eine Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann. In Fällen des Baurechts kommt insbesondere die Verpflichtungsklage auf Erlass einer Baugenehmigung in Betracht. Der A kann jedoch genau sein Begehren auf die Feststellung der Baugenehmigungspflicht begrenzen. Fällt das Urteil zu seinen Gunsten aus, bedarf er keiner Baugenehmigung. Streitgegenstand der Verpflichtungsklage wäre eben nicht die begehrte Klärung der Vorfrage des Bestandschutzes.[20]Zu klärenden Vorfragen, OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6. Mai 2020 – 8 A 11545/19 –, juris, Rn. 42 f. Demnach ist die Feststellungsklage die statthafte Klageart.


Zusammenfassung

1. Eine Nutzungsänderung liegt vor, wenn die neue Nutzung aus Sicht der jeweils berührten öffentlich-rechtlichen Vorschriften eine andere Qualität als die bisherige Nutzung aufweist. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die in der Baugenehmigung enthaltende Variationsbreite überschritten wird.

2. Bei mehreren in Betracht kommenden Nutzungsarten ist für die Beurteilung des Vorhabens auf den Schwerpunkt der Nutzung abzustellen. Dabei ist das bestimmende Merkmal des Betriebs durch die Gesamtwürdigung aller Umstände zu ermitteln.

3. Die Festsetzungen des B-Plans sind entscheidend für die Frage, ob eine Befreiung in Betracht kommt. Je weiter entfernt ein Vorhaben von den Festsetzungen liegt, desto weniger kommt eine Befreiung in Betracht.

[+]

Schreibe einen Kommentar