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Niqab am Steuer

OVG NRW, Urt. v. 05.07.2024 – 8 A 3194/21; OVG Rheinland-Pfalz Beschl. v. 13.08.2024 – 7 A 10660/23; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 07.06.2022 − IV-2 RBs 73/22; OVG NRW, Beschluss vom 20.5.2021 – 8 B 1967/20

Sachverhalt

M ist Muslima und hat sich vor mehr als 10 Jahren entschieden einen sog. Niqab zu tragen, um sich ihrer religiösen Überzeugung entsprechend zu kleiden. Ein Niqab ist ein Gesichtsschleier, der bis auf die Augenpartie den ganzen Kopf bedeckt.

M wohnt in der nordrheinwestfälischen Stadt S, die über ein gut ausgebautes Netz an Öffentlichem Nahverkehr verfügt. Seitdem M mehrfach in Bussen und Bahnen wegen ihrer Kleidung angegangen wurde, fährt sie ausschließlich Fahrrad und Auto. Das Auto braucht sie auch, um ihrer selbstständigen gewerblichen Tätigkeit als Masseurin nachzugehen. Ihre Tätigkeit erfolgt ausschließlich durch Hausbesuche, wofür sie eine Massageliege mit dem Auto transportieren muss. Seitdem sie den Niqab auch beim Autofahren trägt, wurde sie mehrfach von der Polizei angehalten und auf das Verbot das Gesicht zu verhüllen oder zu verdecken nach § 23 IV S. 1 StVO hingewiesen. Sie hat jeweils einen Strafzettel erhalten.

Die StVO in der jetzt gültigen Form wurde auf Grundlage von § 6 I StVG unter Zustimmung des Bundesrates erlassen und unter Einhaltung des Zitiergebots rechtskonform verkündet. 

M möchte nun eine Ausnahmegenehmigung von der zuständigen Behörde erhalten, die ihr erlauben würde mit dem Niqab ein Auto zu fahren. Eine solche Ausnahmegenehmigung nach § 46 II StVO beantragt sie bei der zuständigen Landesverkehrsbehörde. Diese lehnt die Ausnahmegenehmigung ab. Die Behörde meint, die Voraussetzungen für eine Ausnahmegenehmigung lägen nicht vor. Das Verhüllungsverbot im Auto sei notwendig, um Verkehrsverstöße automatisch zu erfassen und im Folgenden ahnden zu können. Die automatisierte Erfassung von Verkehrsverstößen sei notwendig, um die Sicherheit des Straßenverkehrs zu schützen und zu gewährleisten. Könne im Nachgang nicht ermittelt werden, wer einen Verkehrsverstoß begangen habe, könnten Personen Verstöße begehen, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Religion der M sei kein Grund, der diese Gründe überwiege, weshalb eine Ausnahmegenehmigung nicht erteilt werden könnte.
Daneben sei die Sicherheit des Verkehrs auch von der Möglichkeit der nonverbalen Kommunikation abhängig. Ohne Sicht auf mehr als die Augenpartie könne dies nicht gewährleistet sein. Außerdem werde durch das Tragen des Niqabs das Sichtfeld eingeschränkt. Dadurch werde die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs ebenfalls gefährdet, da Verkehrshindernisse oder andere Verkehrsteilnehmende übersehen werden könnten.

Die M ist empört und legt (einen zulässigen) Widerspruch gegen die ablehnende Entscheidung ein. Die StVO sei kein Parlamentsgesetz und könne deshalb gar nicht die Religionsfreiheit derartig schwerwiegend beschneiden. Die für die Entscheidung notwendige Abwägung der widerstreitenden Interessen könne nur durch ein Parlament erfolgen. Sie verstehe nicht, warum es während der Corona-Pandemie erlaubt gewesen sei mit einem Mund-Nasen-Schutz (MNS) Auto zu fahren, während ein Niqab verboten sei. Mehrere Bundes- und Landesbehörden hatten bestätigt, dass ein MNS erlaubt und keine Behinderung der automatisierten Erfassung darstelle. Nonverbale Kommunikation im Verkehr beschränke sich regelmäßig auf Blicke bzw. Kopfbewegungen, wie Nicken und Schütteln sowie Handzeichen. Diese seien nicht eingeschränkt, meint M. M schreibt außerdem, dass sie bereit sei ein Fahrtenbuch zu führen, wodurch sichergestellt werden könnte, dass im Nachhinein nachvollzogen werden kann, wer das Auto zu welchem Zeitpunkt geführt habe. Die Ausnahmegenehmigung könnte auch nur für das entsprechende Auto gelten.

Die Behörde bescheidet den Widerspruch ablehnend und versagt die Ausnahmegenehmigung aus den gleichen Gründen wie zuvor. Sie führt darüber hinaus aus, dass der Unterschied zwischen MNS und Niqab sei, dass der MNS nur den Bereich bis zu den Augen verdecke. Der Rest des Gesichts sei jedoch erkennbar und für einen Vergleich mit Fotos in der Datenbank der Verkehrsbehörde geeignet und ausreichend. Eine Fahrtenbuchauflage sei nicht gleich effektiv und müsse deshalb nicht in Betracht gezogen werden. Letztlich könne die Religionsfreiheit jedenfalls nicht den Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs überwiegen.

M erhebt Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht.

1. Mit welchem Rechtsmittel kann die M ihr Klagebegehren verfolgen?

2. Hat die zulässige Klage Aussicht auf Erfolg?

Auf folgende Vorschriften wird hingewiesen:

§ 6 StVO

(1) Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates über Folgendes zu erlassen: (…)

Nr. 2 das Verhalten im Verkehr, auch im ruhenden Verkehr,

(…)

§ 23 StVO

(…)

(4) Wer ein Kraftfahrzeug führt, darf sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist. (…)

§ 46 StVO

(…)

(2) Die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen können von allen Vorschriften dieser Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen. (…)


Skizze

Gutachten

1. Mit welchem Rechtsmittel kann die M ihr Klagebegehren verfolgen?

Fraglich ist, mit welchem Rechtsmittel die M ihr Klagebegehren verfolgen kann. Zu bestimmten ist also, was hier die statthafte Klageart wäre. Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers, § 88 VwGO. Hier begehrt M eine Ausnahmegenehmigung vom Verbot das Gesicht während der Fahrt zu bedecken. Der M geht es nicht um die Prüfung der Rechtmäßigkeit der StVO-Vorschrift und sie will auch nicht nur einstweiligen Rechtsschutz. Ihr Begehren könnte die M erreichen, in dem sie eine Verpflichtungsklage erhebt. Diese ist statthaft, wenn der Kläger die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes begehrt, vgl. § 42 I 2. Fall VwGO. Bei der Ausnahmegenehmigung handelt es sich um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG. Somit ist die Verpflichtungsklage gem. § 42 I VwGO in der Form der Versagungsgegenklage statthaft. Die M kann ihr Ziel mit einer Versagungsgegenklage erreichen.

Vernetztes Lernen: Weitere denkbare Fallkonstellationen

Die M könnte eine Feststellungsklage nach § 43 I VwGO mit dem Inhalt erheben, dass sie festgestellt wissen will, dass sie von der Anordnung nach § 23 IV StVO nicht betroffen ist, weil diese als Rechtsgrundlage nicht herangezogen werden kann (wegen einer [möglichen] Verletzung der Religionsfreiheit). M hätte jedoch dann das Problem, dass das Gericht ihre Klage abweisen könnte, weil es die StVO für anwendbar hält und dann die Voraussetzungen einer Ausnahmegenehmigung nicht prüfen würde.
Denkbar wäre auch, dass die M gegen die StVO-Vorschrift vorgehen wollte. Da eine Normenkontrolle nach § 47 VwGO ausscheidet, weil diese nicht für bundesgesetzliche Verordnungen gilt, könnte sie dies nur im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geltend machen. Das BVerfG prüft jedoch bei Verfassungsbeschwerden gegen Verordnungen streng, ob der Rechtsweg ausgeschöpft wurde, z.B. auch, ob eine Feststellungsklage gegen den Normgeber erhoben wurde, die zum Inhalt hat, dass der Normgeber seine Pflichten durch den Erlass der Vorschrift verletzt hat.[1]BVerfG Beschl. v. 17.01.2006, 1 BvR 541/02.

2. Hat die zulässige Klage Aussicht auf Erfolg?

Die zulässige Klage hat Erfolg, wenn und soweit sie begründet ist. Die Klage der M ist begründet, wenn sie einen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung hat und sie durch die Ablehnung in ihren Rechten verletzt wurde, § 113 V VwGO.

Anmerkung: Zulässigkeit
Die Prüfung der Zulässigkeit einer vergleichbaren Klage kann hier nachgelesen werden: https://examensgerecht.de/turban-statt-schutzhelm-auf-dem-motorrad/. In dem Fall möchte eine Person, die aus religiösen Gründen einen Turban trägt, eine Ausnahmegenehmigung für das Führen eines Motorrads ohne die Helmpflicht nach der StVO zu beachten.

I. Anspruchsgrundlage

Anspruchsgrundlage für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung ist § 46 II StVO.

Anmerkung: Anspruchs- oder Rechtswidrigkeitsaufbau
Es ist in Fällen der Verpflichtungsklage möglich den Anspruch oder die Rechtswidrigkeit der Ablehnung zu prüfen. Inhaltlich sind die Prüfungen weitgehend identisch, Unterschiede ergeben sich vor allem in der Formulierung. Allerdings ist beim Rechtswidrigkeitsaufbau zu beachten, dass ein Verstoß regelmäßig nicht den Anspruch begründet. Also führt eine z.B. formell oder materiell rechtswidrige Ablehnung nicht bereits zum Erfolg der Verpflichtungsklage. Kommt man zum Ergebnis, dass die Ablehnung materiell rechtswidrig war, muss man darüber hinaus prüfen, ob der Verstoß zugleich anspruchsbegründend ist. Der Anspruchsaufbau führt zielgerichteter auf das Ergebnis der nach § 113 V VwGO vorgegebenen Prüfung.

II. Formelle Anspruchsvoraussetzungen

Die M hat einen Antrag auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung bei der zuständigen Behörde gestellt. Damit sind die formellen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt.

III. Materielle Anspruchsvoraussetzungen

Die Voraussetzungen der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung, d.h. Tatbestand und Rechtsfolge, müssten vorliegen. Dies gilt jedoch nicht, wenn eine Ausnahmegenehmigung bereits nicht notwendig ist, weil § 23 IV StVO wegen seiner Rechtswidrigkeit bereits nicht anwendbar ist.

1. Verfassungsmäßigkeit der Verordnung

Dies wäre der Fall, wenn § 23 IV StVO verfassungswidrig wäre. Während eine Verwerfungskompetenz bezüglich formeller Bundesgesetze nur dem Bundesverfassungsgericht zusteht (vgl. Art. 100 I, 93 I Nr. 4a GG), gilt dies in Bezug auf Rechtsverordnungen nur eingeschränkt. Rechtsverordnungen müssen von der Verwaltung auf Grund der Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 III GG auch bei Zweifeln an deren Verfassungsmäßigkeit angewendet werden, können aber von Verwaltungsgerichten auf deren Verfassungsmäßigkeit geprüft und für den Einzelfall für unanwendbar erklärt (nicht aber verworfen) werden. Dies gilt jedoch nur für die Rechtsverordnung selbst, der delegierende Rechtsakt (die Verordnungsermächtigung) kann als Bundesgesetz nur vom BVerfG verworfen werden.

a) Verordnungsermächtigung

Gem. Art. 80 I S. 1 GG bedarf es für den Erlass einer Rechtsverordnung eines delegierenden Rechtsakts, der auch als Ermächtigungsgesetz bezeichnet wird. Die Verordnungsermächtigung für § 23 IV StVO findet sich in § 6 StVG.

b) Formelle Voraussetzungen

Die formellen Voraussetzungen der Verordnungsermächtigung müssten eingehalten worden sein.

aa) Zuständigkeit

Die Zuständigkeit für den Erlass der Verordnung ergibt sich aus dem Ermächtigungsgesetz. Dies ist nach § 6 StVG das Bundesverkehrsministerium, welches auch gehandelt hat.

bb) Verfahren

§ 6 StVG schreibt als Verfahrensanforderung die Zustimmung des Bundesrates vor, die hier erteilt wurde.

cc) Form

§ 23 IV StVO wurde in verfassungsmäßiger Weise verkündet.

c) Materielle Rechtmäßigkeit

§ 23 IV StVO müsste auch materiell rechtmäßig sein.

aa) Einhaltung des Zitiergebots

Eine Rechtsverordnung muss das Ermächtigungsgesetz nennen, Art. 80 I S. 3 GG. Das Zitiergebot wurde eingehalten.

Anmerkung: Zitiergebot als formelle oder materielle Frage
Ob die Einhaltung des Zitiergebots eine formelle oder materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung ist, wird unterschiedlich verstanden. Es ist also ebenfalls möglich diese Frage als Teil der formellen Prüfung zu bearbeiten.
bb) Voraussetzungen der Verordnungsermächtigung

Dafür müssten die Voraussetzungen für den Erlass einer Verordnung der Verordnungsermächtigung gegeben sein. Dies ist notwendig, da der parlamentarische Gesetzgeber wegen des Wesentlichkeitsgrundsatzes verpflichtet ist die für die Grundrechtsausübung maßgeblichen Regelungen selbst zu bestimmen und nur in einem angemessenen und in Bezug auf Inhalt, Zweck und Ausmaß eindeutig umfassten Bereich die Pflicht zum Erlass von formellen Gesetzen auf Behörden übertragen kann.  

(1) Zur Abwehr von Gefahren

§ 6 I StVG bestimmt, dass die Verordnungsermächtigung nur zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen herangezogen werden kann.

Fraglich ist, ob das Verbot das Gesicht zu bedecken oder zu verhüllen zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs erforderlich ist.

Da die Verordnung eine abstrakt-generelle Regelung darstellt, bedarf es auch nur einer abstrakten Gefahr. Eine abstrakte Gefahr besteht, wenn ein Gefahrenpotential besteht, welches typischerweise bei ungehindertem Fortschreiten eine Gefahr begründet. Da die Gefahr für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs bestehen muss, kann der drohende Schadenseintritt sich nur hierauf beziehen.

Die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs könnte durch eine Gesichtsbedeckung beeinträchtigt werden, da die automatisierte Erfassung von Verstößen (z.B. Blitzer bei Geschwindigkeitsüberschreitung oder Rotlichtverstößen) die Ahndung von Verstößen ermöglicht und damit die Einhaltung von Verkehrsregeln fördern kann. Kann aber durch eine Bedeckung des Gesichts nicht mehr der Fahrer oder die Fahrerin des Fahrzeugs festgestellt werden, droht die Einhaltung der Straßenverkehrsregelungen zu erodieren, was wiederum eine Gefahr für die Sicherheit des Verkehrs aber auch für die Leichtigkeit darstellen kann. Ebenso kann eine Gefahr daraus entstehen, dass der Fahrer oder die Fahrerin durch die Kopfbedeckung in ihrer Sicht beeinträchtigt wird, weil die Bedeckung des Kopfes auch Teile des Sichtfeldes beeinträchtigen kann. Außerdem könnte auch dadurch eine Gefahr entstehen, dass die Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation eingeschränkt werden.

Eine Gefahr für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs besteht.

(2) Regelung des Verhaltens der Verkehrsteilnehmenden

Die Regelung zielt auch auf die Regelung des Verhaltens der Verkehrsteilnehmenden.

(cc) Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht

§ 23 IV StVO müsste auch mit höherrangigem Recht vereinbar sein.

Anmerkung: Abstrakte Prüfung
An dieser Stelle folgt die abstrakte Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der StVO-Vorschrift. Hier geht es noch nicht um die konkret geltend gemachten Rechtsverletzungen von M durch die ablehnende Entscheidung.

(1) Verstoß gegen die Religionsfreiheit

Das Verbot das Gesicht zu bedecken des § 23 IV StVO könnte gegen die Religionsfreiheit verstoßen.

(a) Schutzbereich der Religionsfreiheit

Zunächst müsste der Schutzbereich eröffnet sein. Der einheitliche Schutzbereich des Art. 4 I und II GG schützt sowohl die innere Freiheit des Glaubens (forum internum), also einen Glauben zu haben, oder keinen Glauben zu haben oder einen Glauben frei auszuwählen, aber auch die äußere Glaubensfreiheit (forum externum), also den Glauben zu bekunden, zu verbreiten, und sich nach den Lehren des Glaubens zu verhalten. Dies umfasst kultische Handlungen, die Ausübung und Beachtung religiöser Bräuche und andere Formen der Äußerung des religiösen bzw. weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört das Recht der einzelnen Person ihr Leben so zu gestalten, dass ihr Verhalten an den Lehren des Glaubens ausgerichtet ist. Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben.[2]Vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17 Rn. 78, 80; siehe dazu auch: https://examensgerecht.de/kopftuchverbot-fur-richterinnen/. Das Tragen eines Niqabs ist Teil des Verständnisses des muslimischen Glaubens einer Glaubensgruppe innerhalb des Islams unter Berufung auf den Koran. Das Tragen eines Niqabs unterfällt damit der Glaubensfreiheit.

(b) Eingriff

§ 23 IV StVO müsste einen Eingriff in die Glaubensfreiheit begründen. Ein Eingriff ist nach dem modernen Eingriffsbegriff jede Verkürzung des Schutzbereichs. Sieht sich eine Person aufgrund ihres Glaubens verpflichtet oder als Ausdruck ihres Glaubens dazu angehalten eine sog. Niqab zu tragen, unterfällt dies dem Verbot des § 23 IV StVO. Eine Person, die einen Niqab trägt, ist damit im Ergebnis gezwungen sich zwischen der Ausübung ihrer Religion und dem Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr zu entscheiden, wodurch der Schutzbereich der Religionsfreiheit verkürzt wird. § 23 IV StVO stellt einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar.

(c) Rechtfertigung

Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.

(aa) Bestimmung der Schranke

Art. 4 GG enthält keine geschriebene Schranke.

Vernetztes Lernen: Was könnte für eine geschriebene Schranke der Religionsfreiheit sprechen?

Es ist nicht notwendig in jeder Klausur zu prüfen, ob die Religionsfreiheit einer geschriebenen Schranke unterliegt, da die Frage in der höchstrichterlichen Rechtsprechung abschließend behandelt wurde. Hat man in einer Klausur aber Zeit, kann ein kleiner „Schlenker“ hier positiv gewertet werden.

Denkbar wäre Art. 140 i.V.m. Art. 136 I WRV als eine Schranke von Art. 4 I GG heranzuziehen. Art. 136 I WRV stellt die Religionsausübung unter den Vorbehalt der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, also einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Fraglich ist jedoch, in welchem Verhältnis Art. 136 I WRV zu Art. 4 I GG steht.
Man kann argumentieren, dass der Gesetzgeber sich bewusst dafür entschieden hat, nur einer sehr begrenzten Anzahl an Vorschriften aus der WRV durch den Verweis in Art. 140 GG Geltung zu verschaffen. Die aktive Wahl von Art. 136 I WRV spräche demnach dafür, dass die Vorschrift eine Schranke darstellen soll.
Dagegen spricht jedoch, dass Art. 4 GG in die Systematik der Grundrechte eingebettet steht und Gesetzesvorbehalte in allen anderen Vorschriften der Grundrechte ausdrücklich benannt werden. Es ergibt sich ein kohärentes System in den Art. 1 – 19 GG. Es gibt kein anderes Grundrecht, dass seine geschriebene Schranke aus einer anderen Vorschrift des GG, geschweige denn der WRV, erhält.
Historisch kann man zusätzlich vorbringen, dass in der Weimarer Republik Art. 135 WRV die Religionsfreiheit garantierte und unter den Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze“ stellte, also einen Gesetzesvorbehalt vorsah. Bedeutsam ist, dass gerade die Vorschrift, die ausdrücklich ein (Grundrechts-)Garantie-Schranken-Verhältnis hatte, nicht übernommen wurde.
Außerdem gäbe es so bei der Anwendung von Art. 136 WRV einen einfachen Gesetzesvorbehalt für Art. 4 II GG, nicht aber für Art. 4 I GG. Das einheitliche Grundrecht der Glaubensfreiheit hätte dementsprechend zwei unterschiedliche Schranken, was wiederum auch systemwidrig wäre.
Art. 4 I, II GG steht demnach nicht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt.

Das Grundrecht ist beschränkt durch verfassungsimmanente Schranken. Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang müssen daher mit der Glaubensfreiheit im Wege der praktischen Konkordanz in Einklang gebracht werden.

Hier kommen die Sicherheit des Straßenverkehrs als Gemeinschaftswert von Verfassungsrang und das Recht auf körperliche Unversehrtheit der anderen Verkehrsteilnehmenden aus Art. 2 II GG als Schutzgüter in Betracht, die eine Einschränkung der Religionsfreiheit rechtfertigen können.

Die Einschränkung bedarf außerdem einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage.[3]BVerfG, Beschl. v. 14.01. 2020 – 2 BvR 1333/17, Rn. 82.

(bb) Gesetzliche Grundlage

§ 23 IV StVO stellt eine in ihrem Inhalt hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage dar.

(cc) Wesentlichkeitsgrundsatz

Fraglich ist, ob § 23 IV StVO im Hinblick auf den Wesentlichkeitsgrundsatz rechtskonform ist.

Anmerkung: Standort der Prüfung der Einhaltung des Wesentlichkeitsgrundsatzes
Die Prüfung der Einhaltung des Wesentlichkeitsgrundsatzes kann entweder als eigenständiger Rechtsverstoß (also unter: bb) bei der materiellen Rechtmäßigkeit der Verordnung) geprüft werden oder hier im Rahmen der Prüfung des Art. 4 I, II GG. Das OVG NRW hat es eher hier verortet, was auch darin begründet liegt, dass der Wesentlichkeitsgrundsatz nur dann zum Tragen kommt, wenn eine für die Grundrechtsausübung wesentliche Frage betroffen wird. Wäre also bereits keine Grundrechtsabwägung notwendig, wäre auch der Wesentlichkeitsgrundsatz nicht betroffen. Da aber erst hier die Frage der Geeignetheit der StVO zur Abwägung der betroffenen Grundrechte entscheidend wird, kann man es gut hier prüfen.

Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebieten, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. „Wesentlich“ bedeutet zum einen „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“. Eine Pflicht des Gesetzgebers, die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst zu bestimmen, kann etwa dann bestehen, wenn miteinander konkurrierende Freiheitsrechte aufeinandertreffen, deren Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muss. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte erforderlich sind. Der Gesetzgeber ist zum anderen zur Regelung der Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind.[4]OVG NRW, Urt. v. 05.07.2024 – 8 A 3194/21, Rn. 107 mit Verweis auf BVerfG, Urt. v. 19.09.2018 – 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 Rn. 194.

Art. 80 I S. 2 GG stellt eine Ausformung des Wesentlichkeitsgrundsatzes dar und gibt dem Gesetzgeber auf in dem Fall, dass er die Gesetzgebungstätigkeit auf die Verwaltung übertragen will, Inhalt, Zweck und Ausmaß per Gesetz zu bestimmen. Die Reichweite der vom Gesetzgeber zu bestimmenden Aspekte ist nach dem Regelungsgegenstand im Einzelfall zu bestimmen. Dies gebietet, dass der Gesetzgeber die entscheidenden Grundlagen des zu regelnden Rechtsbereichs, die den Freiheits- und Gleichheitsbereich wesentlich betreffen, selbst festlegt und dies nicht dem Handeln der Verwaltung überlässt. Das Grundgesetz kennt allerdings keinen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts.[5]Vgl. OVG NRW, Urt. v. 05.07.2024 – 8 A 3194/21, Rn. 109.  Sollen Regelungen ergehen, die Freiheits- und Gleichheitsrechte der Betroffenen wesentlich betreffen, ist daher die Einbindung des Verordnungsgebers in die Regelungsaufgabe nicht schlechthin ausgeschlossen.[6] BVerfG, Beschl. v. 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, Rn. 127.

§ 23 IV StVO ordnet eine allgemeine Pflicht zur Nicht-Bedeckung des Gesichts an, wenn eine Person am Straßenverkehr teilnimmt. Darin liegt gerade keine Regelung des Lebensbereichs der Religionsausübungsfreiheit und führt auch nicht zu einer gezielten oder unmittelbar den Schutzbereich der Religionsfreiheit betreffenden Beschränkung. Sie stellt vielmehr eine generelle Anordnung dar, die gleichwohl mit der Religionsfreiheit kollidieren kann. Auch in etwaigen Konfliktfällen ist die Intensität des Eingriffs in der Regel aber begrenzt, weil das Verhüllungsverbot nur das Führen näher bestimmter Kraftfahrzeuge betrifft und die Religionsausübung damit nur in einer zeitlich und örtlich eng begrenzten und für die Verwirklichung der Religionsfreiheit typischerweise nicht wesentlichen Lebenssituation eingeschränkt sein kann.[7]Vgl. OVG NRW, Urt. v. 05.07.2024 – 8 A 3194/21, Rn. 114. Siehe hierzu auch die Entscheidung des BVerwG Urt. v. 04.07.2019 – 3 C 24.17, Rn. 9; … Continue reading Auch die anderen in der StVO geregelten Fragen stellen den Ausdruck wesentlicher Abwägungen zwischen den Grundrechten der verschiedenen Verkehrsbeteiligten dar.[8]Was vom BVerfG nicht einmal problematisiert wurde: Vgl. die Nachweise bei OVG NRW, Urt. v. 05.07.2024 – 8 A 3194/21, Rn. 130.

§ 23 IV StVO steht mit dem Vorbehalt des Gesetzes bzw. dem Wesentlichkeitsgrundsatz im Einklang.

(dd) Praktische Konkordanz

Die Regelung müsste außerdem unter Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter von Verfassungsrang und Grundrechten Dritter die Grenzen der praktischen Konkordanz wahren. Dies ist der Fall, wenn die Einschränkungen des schrankenlos gewährten Grundrechts nur soweit erfolgen, wie dies notwendig ist, um einem anderen Grundrecht oder Rechtsgütern von Verfassungsrang die Entfaltung zu gewährleisten. Dies richtet sich nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

(aaa) Legitimer Zweck

Die Regelung müsste einen legitimen, d.h. nicht im Widerspruch zur Verfassung stehenden, Zweck verfolgen. Der mit der Regelung des § 23 IV StVO verfolgte Zweck ist der Schutz der Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Straßenverkehrs als Gemeinschaftsgut von Verfassungsrang sowie der Schutz von Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmenden.

(bbb) Geeignetheit

Die Regelung müsste auch geeignet sein diesen Zweck zu fördern. Dies könnte durch das Verbot das Gesicht zu bedecken oder zu verhüllen erreicht werden, weil die die automatisierte Erfassung von Verstößen und die Ermittlung der Fahrerinnen und Fahrer ermöglicht wird, Sichtbeschränkungen verhindert werden und die nonverbale Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmenden gewährleistet wird.

Die Regelung ist durch das Ermöglichen der automatisierten Erfassung von Verstößen geeignet die Verfolgung von Verkehrsverstößen überhaupt erst möglich zu machen und die Einhaltung der Verkehrsregeln wegen der drohenden Strafen sicherzustellen (Präventivfunktion).[9]Vgl. BR-Drs. 556/17, S. 2, 4, 14 und 28.

Die Regelung ist auch durch die Verhinderung von Sichtbeschränkungen geeignet, die Sicherheit des Verkehrs zu fördern, weil die Verkehrsteilnehmenden nicht in ihrer Sicht beschränkt sind.[10] BVerfG, Beschluss vom 26.02.2018 – 1 BvQ 6/18, Rn. 6 Soweit damit auch Gesichtsbedeckungen verboten werden, die im Einzelnen nicht die Sicht einschränken, ist dies aufgrund der Notwendigkeit die Einhaltung zu kontrollieren, gerechtfertigt.

Die Regelung schützt nicht die nonverbale Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmenden. Die Regelung des Verkehrs erfolgt vollständig unabhängig von nonverbaler Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmenden. Der Verkehr wird durch allgemeine Regeln (wie „rechts vor links“) Verkehrszeichen, Lichtanlagen und Arten der Verkehrsführung geregelt. Insoweit eine der (seltenen) Situationen auftritt, in denen die Verkehrsregeln kein Verhalten vorschreiben (bzw. sich die Regeln widersprechen), können die Verkehrsteilnehmenden z.B. die Rangfolge der Vorfahrt mit dem Aufblenden des Lichts oder Handzeichen oder Kopfnicken miteinander ausmachen. An keiner Stelle setzt die Sicherheit des Straßenverkehrs voraus, dass ein Verkehrsteilnehmer die Mimik eines anderen Verkehrsteilnehmers sehen kann.[11]OVG NRW Urt. v. 05.07.2024 – 8 A 3194/21, Rn. 148 ff; OVG NRW, Beschl. v. 20.05.2021 – 8 B 1967/20, Rn. 36 ff; kritisch Rebler/Huppertz, NZV 2021, 127, 130.

(ccc) Erforderlichkeit

Die Regelung müsste auch erforderlich sein. Erforderlich ist eine Regelung, wenn sie das mildeste Mittel mit gleicher Effektivität der Förderung des Regelungszwecks darstellt. Man könnte zwar bereits darüber nachdenken, dass von dem Verbot eine Ausnahme z.B. unter Auflage einer Fahrtenbuchauflage allgemein hätte aufgenommen werden können. Dies wäre jedoch nicht gleich effektiv und mit einer hohen Belastung der jeweils von der Norm betroffenen Personen verbunden, weshalb die Regelung auch erforderlich ist.

(ddd) Angemessenheit im engeren Sinne / praktische Konkordanz

Die Regelung müsste auch angemessen sein. Angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinne ist eine gesetzliche Regelung dann, wenn bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt wird. Dabei ist ein angemessener Ausgleich zwischen dem Eingriffsgewicht der Regelung und dem verfolgten gesetzgeberischen Ziel sowie der zu erwartenden Zielerreichung herzustellen. Im Wege der praktischen Konkordanz sind die sich gegenüberstehenden, kollidierenden Verfassungsrechte in einen Ausgleich zu bringen, der jedem der betroffenen Rechte einen möglichst weitreichenden Geltungsspielraum überlasst.

Die Abwägung zwischen den kollidierenden Verfassungsgütern obliegt primär dem Verordnungsgeber, der die Bedeutung der Religionsfreiheit nicht außer Acht lassen darf, während er zugleich die anderen Güter von Verfassungsrang ausreichend schützen muss.

Der Eingriff in die Religionsfreiheit beschränkt sich auf Autofahrten, in denen die Person selbst Fahrer:in ist, also Momente, in denen die Religionsausübung nicht im Vordergrund steht. Insoweit könnte man argumentieren, dass die Religionsausübung im engeren Sinne dadurch nicht beschränkt wird. Andererseits gibt es Religionen oder Verständnisse von Religionen, die gerade in privaten Momenten (bzw. nicht konkret religiösen Momenten) Aspekte der Lebensführung beeinflussen. Dazu kann z.B. auch die Kleiderwahl in einem Moment wie dem Autofahren gehören. Denn beim Autofahren kann man von anderen Personen, die ebenfalls am Straßenverkehr teilnehmen, wahrgenommen werden. Entscheidend ist die von der gläubigen Person selbst wahrgenommene Beeinträchtigung der ihrer Auffassung entsprechenden Religionsausübung.

Die Religionsfreiheit ist – genau wie jedes andere Grundrecht – jedoch gerade nicht abwägungsfest sondern muss in einen schonenden Ausgleich mit den gegenüberstehenden Verfassungsgütern gebracht werden. Dazu gehört das Recht auf Leben und Gesundheit, welches durch die Vorgabe eines unbedeckten Gesichts zumindest mittelbar geschützt wird.

Die Sicherstellung der automatisierten Verkehrsverstoßerfassung und die Sicherstellung der Sicht der Fahrer:innen ist für einen sicheren Verkehr ein wesentlicher Aspekt. Wird dies nicht eingehalten drohen Verkehrsverstöße die Sicherheit des Straßenverkehrs zu gefährden.

Letztlich ist angesichts der sich gegenüberstehenden und widerstreitenden Interessen eine Abwägungsentscheidung zu treffen. Bei dieser hat der Verordnungsgeber eine Einschätzungsprärogative bei der er die Religionsfreiheit berücksichtigen muss. Die Religionsfreiheit schützt dabei davor, dass sich der Verordnungsgeber für eine übermäßige Beeinträchtigung entscheidet, sie schützt aber nicht davor, dass die Religionsausübung ohne Berücksichtigung der widerstreitenden Aspekte gewährleistet wird. So ist es nicht unangemessen letztlich die Religionsfreiheit hier gegenüber der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zurückzustellen und darauf zu verweisen, dass Personen, die ein Gesichtsbedeckungsgebot für sich als religiöse Pflicht empfinden, auch andere Formen der Fortbewegung wählen können (ÖPNV, Fahrrad, Roller, etc.).

Die Regelung ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne.

(2) Ergebnis Rechtfertigung des Eingriffs in die Religionsfreiheit

Der Eingriff in die Religionsfreiheit durch § 23 IV StVO ist gerechtfertigt.

d) Ergebnis Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift der Straßenverkehrsordnung

§ 23 IV StVO ist verfassungskonform und damit anwendbar.

2. Voraussetzungen für eine Ausnahmegenehmigung

Gemäß § 46 II StVO können die Straßenverkehrsbehörden in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragstellende Ausnahmen von Vorgaben der StVO, wie der Vorschrift über das Verdecken des Gesichts, erteilen. Weitere Voraussetzungen enthält die Norm nicht, sondern stellt die Erteilung der Ausnahmegenehmigung in das Ermessen der Behörde.

3. Ermessen der Behörde

Da die Erteilung der Ausnahmegenehmigung im Ermessen der Behörde steht, könnte die M nur dann einen Anspruch auf die Erteilung haben, wenn die M durch eine Ablehnung in ihren Rechten verletzt wird, also ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Ansonsten hat die M lediglich einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde.

a) Ermessensreduzierung auf Null

Hier kommt insbesondere eine Ermessensreduzierung auf Null wegen eines möglichen Verstoßes gegen die Religionsfreiheit in Betracht.

Der Schutzbereich der Religionsfreiheit ist eröffnet und in diesen wird eingegriffen, da die M aus ihrer in einer Glaubensgemeinschaft gegründeten Überzeugung einen Niqab zu tragen in ihrer Religionsausübung beeinträchtigt wird. Bei der Rechtfertigung des Eingriffs ist jedoch (wie zuvor) im Rahmen der praktischen Konkordanz ein Ausgleich zwischen den widerstreitenden Rechtsgütern von Verfassungsrang – hier der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs als Gemeinschaftsgut von Verfassungsrang sowie dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der anderen Verkehrsteilnehmenden einerseits und der Religionsfreiheit andererseits – herzustellen.[12]OVG NRW Urt. v. 05.07.2024 – 8 A 3194/21, Rn. 88 ff.

Daraus folgt jedoch keine Ermessensreduzierung auf Null, da im Rahmen der Abwägung die Behörde den sich auf gleicher Ebene gegenüberstehenden Rechten im Einzelfall ihr entsprechendes Gewicht beimessen muss. Die Religionsfreiheit überwiegt gerade nicht die anderen Rechtsgüter von Verfassungsrang.

Eine Ermessensreduzierung auf Null könnte auch deshalb in Betracht kommen, weil M das Auto nutzt, um ihrer gewerblichen Tätigkeit nachzugehen. Damit sich hieraus jedoch eine Ermessensreduzierung auf Null ergeben könnte, müsste sie darlegen, dass keine andere Form der Fortbewegung möglich ist. Dazu hat M vorgetragen, dass ihr dies nicht zuzumuten sei, weil sie bereits mehrfach im ÖPNV angegangen wurde. Dies muss die Behörde bei ihrer Entscheidung berücksichtigen, jedoch bestehen faktisch andere Möglichkeiten der Fortbewegung, die möglicherweise mit Beeinträchtigungen verbunden sind, die jedoch nicht unmöglich sind. Ein Transport per Fahrrad mit Anhänger wäre z.B. auch denkbar. Auch hieraus ergibt sich keine Ermessensreduzierung auf Null.

b) Ermessensfehler durch die Entscheidung der Behörde

Es könnten jedoch Ermessensfehler bei der Entscheidung der Behörde vorliegen.

Soweit die Behörde in ihren Ermessenserwägungen der Einschränkung der nonverbalen Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmenden Gewicht beigemessen hat, könnte darin jedoch ein Ermessensfehler liegen.

Ein Ermessensfehler liegt auch darin nicht-entscheidungserhebliche Aspekte zu berücksichtigen. Da, wie zuvor gesehen, das Verbot des § 23 IV StVO nicht die nonverbale Kommunikation schützt, durfte dies die Behörde bei ihren Ermessenserwägungen nicht berücksichtigen. Insoweit ist die Entscheidung ermessensfehlerhaft.

Die M hat außerdem geltend gemacht, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen der Erlaubnis einen MNS zu tragen und dem Verbot einen Niqab zu tragen bestünde. Entscheidend ist jedoch, dass der Umfang der Gesichtsbedeckung unterschiedlich ist. So liegt keine Einschränkung des Sichtfeldes vor und ein MNS lässt weiterhin neben der Augenpartie auch den Stirnbereich erkennen. Damit ist zwar nicht sichergestellt, dass die automatisierte Verkehrsverstoßerfassung stets möglich ist, aber darin liegt ein wesentlicher Unterschied. Überdem haben Gerichte in der Vergangenheit auch beim Tragen von MNS (trotz der richtig von der Klägerin dargelegten Auffassung einiger Behörden) einen Verstoß gegen § 23 IV StVO gesehen.[13]OVG Niedersachsen, Beschl. v. 16.04.2021 – 13 MN 158/21. Darin liegt jedenfalls kein Ermessensfehler.

Soweit die Behörde eine Ausnahmegenehmigung nicht zusammen mit einer Fahrtenbuchauflage erlassen hat, liegt darin jedenfalls kein Ermessensfehler. Die Behörde durfte die Fahrtenbuchauflage als nicht gleich geeignet einstufen, da bei möglichen Verstößen gegen die Fahrtenbuchauflage im Nachhinein eine Ermittlung der Fahrerin unmöglich gewesen wäre. Außerdem besteht bei einer Fahrtenbuchauflage das Risiko von (nachträglichen) Manipulationen, so dass die Beurteilung hinsichtlich der gleichen Effektivität jedenfalls nicht ermessensfehlerhaft ist.

Die M hat damit einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Neuentscheidung der Behörde.

IV. Ergebnis

Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Die Entscheidung der Behörde war jedoch ermessensfehlerhaft. Das Gericht wird die Behörde anweisen die Entscheidung ermessensfehlerfrei neu zu erlassen, § 113 V S. 2 VwGO.

Zusatzfragen

1. Wie ist der ähnlich gelagerte Fall zu entscheiden, wenn eine Person, die praktizierender Sikh ist, eine Ausnahmegenehmigung von der Pflicht einen Motorradhelm zu tragen verlangt? Welche Aspekte sind insbesondere zu berücksichtigen?

Im Unterschied zu dem Fall hier, bestehen für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs vordergründig keine wesentlichen Gefahren, sondern die Helmtragepflicht dient insbesondere dem Schutz desjenigen, der selbst Motorrad fährt. Unfälle werden nicht häufiger oder seltener, nur die Folgen eines Unfalls werden durch die Helmtragepflicht reduziert.
Die Helmtragepflicht schützt jedoch auch die körperliche und psychische Unversehrtheit anderer Unfallbeteiligter und der Rettungskräfte und daher Leib und Leben anderer. So könnten etwa durch den Unfalltod oder durch den Eintritt schwerer Verletzungen bei einem nicht mit einem Schutzhelm gesicherten Motorradfahrer andere Verkehrsteilnehmer traumatisiert werden. Dies ist auch eine real existierende Gefahr aufgrund der hohen Zahl an Motorradunfällen und der Schwere der Verletzungen bei Fahrer:innen ohne Schutzhelm. Zudem sind mit Helm ausgestattete Motorradfahrer:innen eher in der Lage, an einer Unfallstelle Ersthilfe zu leisten. Insofern sind Grundrechte Dritter betroffen.
Ausführlich nachzulesen hier: https://examensgerecht.de/turban-statt-schutzhelm-auf-dem-motorrad/

2. Welche Aspekte sind bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ob eine Vorschrift, die Richter:innen und Referendar:innen das Tragen von religiösen Zeichen im Gerichtssaal verbietet verfassungskonform ist?

Auch hier besteht durch das Verbot religiöse Kleidungsstücke zu tragen ein Eingriff in die Religionsfreiheit der Richter:innen und Referendar:innen, die dies als ihre religiöse Pflicht verstehen. Als Rechtsgüter von Verfassungsrang, die hier dem gegenüberstehen, kommen insbesondere die staatliche weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege (beeinträchtigt durch die Gefahr des Verdachts der religiös geprägten Maßstabsbildung) und die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten in Betracht.
Das BVerfG hatte ein entsprechendes Verbot für Rechtsreferendar:innen für verfassungskonform gehalten.[14]BVerfG, Beschl. v. 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17, nachzulesen als Gutachten unter: https://examensgerecht.de/kopftuchverbot-fur-richterinnen/. In Bezug auf Lehrer:innen hatte es ein entsprechendes Verbot für verfassungswidrig gehalten.[15]BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10; 1 BvR 1181/10.. Die unterschiedliche Handhabung wurde insbesondere mit der wahrgenommenen Identifikation von Lehrer:innen als Privatpersonen, die mit der Lehre staatliche Aufgaben übernehmen und bei Rechtsreferendar:innen als Personen, die staatliche Macht übernehmen, gerechtfertigt. Dies stieß jedoch auf Kritik. Ausführlich nachzulesen hier: https://examensgerecht.de/kopftuchverbot-fur-richterinnen/


Zusammenfassung

1. Durch eine StVO-Vorschrift kann die Religionsfreiheit beschränkt werden, ohne dass darin ein Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt bei für die Religionsausübung wesentlichen Abwägungen liegt, wenn die Beeinträchtigung nicht in den Kernbereich der Religionsfreiheit eingreift.  

2. Bei der Beurteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 II StVO liegen die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null nur vor, wenn die widerstreitenden Rechtsgüter von Verfassungsrang sich nicht auf gleicher Ebene gegenüberstehen, sondern ein Rechtsgut die anderen überwiegt. Ansonsten müssen die Rechtsgüter durch die Behörde in einen schonenden Ausgleich gebracht werden.

3. § 23 IV StVO schützt nicht die nonverbale Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmenden.

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