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Neue NiUS zur Meinungsfreiheit

BVerfG, Beschluss v. 11.04.2024; NJW 2024, 1868

Sachverhalt

(Gekürzt und abgewandelt)

Die Bundesrepublik Deutschland leistet seit Langem auch in solchen Ländern humanitäre Hilfe, die von extremistischen Gruppen kontrolliert werden. Journalist J stört sich an dieser Praxis und ließ schon häufig scharfe Kritik daran verlautbaren. Zuletzt äußerte er sich in den sozialen Medien auch öffentlich zu den Entwicklungshilfen für Afghanistan und schrieb: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“ Dazu verlinkte J – im gleichen Post – einen Artikel von dem von ihm gegründeten Nachrichtenportal NiUS mit der Überschrift: „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan.“ Das Vorschaubild zeigte die Außenministerin im Gespräch mit der Entwicklungsministerin. 

Die Bundesregierung versuchte daraufhin im einstweiligen Rechtsschutz vor dem Zivilgericht einen Unterlassungsanspruch gegen die Aussage zu erreichen. Sie hält die Aussagen für unwahr und sieht in diesen faktisch nachprüfbaren Äußerungen eine Beeinträchtigung der staatlichen Ehre aus den §§ 185 ff., 194 StGB. Nach ihrer Auffassung müssen solche Falschbehauptungen unterbunden werden, da sie dem Ansehen der Regierung schaden könnten. Das Kammergericht (OLG) in Berlin untersagte, in zweiter Instanz nach dem Landgericht, im Eilverfahren die Aussage, da sie sie als unwahre Tatsachenbehauptung qualifizierte, weil die Entwicklungsgelder nicht direkt an die Taliban, sondern an afghanische NGOs fließen würden. Dazu tätigte das Kammergericht eine außergewöhnlich umfangreiche, rechtliche Prüfung, die über eine rein summarische Prüfung hinausging.

J möchte diese „Einschränkung seiner Meinungsfreiheit“ nicht auf sich sitzen lassen und nun vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die einstweilige Verfügung „klagen“. Nach Js Meinung genieße die Bundesregierung keinen Ehrschutz. Die Bundesregierung ist erbost – J hätte ohnehin erst versuchen müssen, Widerspruch gegen die Entscheidung des Kammergerichts nach der ZPO einzulegen bevor er vor das BVerfG zieht; alternativ hätte die Bundesregierung auch zur Erhebung der Klage in der Hauptsache verpflichtet werden können, da bisher ja nur im Eilverfahren entschieden wurde.

Hat das Vorgehen des J vor dem BVerfG Aussicht auf Erfolg?

Hinweis: Prüfen Sie alle in Betracht kommenden Rechtsfragen; notfalls auch hilfsgutachterlich.

Auszug aus der Zivilprozessordnung (ZPO)

§ 936 ZPO – Anwendung der Arrestvorschriften

Auf die Anordnung einstweiliger Verfügungen und das weitere Verfahren sind die Vorschriften über die Anordnung von Arresten und über das Arrestverfahren entsprechend anzuwenden, soweit nicht die nachfolgenden Paragraphen abweichende Vorschriften enthalten.

§ 924 ZPO – Widerspruch

(1) Gegen den Beschluss, durch den ein Arrest angeordnet wird, findet Widerspruch statt.

(2) Die widersprechende Partei hat in dem Widerspruch die Gründe darzulegen, die sie für die Aufhebung des Arrestes geltend machen will. [….]

§ 926 ZPO – Anordnung der Klageerhebung

(1) Ist die Hauptsache nicht anhängig, so hat das Arrestgericht auf Antrag ohne mündliche Verhandlung anzuordnen, dass die Partei, die den Arrestbefehl erwirkt hat, binnen einer zu bestimmenden Frist Klage zu erheben habe.

(2) Wird dieser Anordnung nicht Folge geleistet, so ist auf Antrag die Aufhebung des Arrestes durch Endurteil auszusprechen.


Skizze

Gutachten

Die Verfassungsbeschwerde des J hat Erfolg, soweit diese zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

Zunächst müsste die Verfassungsbeschwerde zulässig sein. 

I. Zuständigkeit des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG für Individualverfassungsbeschwerden zuständig.

II. Beschwerdefähigkeit

J ist als natürliche Person Träger von Grundrechten und daher gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGGbeschwerdefähig.

III. Beschwerdegegenstand

Der Verfassungsbeschwerde müsste sich gem. § 90 I BVerfGG gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt richten. In Betracht kommt hier ein Akt der Judikative. J wendet sich gegen die einstweilige Verfügung des Kammergerichts Berlin. Ein tauglicher Beschwerdegegenstand liegt vor.

IV. Beschwerdebefugnis

J müsste nach § 90 I BVerfGG hinreichend geltend machen, durch die Entscheidung des Gerichts in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt zum einen die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten und zum anderen eine Beschwer bzw. Betroffenheit voraus.[1]Epping, Grundrechte, 10. Aufl. 2024, Rn. 178.

1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung

Die Grundrechtsverletzung müsste möglich, d.h. nicht von vorneherein ausgeschlossen sein. J gibt an, dass er sich in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlt. Damit rügt er die Verletzung von Art. 5 I 1 GG. Die einstweilige Verfügung verpflichtet ihn zum Unterlassen seiner Aussage, sodass zumindest nicht von vorneherein ausgeschlossen ist, dass J in Art. 5 I 1 GG verletzt ist.

Darüber hinaus kommt eine Verletzung der Pressefreiheit hingegen nicht in Betracht. Art. 5 I 2 GG schützt die die einzelne Meinungsäußerung übersteigende Bedeutung der Presse für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung.[2]BVerfG, NJW 1992, 1439. Hier geht es aber nicht um das Presseerzeugnis an sich, sondern eine spezifische Meinungsäußerung, die nur im Kontext eines verlinkten Presseerzeugnisses getätigt wurde.

Anmerkung: Pressefreiheit
Die Pressefreiheit wurde ausweislich des Sachverhalts gerade nicht gerügt, sodass es auch vertretbar wäre, diese nicht anzuprüfen.

2. Betroffenheit

J müsste selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein. Bei Urteilsverfassungsbeschwerden ist dies i.d.R. unproblematisch gegeben, da der*die Beschwerdeführer*in durch den Beschluss persönlich und rechtskräftig adressiert wird.[3]Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. 2023, § 51 Rn. 27.

3. Zwischenergebnis

J ist beschwerdebefugt.

V. Rechtswegerschöpfung und Subsidiaritätsprinzip

Die Verfassungsbeschwerde müsste dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung aus § 90 II BVerfGG sowie der Subsidiarität gerecht werden. Der Rechtsweg gilt als erschöpft, sofern alle zulässigen und zumutbaren Rechtsmittel eines Rechtsweges ausgeschöpft wurden.

Ob dies hier der Fall ist, ist fraglich. Insbesondere hätten noch zwei fachgerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten bestanden, bevor der Rechtsweg als vollständig erschöpft hätte gelten können: Einerseits der Widerspruch von J gem. § 936 ZPO i.V.m. § 924 ZPO und andererseits die Klageerzwingung durch J gegenüber der Bundesregierung bzgl. der Hauptsache, da die Bundesregierung bisher nur ein Antrag im Eilrechtsverfahren gestellt hatte und das Hauptsacheverfahren noch nicht durchlaufen wurde (durch Antrag auf Fristsetzung zur Klageerhebung nach § 926 I ZPO).

Vernetztes Lernen: Wann muss die Anfechtungsklage im einstweiligen Rechtsschutz gegen belastende Verwaltungsakte erhoben werden?
Die Voraussetzungen des Antrags richten sich nach § 80 V VwGO. Fraglich ist, ob gleichzeitig mit oder vor dem Antrag nach § 80 V VwGO auch die Anfechtungsklage erhoben werden muss. Nach dem Wortlaut des § 80 V 2 VwGO ist dies nicht erforderlich. Trotz des entgegenstehenden Wortlauts wird die vorherige oder gleichzeitige Erhebung der Anfechtungsklage von manchen eingefordert, sodass das Rechtsschutzbedürfnis entfällt (alternativ kann dies auch in der statthaften Antragsart geprüft werden). Denn: Wurde weder Widerspruch noch Anfechtungsklage eingelegt, gibt es keinen Rechtsbehelf, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet oder wiederhergestellt werden könnte („Auf ein „Nichts“ kann nichts angeordnet werden“).
Dagegen spricht – neben dem Wortlautargument – dass dies faktisch zu einer Verkürzung der Anfechtungsfrist führt, da die Anfechtungsklage dann noch vor Ablauf der in § 74 VwGO geregelten Frist eingereicht werden müsste. Dies könnte dem effektiven Rechtsschutzgebot aus Art. 19 IV GG widersprechen.
Jedenfalls muss spätestens im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung auch der Rechtsbehelf der Hauptsache eingelegt worden sein.[4]BVerwG, NVwZ 2020, 1051 Rn. 16. Diejenigen Gerichte, die der letzten Auffassung folgen, formulieren bei Erfolg des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO wie folgt: „Die aufschiebende Wirkung einer noch bis zum […] zu erhebenden Klage wird ausgesetzt.“[5]Herbolsheimer, JuS 2024, 27.

Grundsätzlich ist die Erschöpfung des Rechtswegs auch in der Hauptsache geboten, wenn im einstweiligen Rechtsschutz Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich – wie hier – ebenso auf die Hauptsache beziehen.[6]Ständige Rspr., m.w.N. BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 24. Auf den Rechtsweg in der Hauptsache dürfen Beschwerdeführer*innen aber dann nicht verwiesen werden, wenn die Durchführung des Hauptsacheverfahrens unzumutbar ist. Der Antrag auf Fristsetzung zur Klageerhebung gem. § 926 I ZPO erscheint angesichts der sehr umfangreichen, und daher wohl eher nicht nur summarischen Prüfung des Kammergerichts aussichtslos.[7]BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 24. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Gericht auch in der Hauptsache genauso entscheiden würde, da sich das Gericht eine nicht nur vorläufige Prüfung vorgenommen hat. Für die Entscheidung bedarf es zudem auch keiner weiteren Tatsachenfeststellungen, sodass die tatsächliche Lage zur verfassungsrechtlichen Beurteilung ausreichend geklärt ist.[8]BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 24. Somit ist die Erschöpfung des Rechtswegs hier unzumutbar.

Fraglich ist weiterhin, ob J gem. § 936 ZPO i.V.m. § 924 ZPO hätte Widerspruch einlegen müssen. Sollte die Entscheidung im Widerspruchsverfahren zugunsten des J ausgehen, könnte die Bundesregierung hiergegen gem. § 936 ZPO in Verbindung mit § 925 Abs. 1, § 511 Abs. 1 ZPO in Berufung – vor dem Kammergericht – gehen. Auch hier ist angesichts der vorherigen Entscheidung des Kammergerichts nicht davon auszugehen, dass das Kammergericht anders entscheiden würde.[9]BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 25. Von einem vornherein aussichtslosen Rechtsbehelf muss aber kein Gebrauch gemacht werden.[10]M.w.N. BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 25. 

Daher ist die Beschwerde auch ohne die Durchführung des Hauptsachverfahrens oder des Widerspruchs zulässig.[11]Kritisch dazu: Schwarz, NVwZ 2024, 716 (719).

Anmerkung: Rechtswegerschöpfung
Eine andere Meinung ist hier gut vertretbar.[12]Vgl. etwa Schwarz, NVwZ 2024, 716 (718 f.); Schwarz bemängelt, dass die Annahme, dass ein Hauptsacheverfahren – einschließlich Revisionsentscheidung durch den BGH – aussichtlos und damit … Continue reading Dann müsste ausweislich des Bearbeitungshinweises aber im Hilfsgutachten weitergeprüft werden.
Jedenfalls sind hier in Teilen tiefere Kenntnisse der ZPO erforderlich. Diese müssen – zumindest im ersten Examen – nicht in diesem Umfang beherrscht werden. Grundlagen sind aber erwartbar. Insofern kann mit einigen Hinweisen im Sachverhalt gerechnet werden, jedoch sollte das System der ZPO bekannt sein.

VI. Form und Frist

Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass die Verfassungsbeschwerde gem. §§ 93 I 1, 92, 23 I 1, 2 BVerfGG einen Monat nach Verkündung der Beschwerde schriftlich und begründet eingereicht wurde.

VII. Rechtsschutzbedürfnis

J müsste auch rechtsschutzbedürftig sein. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte wird dieses durch das Vorliegen der anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen indiziert.[13]Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 134.

VIII. Zwischenergebnis

Die Beschwerde des J ist zulässig. 

B. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde müsste ferner begründet sein. Dies ist anzunehmen, wenn und soweit ein rechtswidriger Eingriff in Js Grundrechte vorlag.

I. Prüfungsumfang des BVerfG

Zuerst muss jedoch der Prüfungsmaßstab des BVerfG erörtert werden. Vorliegend handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde, sodass fraglich ist, welcher Prüfungsmaßstab durch das BVerfG anzulegen ist. Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz. Demnach prüft es lediglich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, während die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts den Fachgerichten vorbehalten bleibt. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich daher im Folgenden darauf, ob die der Entscheidung zugrunde gelegte Norm verfassungswidrig ist, gegen verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien verstoßen wurde, die Gerichtsentscheidung unhaltbar und damit willkürlich ist (Art. 3 GG) oder die Anwendbarkeit von Grundrechten an sich oder deren Tragweite und Bedeutung verkannt wurden.[14]Vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. 2023, § 51 Rn. 61. Hier könnte das Kammergericht die Bedeutung und Tragweite des Art. 5 I 1 GG verkannt haben, indem es die Äußerung des J als Tatsachenbehauptung qualifizierte.

II. Verletzung des Art. 5 I 1 GG

J könnte in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 I 1 GG verletzt sein. 

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich müsste in persönlicher sowie sachlicher Hinsicht eröffnet sein. Die Meinungsfreiheit ist ein „Jedermann“-Grundrecht, sodass zumindest alle natürlichen Personen vom Schutz umfasst sind. Der persönliche Schutzbereich ist daher für J eröffnet.

Sachlich schützt die Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG solche Äußerungen, die durch das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens oder der Beurteilung geprägt sind. Dies könnte hier angezweifelt werden, wenn es sich nur um eine Tatsachenbehauptung handeln könnte, da der Post von J eine Aussage dazu trifft, an wen deutsche Entwicklungshilfen fließen. Während Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen Äußerung und Wirklichkeit charakterisiert werden, sind Werturteile und Meinungsäußerungen durch die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage geprägt.[15]KG Berlin, ZUM 2024, 21 Rn. 10. Für die Einstufung als Tatsachenbehauptung kommt es daher wesentlich darauf an, ob die Aussage auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden kann – was bei Meinungsäußerungen gerade nicht möglich ist, weil sie durch das wertende Element der Stellungnahme und des Dafür- oder Dagegenhaltens gekennzeichnet werden und sich deshalb nicht als wahr oder unwahr erweisen lassen.[16]Ibid. Auf den ersten Blick könnte es sich so darstellen, als wäre der Post von J einer faktischen Nachprüfung zugänglich, da lediglich geprüft werden muss, ob die Entwicklungshilfen tatsächlich an die Taliban fließen.[17]So die Vorinstanz: KG Berlin, ZUM 2024, 21 Rn. 13. 

Maßgeblich für die Entscheidung darüber, ob eine Meinung oder Tatsachenbehauptung vorliegt, ist der Gesamtkontext der fraglichen Äußerung.[18]M.w.N. BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 32. Eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung ist nur dann zulässig, wenn dadurch ihr Sinn nicht verfälscht wird – ist dies nicht möglich, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes droht.[19]Ibid. 

Hier muss also der verlinkte Artikel in einem Gesamtkontext mit der dazu selbst verfassten Nachricht gelesen werden. Aus dem Artikel selbst ergibt sich, dass Deutschland wieder Entwicklungshilfe an Afghanistan zahlt, was ein Fakt ist. Der dazugehörige Kommentar des J kann aber auch so gelesen werden, dass der Beschwerdeführer die Gefahr eines mittelbaren Zugutekommens von Zahlungen an die Machthaber in Afghanistan thematisiert.[20]Ibid., Rn. 37. Insbesondere kann der zweite Satzteil („Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“) als wertendes Dagegenhalten, also Regierungskritik an der Entwicklungshilfe, gelesen werden. Hier vermischen sich also in der Gesamtbetrachtung Tatsachen und Werturteile. Die Kritik an der Bundesregierung ist aber auch dann weiterhin als Meinungsäußerung geschützt, wenn sich in ihr Tatsachen und Meinungen vermengen (s.o.).[21]Ibid., Rn. 38. Daher ist insgesamt von einer Meinungsäußerung auszugehen, sodass der sachliche Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG eröffnet ist.

2. Eingriff

In den soeben eröffneten Schutzbereich müsste auch eingegriffen worden sein. Ein Eingriff im klassischen Sinne ist jeder Rechtsakt, der final, unmittelbar und imperativ den Schutzbereich des Grundrechts verkürzt. Wegen des Beschlusses des KG Berlins, der J zur Unterlassung der Äußerung verpflichtet, kann J sich nicht mehr sanktionslos so äußern, wie er möchte. Seine Meinungsfreiheit ist daher beeinträchtigt. Der Beschluss ist eine rechtsförmige, staatliche Handlung, die ohne weitere Zwischenakte, gezielt und zwangsweise durchsetzbar wirkt, sodass die Beeinträchtigung auch die weiteren Voraussetzungen des klassischen Eingriffsbegriffs erfüllt. Ein Eingriff liegt vor.

3. Rechtfertigung 

Der Eingriff könnte jedoch gerechtfertigt sein.

a) Schranke

Die in Art. 5 I 1 GG niedergelegten Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre, Art. 5 II GG. Dabei handelt es sich um einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt. In Betracht kommt hier die Schranke der allgemeinen Gesetze, also solcher, die sich weder gegen die Meinungsfreiheit an sich noch gegen bestimmte Meinungen richten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsgutes dienen (sog. Kombinationslehre).[22]BVerfG, NJW 1998, 1381. Hier kommt ein zivilrechtlicher Unterlassungsanspruch aus den §§ 823 II, 1004 I 2 BGB analog i.V.m. §§ 185 ff., 194 StGB in Betracht. Diese Vorschriften richten sich weder gegen die Äußerung einer Meinung als solche noch gegen eine spezifische Meinung. Vielmehr soll die Ehre des*der Betroffenen geschützt werden.

Vernetztes Lernen: Ist 130 IV StGB, der die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft als Unterform der Volksverhetzung pönalisiert, ein „allgemeines Gesetz“?
§ 130 IV StGB richtet sich gegen eine ganz spezifische Meinung, und zwar die Befürwortung des Nationalsozialismus, und ist damit streng genommen kein allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 II GG. Damit stellt es in der Theorie verfassungsrechtlich unzulässiges „Sonderrecht“ dar. Das BVerfG entschied, dass § 130 IV StGB dennoch verfassungskonform ist: „§ 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar. Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes in den Jahren zwischen 1933 und 1945 Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent.“ (sog. Wundsiedel-Entscheidung).[23]BVerfG, NJW 2010, 47. Das in Art. 5 II GG niedergeschriebene Verbot des Sonderrechts gilt demnach nicht, wenn die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung des Nationalsozialismus betroffen ist. Hier müssen Regelungen ausnahmsweise nicht „allgemein“ gehalten werden; diese spezifische Meinung darf verboten werden, da das Grundgesetz den Gegenentwurf zum Nationalsozialismus darstellt.
b) Schranken-Schranke

Sowohl das einschränkende Gesetz, also der Unterlassungsanspruch aus §§ 823 II, 1004 I 2 BGB analog i.V.m. §§ 185 ff., 194 StGB, als auch die Entscheidung im Einzelfall müssten verfassungskonform sein. Hinsichtlich der formellen oder materiellen Verfassungsmäßigkeit der oben genannten, zivilrechtlichen und strafrechtlichen Vorschriften bestehen keine Bedenken. Jedoch müsste die Anwendung dieser Vorschriften im Einzelfall, d.h. durch das KG Berlin bezogen auf J, auch verfassungskonform sein. Hier müssen also die widerstreitenden Interessen i.R.d. Verhältnismäßigkeitsprüfung miteinander abgewogen werden. Dabei ist insbesondere die Wechselwirkungslehre zu beachten, nach welcher die die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetze ihrerseits im Lichte der Meinungsfreiheit betrachtet und angewandt werden müssen, um dieser ausreichend Geltung zu verschaffen.[24]Vgl. BVerfG, NJW 1958, 257.

I.R.d. Abwägung ist zu beachten, dass dem Staat wegen des Konfusionsarguments (Art. 1 III GG) kein grundrechtlicherEhrenschutz zukommt. Vielmehr genießt er – als Ausfluss des Prinzips der Funktionsfähigkeit des Staates – zivilrechtlichen Rechtsschutz gegen herabsetzende Äußerungen in eingeschränktem Umfang. So sind der Staat und seine Einrichtungen – wie sich etwa einfachgesetzlich in § 194 III 2 StGB i.V.m. § 185 StGB zeigt – vor verbalen Angriffen geschützt, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen.[25]M.w.N. BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 29. 

Dieser Schutz darf aber nicht dazu führen, dass staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik abgeschirmt werden. Denn die Möglichkeit, Kritik am System zu üben, ist Teil des Grundrechtestaats.[26]BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 28. Muss also einerseits zwischen der öffentlichen Anerkennung staatlicher Stellen zur Gewährleistung ihrer Funktionsfähigkeit und andererseits der Meinungsfreiheit abgewogen werden, erlangt Art. 5 I 1 GG gesteigerte Bedeutung: Das Gewicht der für die freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierenden Meinungsfreiheit ist besonders hoch zu veranschlagen, da sie historisch gerade aus dem besonderen Bedürfnis der Machtkritik gewachsen ist.[27]M.w.N. BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 29. So verhält es sich auch hier. Es ist nicht ersichtlich, dass hier eine besondere Schutzwürdigkeit des Staates vorliegt, etwa weil seine Funktionsfähigkeit bedroht wäre. So können insbesondere die Entwicklungshilfen weiter unproblematisch geleistet werden. Vielmehr stört sich die Bundesregierung nur an der reißerischen Äußerung. Daher ist der Meinungsfreiheit des J Vorrang einzuräumen. Der Eingriff in Art. 5 I 1 GG ist daher nicht gerechtfertigt.

Anmerkung: Gewicht der Meinungsfreiheit
In Fällen, in denen sich die Meinungsfreiheit einer natürlichen oder juristischen Person des Privatrechts und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG) einer anderen natürlichen oder juristischen Person des Privatrechts gegenüberstehen, bedarf es regelmäßig einer umfassenden Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch die Untersagung der Äußerung andererseits.[28]BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 28. Demgegenüber hat der Staat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Grundsätzlich gilt bei Kritik am Staat also stets „in dubio pro Meinungsfreiheit“.

III. Zwischenergebnis

J wurde durch die Entscheidung des KG Berlins in seiner Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG verletzt.

C. Ergebnis

Die Beschwerde des J hat Erfolg.

Zusatzfragen

1. Was bedeutet und wozu dient die Voraussetzung der „Annahme der Entscheidung“ vor dem BVerfG und wann muss eine Beschwerde zur Entscheidung angenommen werden?
Die Verfassungsbeschwerde bedarf gem. § 93a I BVerfGG der Annahme der Entscheidung. Dies dient vor allem der Entlastung des BVerfG. Denn das BVerfG ist gem. § 93d I 2 BVerfGG bei der Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde nicht zur Begründung verpflichtet. Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde begründet also noch nicht die Annahme zur Entscheidung; diese hängt vielmehr davon ab, ob zumindest eine der beiden strengen, in § 93a II BVerfGG geregelten Voraussetzungen erfüllt ist.[29]Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 10. Aufl. 2023, § 51 Rn. 66. Wegen dieser Anforderungen kann in „Bagatellfällen“ sogar eine begründete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen werden.[30]Ibid. In der Praxis werden nur ca. 2% der Beschwerden zur Entscheidung angenommen, sodass die Vorschrift eine relevante Hürde darstellt.[31]Vgl. die Statisitk bei: … Continue reading

Eine Verfassungsbeschwerde muss („ist“) gem. § 93a II BVerfGG dann zur Entscheidung angenommen werden, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (lit. a), oder wenn es zur Durchsetzung der in § 90 I BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (lit. b). Ersteres ist der Fall, wenn „die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten läßt [sic!] und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder die durch veränderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist.“[32]BVerfG, NJW 1998, 443. Letzteres ist anzunehmen, wenn die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existentieller Weise betrifft.[33]BVerfG, NJW 1994, 993. Beide Voraussetzungen sind grundsätzlich eher eng auszulegen.
Darüber hinaus besteht über § 93c BVerfGG die Möglichkeit („kann“) die Beschwerde bei offensichtlicher Begründetheit anzunehmen. So lag es im vorliegenden Fall: Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen im Bereich des Äußerungsrechts bereits entschieden, aber das BVerfG sah die Verfassungsbeschwerde als offensichtlich begründet an (§ 93c I 1 i.V.m. § 93a II b) BVerfGG).[34]BVerfG, NJW 2024, 1868 Rn. 22. Dies könnte ggf. darauf zurückzuführen sein, dass das BVerfG „in einer Zeit zunehmender Beschränkung öffentlicher Diskurse unter bewusster Verkürzung des Rechtswegs eine Sachentscheidung zum zulässigen Ausmaß von Herrschaftskritik treffen wollen“.[35]Schwarz, NVwZ 2024, 716 (719.

2. Angenommen, eine Ungleichbehandlung hätte – entgegen der hier gewählten Lösung – vorgelegen: Welche Rechtfertigungsanforderungen unterläge die Ungleichbehandlung?
In Betracht kommt auf Seiten des*der Betroffenen etwa Art. 12 I GG, sofern eine berufliche Tätigkeit vorliegt,[36]Vgl. zur Warnung von Glykol in Weinen: NJW 2002, 2621, und zur Warnung vor Sekten: NJW 2002, 2626. oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dabei wird es sich – mangels Rechtsaktqualität – zumeist um Eingriffe nach dem modernen Eingriffsbegriff handeln.[37]Spitzlei, JuS 2018, 856 (857).

Eine einfachgesetzliche Ermächtigungsgrundlage besteht häufig nicht. Das BVerfG löst dies über die „Zuständigkeit“ des Staates: Können Aufgaben, die der Regierung oder der Verwaltung zugewiesen sind, mittels öffentlicher Informationen wahrgenommen werden, liege in der Aufgabenzuweisung grundsätzlich zugleich auch eine Ermächtigung zum Informationshandeln.[38]Voßkuhle/Kaiser, JuS 2018, 343 (344). Dementsprechend ist lediglich zu prüfen, ob das Informationshandeln der Erfüllung einer staatlichen Aufgabe zuordenbar ist.[39]Ibid. Diese Aufgabe liegt regelmäßig in der Zuständigkeit der (Bundes)Regierung zur Staatsleitung, sodass in Teilen Art. 65 GG herangezogen werden.

Möchte sich der*die Betroffen gegen derartige Äußerungen wehren, kommt eine verwaltungsgerichtliche Leistungsklage in Betracht. Diese ist zwar gesetzlich nicht in der VwGO geregelt, wird aber einfachgesetzlich – etwa in § 42 II VwGO – vorausgesetzt. In der Begründetheit kommt entweder ein Folgenbeseitigungsanspruch in Betracht, etwa wenn die Warnungen bereits zu Umsatzeinbußen geführt hat, die negativen Folgen also bereits eingetreten sind,[40]Frenz, JA 2010, 328 (331). oder ein Unterlassungsanspruch, wenn Aussagen dieser Art in Zukunft unterlassen werden sollen.


Zusammenfassung

1. Die Erschöpfung des Rechtswegs ist dann nicht erforderlich, wenn weitere Rechtsmittel aussichtslos erscheinen. 

2. Dem Staat kommt kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zu. Schutz genießt er nur insoweit, als Ansehen und Funktionsfähigkeit des Staates bedroht sind.

3. Nicht nur die Aussage selbst, sondern der Gesamtkontext der Aussage ist für ihre Klassifizierung als Tatsache oder Meinung entscheidend. Dabei verliert die Meinung ihren Schutz nicht, wenn auch Tatsachen mit ihr verwoben sind.

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