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Manipulation mit tödlicher Aussicht

BGH, Beschluss v. 25.10.2023 – 4 StR 81/23, BeckRS 2023, 47800

Sachverhalt

A war mit dem ungefähr 30 Jahre älteren N befreundet. Dem mittelosen A ging es vornehmlich darum, Geld und Geschenke von N zu erhalten. N verheimlichte seine sexuelle Orientierung vor seinem Umfeld, befand sich in schweren Depressionen und hoffte auf eine dauerhafte Lebenspartnerschaft, wobei er bereit war, große Summen seines Vermögens für A auszugeben. Im Laufe der Zeit wurde A zu seiner wichtigsten Bezugsperson, von der N emotional abhängig war. Als das Vermögen des N fast aufgebraucht war, bezogen beide eine gemeinsame Wohnung, wobei sich das Verhältnis, das von Streit und Demütigungen durch A geprägt war, zunehmend verschlechterte. A empfand den N als Belastung und begann, diesen zu tyrannisieren, wobei es zu Beleidigungen und körperlichen Übergriffen kam. A isolierte N von seinem sozialen Umfeld, versuchte ihn zu destabilisieren und ihn dahin zu bringen, auf Anweisung des A Suizid zu begehen. Am Tattag wirkte A über einen Zeitraum von mehr als acht Stunden telefonisch auf N ein, um diesen mit Beleidigungen, Demütigungen und Aufforderungen zur Selbsttötung zu bewegen. N, der dadurch psychisch schwer getroffen war, bat den A, damit aufzuhören; dieser fuhr jedoch mit seinem Verhalten fort. Er ging im weiteren Verlauf des Telefonats davon aus, dass N sich nun töten und dabei zu einer freiverantwortlichen Willensbildung nicht in der Lage sein werde. A beendete nunmehr das Telefonat. N stach sich daraufhin mehrfach in den Hals, wobei er das Bewusstsein verlor, aber keine lebensgefährlichen Verletzungen erlitt. Weil N die Kontrollanrufe von A nicht annahm, ging dieser davon aus, dass N sich getötet habe. Um sich als aufopferungsvoller Freund darzustellen, alarmierte er die Polizei. Die Rettungskräfte fanden den nur verletzten N, so dass dieser gerettet werden konnte. 

Wie hat sich A strafbar gemacht? Ggf. erforderliche Strafanträge gelten als gestellt.

Bearbeiterhinweis: § 211 StGB ist nicht zu prüfen.

Anmerkung: Hilfe bei Suizidgedanken
Haben Sie den Verdacht, an Depression zu leiden? Oder haben Sie sogar suizidale Gedanken? Andere Menschen können Ihnen helfen. Sie können sich an Familienmitglieder, Freun­d:in­nen und Bekannte wenden. Sie können sich auch professionelle oder ehrenamtliche Hilfe holen – auch anonym. Bitte suchen Sie sich Hilfe, Sie sind nicht allein. Anbei finden Sie einige Anlaufstellen.

Akute suizidale Gedanken: Rufen Sie den Notruf unter 112 an, wenn Sie akute suizidale Gedanken haben. Wenn Sie sofort behandelt werden möchten, finden Sie Hilfe bei der psychiatrischen Klinik oder beim Krisendienst.

Depression und depressive Stimmung: Holen Sie sich Hilfe durch eine Psychotherapie. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe kann Ihnen ferner Hilfe und Information zum Umgang mit Depression bieten.

Kummer: Sind Sie traurig und möchten jemanden zum Reden haben? Wollen Sie Sorgen loswerden und möchten, dass Ihnen jemand zuhört? Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr besetzt. Die Telefonnummern sind 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222. Sie können auch das schriftliche Angebot via Chat oder Mail in Anspruch nehmen.

Onlineberatung bei Suizidgedanken: Die MANO Suizidprävention bietet eine anonyme Onlineberatung an. Wenn Sie über 26 Jahre alt sind, können Sie sich auf der Webseite registrieren. Sollten Sie jünger sein, können Sie hier eine Helpmail formulieren.

Hilfsangebot für Kinder, Jugendliche und Eltern: Die Nummer gegen Kummer hat sich zum Ziel gesetzt, Kindern, Jugendlichen und Eltern zu helfen. Kinder erhalten dort Unterstützung unter der Nummer 116 111, Eltern unter 0800 111 0 550, und bei der Helpline Ukraine unter 0800 500 225 0 finden Sie auch Hilfe auf Russisch und Ukrainisch.

Hilfsangebot für Mus­li­m:in­nen: Die Ehrenamtlichen des Muslimischen Seelsorgetelefons erreichen Sie anonym und vertraulich unter 030 443 509 821.
Bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention können Sie nach weiteren Seiten und Nummern suchen, die Ihrem Bedarf entsprechen.


Skizze

Gutachten

Strafbarkeit gemäß §§ 212, 22, 23 I, 25 I 2. Alt. StGB

A könnte sich wegen versuchten Totschlags in mittelbarer Täterschaft gemäß §§ 212, 22, 23 I, 25 I 2. Alt. StGB strafbar gemacht haben, indem er N über einen langen Zeitraum sozial isolierte und am Tattag in dem über mehrere Stunden dauernden Telefonat psychischen Druck aufbaute, emotional destabilisierte und hierdurch N zu einem Suizid veranlassen wollte. 

0. Vorprüfung 

N hat die Stiche in den Hals überlebt. Die Tat ist nicht vollendet. Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus §§ 23 I, 12 StGB.

I. Tatentschluss

A müsste einen Tatentschluss gefasst haben, also vorsätzlich in Bezug auf die Verwirklichung aller objektiven Tatbestandsmerkmale gehandelt haben.

1. Bzgl. des Erfolgs

A handelte bzgl. des Todes des N und insoweit bzgl. des Erfolgs des § 212 I StGB absichtlich.

2. Bzgl. der Tötungshandlung in mittelbarer Täterschaft

A wollte N nicht eigenhändig töten, sondern hin zu einer Selbsttötung veranlassen. Für eine strafrechtliche Haftung müsste er auch einen Tatentschluss hinsichtlich der Begehung der Tötungshandlung in mittelbarer Täterschaft aufweisen. 

a) (Wissens- oder Willens-)Mangel beim Vordermann

Dafür müsste A sich zunächst vorgestellt haben, dass der Vordermann, also der N, mit einem „Mangel“, der seine Verantwortung für das Geschehen ausschließt, handeln würde. Dies wäre zu bejahen, wenn N nicht eigenverantwortlich gehandelt hat. Nur in Fällen, in denen der Suizidentschluss aufgrund eines Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizits nicht freiverantwortlich gebildet ist, kann der sich selbst Tötende bei wertender Betrachtung als Werkzeug gegen sich selbst angesehen werden.[1]BGH BeckRS 2023, 47800, Rn. 16. Wonach sich die Freiverantwortlichkeit bemisst, ist umstritten.

aa) Rechtsprechung

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung hängt die Freiverantwortlichkeit davon ab, ob der Suizident über die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügt und fähig ist, seine Entscheidung autonom und auf der Grundlage einer realitätsbezogenen Abwägung der für und gegen die Lebensbeendigung sprechenden Umstände zu treffen. Der Rechtsgutsinhaber, der sein Leben beenden will, muss in der Lage sein, die Bedeutung und Tragweite dieses Entschlusses verstandesmäßig zu überblicken und eine abwägende Entscheidung zu treffen.[2]BGH BeckRS 2023, 47800, Rn. 17. An einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung kann es infolge der Ausübung von Zwang, Drohung oder Täuschung und aufgrund sonstiger Formen unzulässiger Einflussnahme fehlen, sofern diese geeignet sind, eine reflektierende, abwägende Entscheidung orientiert am eigenen Selbstbild zu verhindern oder wesentlich zu beeinträchtigen. Schließlich kann von einer Freiverantwortlichkeit eines Selbsttötungsentschlusses nur ausgegangen werden, wenn er eine gewisse „Dauerhaftigkeit“ und „innere Festigkeit“ aufweist und nicht lediglich einer depressiven Augenblicksstimmung entspringt.[3]BGH BeckRS 2023, 47800, Rn. 18. Der N verfügte infolge des Zusammenwirkens von schwerer Depression und des von A zielgerichtet auf die Herbeiführung des Suizidentschlusses gerichteten bereits seit einigen Wochen entfalteten und in dem über mehrere Stunden dauernden Telefonat gesteigerten psychischen Drucks und die hierdurch bewirkte emotionale Destabilisierung nicht über die erforderliche natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Eine Freiverantwortlichkeit des N liegt nach dieser Ansicht nicht vor.

bb) Einwilligungslösung

Die sogenannte Einwilligungslösung will die Maßstäbe für die Wirksamkeit einer Einwilligung bei Fehlen von Willensmängeln anlegen.[4]BeckOK StGB/Eschelbach, 62. Ed. 1.8.2024, StGB § 212 Rn. 4.2. Lediglich dann, wenn die Selbsttötung Resultat einer rationalen, bilanzierenden Reflektion des Lebensmüden sei, könne von einem freiverantwortlichen Suizid die Rede sein. Diese Ansicht bestimmt die Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses nach der Maßgabe der Regeln über die Einwilligung unter Rückgriff auf die Kriterien für die „Ernstlichkeit des Verlangens“ gemäß § 216 StGB.[5]MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl. 2021, Vorbemerkung zu § 211, Rn. 40. Zu den Merkmalen der Freiverantwortlichkeit zählen danach jedenfalls die natürliche Einsichtsfähigkeit des Suizidenten, sein situatives Urteils- und Hemmungsvermögen sowie die Mangelfreiheit seiner Willensbildung.[6]OLG Hamburg NStZ 2016, 530 (532 f.); Geilen JZ 1974, 145 (151 f.); Herzberg JA 1985, 336 (340 f.); Brandts/Schlehofer JZ 1987, 443 (444); Mitsch JuS 1995, 888 (891 f.). Hinzukommen soll eine auf tiefere Reflexion zurückgehende Festigkeit und Zielstrebigkeit des Todeswunsches.[7]OLG Hamburg NStZ 2016, 530 (533). Der deutlich ältere N war emotional vollständig abhängig von A, welcher ihn sozial isolierte und psychisch stark destabilisierte. Aufgrund der andauernden erheblichen physischen und psychischen Übergriffe durch A war N nicht in der Lage, rationale Entscheidungen zu treffen, wie beispielsweise sich Hilfe zu suchen oder sich von A zu trennen. Am Tag der Tat wurde dies zusätzlich durch die mehrstündigen telefonischen Beeinflussungen und Bedrohungen des N durch A verstärkt. Folglich lag zum Tatzeitpunkt keine verstandesmäßig begründete, auf Rationalität und Eigenverantwortung basierende Entscheidung hinsichtlich eines Todeswunsches von N vor. Nach dieser Ansicht handelte N ebenfalls nicht freiverantwortlich.

Anmerkung: Lösung des BGH
Wenngleich der BGH ähnliche Kriterien wie die Einwilligungslösung anwendet, bekennt er sich nicht ausdrücklich zu dieser Ansicht.
cc) Exkulpationslösung

Nach der sogenannten Exkulpationslösung soll die Freiverantwortlichkeit der Willensbildung des Suizidenten anhand der Regelungen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit gem. §§ 19, 20, 35 StGB sowie § 3 JGG beurteilt werden.[8]Roxin NStZ 1984, 71; Roxin GA 2013, 313 (319 f.); Dölling GA 1984, 71 (76, 78 f.); Gallas JZ 1960, 686 (692); Hirsch JR 1979, 429 (432). In den Fällen, in denen der Suizident auf Grund jugendlicher Unreife, im Zustand geistiger Erkrankung, schwerer seelischer Störung oder in einer gravierenden Notstandslage Hand an sich gelegt hat, sei eine Beteiligung an einer Selbsttötung strafbar.[9]MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl. 2021, Vorbemerkung zu § 211, Rn. 38. N stand weder unter dem Einfluss von Drogen, noch war er minderjährig. Jedoch litt er an einer schweren Depression. Darüber hinaus war der deutlich ältere N emotional vollständig abhängig von A, welcher ihn sozial isolierte und psychisch stark destabilisierte. Diese Abhängigkeit des N von A besitzt Krankheitswert. Seine Schuldfähigkeit war aufgrund seiner Erkrankung sowie der emotionalen Belastungssituation erheblich eingeschränkt, wenn nicht sogar vollständig aufgehoben. Nach dieser Ansicht handelte N auch nicht freiverantwortlich.

Anmerkung: Weitere Fälle
Für weitere Fälle rund um das Thema Suizid und Tötung auf Verlangen siehe auch die Fälle: Insulin, Perverser Suizidhelfer und Ärztliche Suizidbeihilfe.
cc) Zwischenergebnis

Alle Ansichten kommen zum selben Ergebnis. Eine Stellungnahme ist nicht erforderlich. N handelte nicht eigenverantwortlich und handelte mit einem Strafbarkeitsdefizit, das seine Verantwortung für das Geschehen ausschließt. Dies hat sich A auch vorgestellt.

b) Tatherrschaft des „Hintermanns“

Weitergehend müsste A für eine Zurechnung gemäß § 25 I Alt. 2 StGB auch Tatherrschaft über das Geschehen gehabt, also seinerseits den Geschehensverlauf durch eine Überlegenheit in Wissen oder Willen „gesteuert“ haben.[10]BGHSt 35, 347 (353); Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 43 Rn. 3. Ob der Täter das Geschehen in dieser Weise beherrscht hat, ist wiederum im Rahmen der Gesamtwürdigung sämtlicher Einzelfallumstände festzustellen. Neben der Intensität eines oder mehrerer, sich gegebenenfalls gegenseitig verstärkender Wissens- oder Willensdefizite, die beim Tatopfer wirksam werden, sind dabei auch Art und Ausmaß der steuernden Einwirkung des Hintermanns in den Blick zu nehmen.[11]BGH BeckRS 2023, 47800, Rn. 19. A hat den Selbsttötungsentschluss des N, der zu einer freiverantwortlichen Entscheidung nicht mehr in der Lage war, nicht nur hervorgerufen. Er hat darüber hinaus infolge einer sich über mehrere Stunden erstreckenden fernmündliche Einwirkung auf N die versuchte Selbsttötung zielgerichtet gelenkt und gesteuert. Hinsichtlich sämtlicher Umstände, die die Tatherrschaft begründen, handelte A absichtlich, d.h. mit Tatentschluss bzgl. der Umstände, die seine Tatherrschaft begründen. Der Selbsttötungsversuch des N ist A insoweit täterschaftlich zuzurechnen und stellt sich nicht als bloße Anstiftung zum versuchten Suizid des N dar.

II. Unmittelbares Ansetzen

A müsste weiterhin unmittelbar zur Tat angesetzt haben (§ 22 StGB). Ein unmittelbares Ansetzen liegt vor, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht´s los“ überschreitet und objektiv – nach seinem Tatplan – keine wesentlichen Zwischenakte mehr notwendig sind, um zur Tatbestandserfüllung zu führen.[12]Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 34 Rn. 22. Bei dem vorliegenden Fall handelt es sich indessen um die Konstellation einer mittelbaren Täterschaft, bei der der Zeitpunkt der Versuchsbeginns umstritten ist. Indem er Einfluss auf N ausgeübt hat und dieser sich mehrfach in den Hals stach, wurde das Rechtsgut Leben des N bereits unmittelbar gefährdet, sodass damit nach allen Ansichten ein unmittelbares Ansetzen zur Tat vorliegt. A hat somit unmittelbar zur Tat angesetzt.

Vernetztes Lernen: Welche Meinungen werden zum unmittelbaren Ansetzen bei der mittelbaren Täterschaft vertreten?
Gesamtlösung: Nach der Gesamtlösung werden, wie bei der Mittäterschaft Täter und Werkzeug zu einer Einheit verbunden, so dass der Versuch erst beginnen kann, wenn das Werkzeug die Schwelle des § 22 StGB überschreitet.
+ der mittelbare Täter dürfe für einen Versuch nicht strenger als ein Anstifter haften, dessen Haftung streng akzessorisch von der Haupttat abhängig sei.

Weite Einzellösung
Der Versuch des mittelbaren Täters beginnt schon mit der Einwirkung auf den Tatmittler soll.
+ Parallele zur versuchten Anstiftung

Modifizierte Einzellösungen (Rspr. und h.M.)
Hierbei gibt es in den Lösungen graduelle Unterschiede. Während nach manchen der Versuch des mittelbaren Täters beginnt, wenn er den Geschehensverlauf aus der Hand gibt, also in der Regel mit dem Zeitpunkt des Losschickens. Eine andere Strömung nimmt an, dass mit dem Abschluss der Einwirkungen auf den Tatmittler zumindest „regelmäßig” der Versuch beginne.

Für eine Falllösung siehe den Fall Gedopter Boxer

III. Rechtswidrigkeit und Schuld

Mangels Rechtfertigungsgründen handelte A rechtswidrig. Mangels Schuldausschluss- und/oder Entschuldigungsgründen handelte er auch schuldhaft.

IV. Rücktritt

A könnte durch den Anruf bei der Polizei und Rettungskräften strafbefreiend nach § 24 I StGB zurückgetreten sein.

1. Kein fehlgeschlagener Versuch

Zunächst dürfte der Versuch nicht fehlgeschlagen sein. Der Versuch ist fehlgeschlagen, wenn der Täter den Taterfolg nach seinen Vorstellungen mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr oder zumindest nicht mehr im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang herbeiführen kann.[13]Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 37 Rn. 15. Allerdings liegt kein Fehlschlag vor, wenn die Tat objektiv misslungen ist, solange der Täter das Misslingen noch nicht erkannt hat. Dies war hier der Fall.

2. Anforderungen an die Rücktrittshandlung

Fraglich ist, welche Anforderungen an die Rücktrittshandlung des A zu stellen sind. 

a) Rücktritt einzelner oder mehrerer

Zunächst ist zu klären, ob es sich um einen Rücktritt eines Einzelnen handelt, dann würden sich die Voraussetzungen nach § 24 I StGB richten. Wenn es sich um einen Rücktritt mehrerer handelt, richten sich die Anforderungen hingegen nach § 24 II StGB. Bei der mittelbaren Täterschaft ist der Abs. 2 nur in den Fällen des Täters hinter dem Täter anzuwenden, da das Opfer hier tatsächlich zwei freiverantwortlichen Tätern gegenübersteht.[14]Vgl. zum Ganzen und m.w.N. Lackner/Kühl, 30. Aufl. 2023, § 24 Rn. 25. N ist hier sowohl Opfer als auch unmittelbarer Täter und handelte nicht strafrechtlich verantwortlich für den versuchten Suizid. Folglich liegt kein Fall des Täters hinter dem Täter vor. Daher richten sich die Anforderungen an die Rücktrittshandlung nach Abs. 1.

b) Unbeendeter oder beendeter Versuch

Welche Rücktrittshandlung der Täter nach § 24 I StGB erbringen muss, hängt davon ab, ob ein beendeter oder ein unbeendeter Versuch vorliegt. Beendet ist der Versuch dann, wenn der Täter nach seiner Vorstellung alles für die Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges Erforderliche getan hat und den Erfolgseintritt für möglich hält.[15]Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 37 Rn. 32. Unbeendet ist ein Versuch dann, wenn der Täter glaubt, noch nicht alles Erforderliche getan zu haben, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen und die Vollendung aus seiner Sicht noch möglich erscheint.[16]Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 37 Rn. 31. Für die Abgrenzung ist das Vorstellungsbild des Täters unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung von Bedeutung. Vorliegend ging A nach mehreren Anrufversuchen davon aus, dass N sich das Leben genommen hat. Damit liegt ein beendeter Versuch vor. Er hätte somit den Tod des N durch eigene Rettungsbemühungen verhindern oder sich darum zumindest freiwillig und ernsthaft bemühen müssen.

Fraglich ist, ob A sich durch die Verständigung der Rettungskräfte bemüht hat, die Vollendung zu verhindern. Objektiv reicht hierzu zwar auch das Einschalten Dritter aus. Subjektiv müsste das Tun des A jedoch auf Vereitelung der Tatvollendung abgezielt haben. A verständigte die Rettungskräfte nicht mit dem Ziel den Tod des N, den er bereits vollendet sah, zu verhindern, sondern wollte die für erfolgreich gehaltene Tat verschleiern. Folglich ist darin keine gezielte Vereitelung der Tatvollendung zu sehen.

Mangels Rücktrittshandlung liegt damit ein strafbefreiender Rücktritt nicht vor.

Anmerkung: Verschleierungsbemühungen und Rücktritt
Grundsätzlich schließen Verschleierungsbemühungen einen strafbefreienden Rücktritt nicht aus, wenn die Verhinderung der Tatvollendung Teil dieser Bemühungen ist. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn der Täter, wie hier, ausschließlich in der Absicht handelt, die Tat zu verschleiern.[17]vgl. dazu a. BGH BeckRS 2019, 6141.

V. Ergebnis

A ist wegen versuchten Totschlags in mittelbarer Täterschaft strafbar.


Zusatzfragen

1. Welche Ziele verfolgt das Strafverfahren?
Die Ziele des Strafverfahrens sind Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden.

Im Strafverfahren geht es darum, die Wahrheit herauszufinden. Alle materiell-rechtlich relevanten Umstände sollen bewiesen werden.
Ein gerechtes Urteil setzt ein faires, ordnungsgemäßes Verfahren voraus. Die Wahrheit wird nicht um jeden Preis erforscht. Es gibt Interessen, die der Wahrheitssuche im Wege stehen und die in einem Rechtsstaat dennoch geschützt werden müssen.
Das Strafverfahren arbeitet einen sozialen „Störfall“ auf, sichert die Geltungskraft der Strafrechtsnormen und schafft dadurch Rechtsfrieden. Das Urteil soll die Sache erledigen. Einerseits muss es zwar möglich sein, Urteile zu revidieren, andererseits bringt es aber nichts, endlos zu prozedieren. Irgendwann muss zumindest Ruhe sein – wenn schon nicht Frieden.
Die drei Ziele stehen bestenfalls in einem Gleichgewicht. Allerdings handelt es sich dabei um einen Idealzustand.

2. Was besagt der Grundsatz der Unmittelbarkeit? Und was zeichnet diesen aus?
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit ist ein zentrales Prinzip im deutschen Strafverfahren. Er besagt, dass das Gericht seine Entscheidung auf die unmittelbar in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise stützen muss. Dieser Grundsatz hat mehrere wesentliche Aspekte:

1. Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme: Das Gericht soll die Beweise selbst und direkt in der Hauptverhandlung erheben, statt sich auf Berichte oder Protokolle anderer Personen zu verlassen. Zeugen sollen beispielsweise vor Gericht persönlich erscheinen und vernommen werden, anstatt ihre Aussagen nur schriftlich oder über Dritte einzubringen.

2. Persönlicher Eindruck: Der Grundsatz der Unmittelbarkeit soll es dem Gericht ermöglichen, sich einen persönlichen Eindruck von Zeugen, Sachverständigen und den vorgelegten Beweisen zu machen. Der persönliche Eindruck eines Zeugen (etwa Körpersprache, Mimik) kann eine wichtige Rolle bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit spielen.

3. Unmittelbarkeit der Entscheidung: Die Entscheidung des Gerichts soll auf den unmittelbar in der Verhandlung gewonnenen Erkenntnissen beruhen. Das bedeutet, dass die Richter den Prozess verfolgen und die Beweise eigenständig würdigen müssen, anstatt sich auf frühere Aussagen oder Berichte zu stützen.

4. Mündlichkeit und Öffentlichkeit: Eng verbunden mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit ist auch der Grundsatz der Mündlichkeit, der sicherstellt, dass die Verhandlung öffentlich und mündlich geführt wird, sodass alle wesentlichen Vorgänge und Beweise in der Hauptverhandlung offengelegt werden.


Zusammenfassung

1. Eine Strafbarkeit wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft setzt voraus, dass derjenige, der allein oder unter Mitwirkung eines Dritten Hand an sich legt, nicht freiverantwortlich handelt.

2. Unter welchen Voraussetzungen ein Suizidentschluss in diesem Sinne als freiverantwortlich zu bewerten ist, ist umstritten. An einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung kann es infolge der Ausübung von Zwang, Drohung oder Täuschung und aufgrund sonstiger Formen unzulässiger Einflussnahme fehlen, sofern diese geeignet sind, eine reflektierende, abwägende Entscheidung orientiert am eigenen Selbstbild zu verhindern oder wesentlich zu beeinträchtigen.

3. Erforderlich für eine Strafbarkeit wegen eines in mittelbarer Täterschaft begangenen versuchten Tötungsdelikts ist neben dem Fehlen eines freiverantwortlichen Suizidentschlusses, dass dem die Selbsttötung Veranlassenden oder Fördernden eine vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft über das zum Suizid führende Geschehen zukommt.

4. Wenn der Täter ausschließlich in der Absicht handelt, die Tat zu verschleiern, liegt keine geeignete Rücktrittshandlung vor, auch wenn diese zur Verhinderung der Vollendung der Tat beiträgt.

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