BayVerfGH, 14.03.2019 – Vf. 3 VII-18; NJW 2019, 2151
sehr ähnlich für Rechtsreferendarinnen: BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17; NJW 2020, 1049
anders die Urteile zu Lehrerinnen mit Kopftuch: BVerfG NJW 2015, 1359
Sachverhalt
abgewandelt und gekürzt
M ist Richterin am VG in Land L. Sie ist Muslima und nach ihrem Verständnis ihres Glaubens ist es für sie zwingend ein Kopftuch in der Öffentlichkeit zu tragen. In mündlichen Verhandlungen trägt sie ihr Kopftuch. Im Jahr 2018 erlässt das Land L Neuerungen für sein Richter- und Staatsanwaltsgesetz (LRiStAG).
§ 11 LRiStAG lautet wie folgt:
Richterinnen und Richter dürfen in allen Amtshandlungen mit Außenkontakt keine sichtbaren religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole oder Kleidungsstücke tragen, die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen könnten.
Der Gesetzgeber verwies zur Begründung darauf hin, dass es zum Wesen richterlicher Tätigkeit gehöre, dass sie von einem nichtbeteiligten Dritten in sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit ausgeübt werde. Das Vertrauen der Bürger*innen in die Unabhängigkeit, Neutralität und strikte Bindung einzig an Recht und Gesetz sei für einen funktionierenden Rechtsstaat von wesentlicher Bedeutung. Dies könnte durch das Tragen von religiösen Symbolen bzw. weltanschaulich konnotierter Kleidungsstücke in Frage gestellt sein. Dieser Konflikt zwischen Glaubensfreiheit und Neutralitätsgebot müsse zu Gunsten der Neutralität aufgelöst werden. Die Glaubensfreiheit müsse entsprechend eingeschränkt werden. Die Regelung sei verhältnismäßig, da sie sich auf den Außenkontakt beschränke. Außerdem seien nur sichtbar getragene Kleidungsstücke und Symbole von der Regelung umfasst. Da die institutionelle Neutralität der Justiz ein wesentlicher Grundpfeiler der verfassungsrechtlichen Werteordnung sei, müsse diese besonders geschützt werden.
M hält § 11 LRiStAG für verfassungswidrig. Schließlich sei diese Regelung anscheinend geschaffen worden, um Richterinnen mit Kopftuch von den Verhandlungen auszuschließen. Im Widerspruch dazu, sei ein Kruzifix in den Verhandlungsräumen erlaubt, solange die Beteiligten nicht widersprechen. Ein Gesetz allein für eine bestimmte Religionsgruppe zu schaffen, stelle ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar. Außerdem fehle es der Regelung an Bestimmtheit, da nicht erkennbar sei, welche Kleidungsstücke genau verboten seien. Ihre von Art. 4 I GG geschützte Glaubensfreiheit würde hierdurch verletzt. Außerdem werde dadurch der Zugang zum Richterinnenamt für Muslima erschwert.
Ist § 11 LRiStAG verfassungskonform?
Skizze
Gutachten
§ 11 LRiStAG ist verfassungskonform, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungskonform ist.
A. Formelle Verfassungsmäßigkeit
Die Vorschrift müsste zunächst formell verfassungskonform sein. Insbesondere stellt sich die Frage, ob das Land L die Gesetzgebungskompetenz hat. Die Länder haben die Gesetzgebungskompetenz, soweit das GG dem Bund keine Kompetenz zuordnet, Art. 30, Art. 70 GG. Nach Art. 98 III GG haben die Länder die Gesetzgebungskompetenz bezüglich der Rechtstellung der Landesrichter, soweit nicht der Bund eine Regelung aufgrund seiner Kompetenz nach Art. 74 I Nr. 27 GG erlassen hat. Rechtsstellung meint die statusrechtlichen Fragen. Bezüglich Vorschriften, die die Kleidung von Richter*innen betreffen, hat der Bund keine Kompetenz. Demnach hat das Land L die Kompetenz ein solches Gesetz zu erlassen.
B. Materielle Verfassungsmäßigkeit
§ 11 LRiStAG müsste auch materiell verfassungskonform sein.
I. Bestimmtheit
Die Vorschrift müsste zunächst den Anforderungen an die Bestimmtheit von Gesetzen entsprechen. Das Bestimmtheitsprinzip ist Ausfluss aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG.[1]Huster/Rux in BeckOK GG, 44. Ed., Art. 20, Rn. 182 ff. Daraus folgen besondere Anforderungen an die Klarheit und Justiziabilität von Vorschriften. Dies bedeutet, dass Vorschriften so formuliert sein müssen, dass die Betroffenen erkennen können, was von ihnen verlangt wird und die Gerichte in der Lage sind die Anwendung der Normen zu kontrollieren.[2]BVerfGE 17, 67, 82 Das bedeutet, dass mit den normalen Auslegungsmethoden unter Berücksichtigung von Ziel, Tendenz, Programm, Entstehungsgeschichte und Zusammenhang eine zuverlässige Grundlage gewonnen werden können muss.[3]BayVerfGH v. 14.3.2019 – Vf. 3-VII-18, Rn. 20 ff..
1. „religiös oder weltanschaulich geprägt“
Fraglich ist zunächst, ob der verwendete Ausdruck „religiös oder weltanschaulich geprägt“ diesen Anforderungen genügt. Man kann im Einzelfall sowohl die individuelle Überzeugung der das Kleidungsstück tragenden Person, die religiösen Lehren der einschlägigen Religion und die Anschauung eines verständigen Dritten heranziehen, um diese Frage zu beantworten. Diese Begrifflichkeit ist also bestimmt.
2. „Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung Recht und Gesetz“
Problematischer erscheint die Subsumtion unter das Merkmal wann ein Kleidungsstück „Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung Recht und Gesetz“ hervorrufen kann. Dabei kann es nicht auf rein subjektive Befürchtungen ankommen. Eine objektive und verständige Betrachtung, insbesondere unter der Berücksichtigung des Standpunktes der rechtssuchenden Partei, im Einzelfall könnte aber z.B. darauf gestützt sein, wie sichtbar das Kleidungsstück getragen wird und inwiefern dadurch das Erscheinungsbild einer Person geprägt wird. Tritt das religiöse Symbol in den Vordergrund der Betrachtung der Person, könnte dieses Merkmal erfüllt sein. Damit ist eine objektiv, verständige Betrachtung möglich und die Anforderungen an die Bestimmtheit erfüllt.
3. Zwischenergebnis
§ 11 LRiStAG genügt damit den Anforderungen an die Bestimmtheit aus dem Rechtsstaatsprinzip.
II. Verstoß gegen Art. 4 I, II GG
Die Regelung könnte eine Verletzung der Religionsfreiheit darstellen.
Anmerkung: Berufsfreiheit?1. Anwendbarkeit von Grundrechten auf Richter*innen
Zunächst müssten die Grundrechte auf Richter*innen anwendbar sein. Dagegen könnte zunächst das Sonderrechtsverhältnis sprechen, indem sich Richter*innen zum Staat befinden. Es können sich jedoch auch Staatsbedienstete gegenüber dem Staat grundsätzlich auf ihre Grundrechte berufen, es sei denn sie sind nur in ihrem Dienstverhältnis betroffen.[4]BVerfGE108, 282, 297 f. Selbst wenn man hier eine Einschränkung vorsehen würde, wären die Adressaten des Gesetzes jedoch in ihrer höchstpersönlichen Rechtssphäre betroffen, in der eine Berufung auf Grundrechte in vollem Umfang möglich ist.
Anmerkung: Spielt es denn eine Rolle?2. Schutzbereich
Der Schutzbereich der Glaubensfreiheit müsste eröffnet sein. In persönlicher Hinsicht handelt es sich um ein jedermann zustehendes Grundrecht. In sachlicher Hinsicht umfasst das einheitliche Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 I, II GG sowohl den Schutz des inneren Bekenntnisses einen Glauben zu haben oder zu verschweigen (forum internum) als auch dessen Bekundung, Verbreitung und das Werben für den eigenen Glauben (forum externum).[5]st. Respr. vgl. BVerfGE 12, 1, 4 Das Tragen eines religiös konnotierten Kleidungsstücks, insbesondere dann, wenn die Person eine Verpflichtung zum Tragen des Kleidungsstücks annimmt, ist Teil der Religionsausübung und unterfällt damit dem Schutzbereich der Religionsfreiheit.
Vernetztes Lernen: Auf wessen Auslegung kommt es an, ob ein Verhalten unter die Religionsausübung fällt?
3. Eingriff
In den Schutzbereich müsste ein Eingriff erfolgt sein. Hier liegt mit § 11 LRiStAG eine Vorschrift vor, die unmittelbar ein Verhalten (das Tragen religiöser Kleidungsstücke und Symbole) verbietet. Damit liegt eine finale und unmittelbare Verkürzung des Schutzbereichs von Art. 4 I, II GG vor, also ein Eingriff im klassischen Sinne.
4. Rechtfertigung des Eingriffs
Der Eingriff könnte jedoch gerechtfertigt sein.
a) Schranke
aa) geschriebene Schranke
Zunächst stellt sich die Frage, ob die Religionsausübung eine geschriebene Schranke aufweist. Art. 4 GG enthält keine geschriebene Schranke.
Denkbar wäre Art. 140 i.V.m. Art. 136 I WRV als eine Schranke von Art. 4 I GG heranzuziehen. Art. 136 I WRV stellt die Religionsausübung unter den Vorbehalt der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, also einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Fraglich ist jedoch, in welchem Verhältnis Art. 136 I WRV zu Art. 4 I GG steht.
Man kann argumentieren, dass der Gesetzgeber sich dafür entschieden hat nur eine sehr begrenzte Anzahl an Vorschriften aus der WRV durch Art. 140 GG Geltung zu verschaffen. Die aktive Wahl von Art. 136 I WRV spräche demnach dafür, dass die Vorschrift eine Schranke darstellen soll.
Dagegen spricht jedoch, dass Art. 4 GG in die Systematik der Grundrechte eingebettet steht und Gesetzesvorbehalte in allen anderen Vorschriften der Grundrechte ausdrücklich benannt werden. Es ergibt sich ein kohärentes System in den Art. 1 – 19 GG. Es gibt kein anderes Grundrecht, dass seine geschriebene Schranke aus einer anderen Vorschrift des GG, geschweige denn der WRV, erhält.
Historisch kann man zusätzlich vorbringen, dass in der Weimarer Republik Art. 135 WRV die Religionsfreiheit garantierte und unter den Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze“ stellte, also einen Gesetzesvorbehalt vorsah. Bedeutsam ist, dass gerade die Vorschrift, die ausdrücklich ein (Grundrechts-)Garantie-Schranken-Verhältnis hatte, nicht übernommen wurde.
Außerdem gäbe es so bei der Anwendung von Art. 136 WRV einen einfachen Gesetzesvorbehalt für Art. 4 II GG, nicht aber für Art. 4 I GG. Das einheitliche Grundrecht der Glaubensfreiheit hätte dementsprechend zwei unterschiedliche Schranken, was wiederum auch systemwidrig wäre.
Art. 4 I, II GG steht demnach nicht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt.
bb) Verfassungsimmanente Schranke
Dies bedeutet nicht, dass das Grundrecht schrankenlos gewährt wird. Das Grundrecht ist beschränkt durch verfassungsimmanente Schranken. Grundrechte Dritter und Güter von Verfassungsrang müssen mit der Glaubensfreiheit im Wege der praktischen Konkordanz in Einklang gebracht werden.[6]BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, Rn. 82 f. Hier kommen insbesondere die staatliche weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten als widerstreitende Rechtsgüter in Betracht.
(1) Staatliche weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht
Bereits allgemein gilt die Verpflichtung des Staates zur Einrichtung unabhängiger Gerichte und neutraler Richterinnen und Richter, Art. 20 III, Art. 97, Art. 101 I S. 2 GG. Daraus fließt ein allgemeines Gebot der Neutralität und Sachlichkeit von Richter*innen.
Dazu tritt die staatliche weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht, die aus Art 4 I, Art. 3 III S. 1, Art. 33 III GG sowie Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I u. IV, Art. 137 I abgeleitet wird. Der Staat handelt durch seine Amtsträger*nnen. Demnach verpflichtet die Neutralitätspflicht die für den Staat Handelnden keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung zu betreiben oder sich durch dem Staat zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung zu identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft zu gefährden.[7]vgl. BVerfGE 93, 1, 16 f. Die staatlich weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht ist dementsprechend vorrangig ein Identifizierungsverbot mit einem bestimmten Glauben.
Trägt nun eine Person, die für den Staat handelt, ein religiös oder weltanschaulich konnotiertes Kleidungsstück könnte die weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht des Staates betroffen sein, wenn der Staat sich das Tragen dieser Symbole zurechnen lassen muss.
Der Staat muss sich nicht jedes Zeichen einer Grundrechtsausübung seiner Amtsträger*innen zurechnen lassen. Wie bereits im Urteil des BVerfG über das „Kopftuch-Verbot“ von Lehrerinnen festgestellt, muss sich der Staat eine Aussage oder Handlung einer Person nicht deshalb zurechnen lassen, weil sie im Zuge der staatlichen Tätigkeit erfolgt.[8]BVerfGE 138, 296, 336
Anmerkung: Identifizierung oder Zurechnung?Allerdings unterscheidet sich die Situation im Gerichtssaal an einigen Stellen von der im Klassenzimmer. Im Gegensatz zur Lehrerin muss die Richterin z.B. den Kleidungsvorschriften des Staates folgen und sich in ein förmlich stark reglementiertes Verfahren begeben. In einem Gerichtsverfahren ist festgeschrieben, was passieren muss, wenn Richter*innen den Sitzungssaal betreten, welche Kleidung Richter*innen tragen und wer wann spricht. Der Staat nimmt also wesentlichen Einfluss auf den Ablauf und das Erscheinungsbild einer Verhandlung. Dann ist es jedoch auch nachvollziehbar, wenn an dem Verfahren Beteiligte davon ausgehen, dass der Staat sich mit dem Ausdruck der Religion zumindest einverstanden erklärt.[9] BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, Rn. 90.
Anmerkung: Identifizierung oder Zurechnung? IINach dieser Ansicht wäre es an dieser Stelle richtig – so wie im Beschluss zum Tragen eines Kopftuchs von Lehrerrinnen – eine Identifizierung des Staates mit dem religiösen Symbol abzulehnen. Vielmehr könnte aus den nach Art. 33 V GG zu berücksichtigenden hergebrachten Grundsätzen das Mäßigungsgebot – als Grundsatz des Berufsbeamtentums – ein solches Verbot legitimieren.
(2) Der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege
Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, als eine der Grundbedingungen des Rechtsstaates[11]BVerfGE 34, 238, 248 f., die in Art. 19 IV, Art. 20 III und 92 GG verfassungsrechtlich verankert ist, fordert, dass das gesellschaftliche Vertrauen in die Justiz insgesamt existiert und gefördert wird. Dies stellt eine weitere verfassungsimmanente Schranke der Religionsfreiheit dar. Bei der Betrachtung kommt es nicht auf einzelne konkrete Streitfälle an, sondern auf eine Vielzahl von Umständen, die das gesellschaftliche Vertrauen stärken oder schwächen können. Es geht nicht um ein „absolutes Vertrauen“ in die Justiz in der gesamten Bevölkerung, aber eine möglichst weitreichende Optimierung des Vertrauens. Der Staat kommt dieser Aufgabe z.B. durch die strengen Formalisierungsbestimmungen nach.[12]BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, Rn. 91 f. Auch wenn das religiöse Bekenntnis einzelner Amtsträger allein nicht gegen deren sachgerechte Amtswahrnehmung spricht, kann die erkennbare Distanzierung des einzelnen Richters und der einzelnen Richterin von individuellen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen bei Ausübung ihres Amtes zur Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz insgesamt beitragen. Umgekehrt ist die öffentliche Kundgabe von Religiosität geeignet, das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen, das gerade durch eine besondere persönliche Zurücknahme der zur Entscheidung berufenen Amtsträger geprägt ist. Dieser Grundsatz ist betroffen, wenn der Staat seine weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht verletzt. Da, wie oben gesehen, diese beeinträchtigt ist, ist auch der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege betroffen.
Anmerkung: Identifizierung oder Zurechnung? III(3) Die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten
Auch die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten, als Grundrechte Dritter, könnte mit der Religionsfreiheit in Einklang gebracht werden müssen. Die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit schützt davor gezwungen zu werden an religiösen Handlungen oder Ritualen teilzunehmen. Diese Freiheit bezieht sich auch auf Symbole eines nicht geteilten Glaubens.
Zugleich schützt die negative Religionsfreiheit nicht grundsätzlich vor der Konfrontation mit einem fremden Glauben.[14]m.w.N. BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, Rn. 94 f. Während man in der bekenntnisoffenen Schule davon ausgehen kann, dass sich dort gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft wiederspiegeln soll, tritt der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich mit deutlich größerer Beeinträchtigungswirkung als in der Schule entgegen. Dabei macht nicht allein der Zwang zur Teilnahme den Unterschied aus, schließlich gilt bezüglich des Besuchs der Schule die Schulpflicht. Entscheidend ist demnach das Beeinträchtigungspotential, das deutlich gewichtiger ist als in der Schule. Durch die Schaffung einer Lage, in der die Verfahrensbeteiligten ohne Ausweichmöglichkeit gezwungen sind einem staatlichen Organ gegenüber zu treten, dem einzig der Staat das offene Tragen religiöser Symbole verbieten kann, sind diese der Darstellung der Symbole ausgeliefert. Damit greift der Staat in die negative Religionsfreiheit der Verfahrensbeteiligten ein, wenn das Tragen von religiösen Kleidungsstücken und Symbolen nicht.
Anmerkung: Widerspruch zum Beschluss des ersten Senates?Hier entschied der zweite Senat, dass genau diese Auslieferung das entscheidende Merkmal ist und ergänzte die 2015 vorgebrachten Punkte um das größere Beeinträchtigungspotential.
b) Schranken Schranke
Das Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsgütern ist in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Beantwortet werden muss also die Frage, ob der Gesetzgeber durch die Schaffung des § 11 LRiStAG eine Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter vorgenommen hat, die nicht zu beanstanden ist.
bb) Verhältnismäßigkeit der Regelung
Hier muss ein Ausgleich zwischen mehreren Gütern von Verfassungsrang geschaffen werden. Dies geschieht nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz. Ziel ist es alle Verfassungsgüter in einen schonenden Ausgleich zu bringen und den größtmöglichen Wirkungsraum zu verschaffen. Die Grenze der Einschränkung ist in dem Moment erreicht, in dem die gegenüberstehenden Verfassungswerte ihre größtmögliche Entfaltung und Wirksamkeit erlangt haben.
(1) Legitimer Zweck
Dafür müsste die Regelung des § 11 LRiStAG zunächst einen legitimen Zweck verfolgen. Die Vorschrift zielt darauf die Neutralität zu sichern, die negative Glaubensfreiheit zu schützen und das Vertrauen der Bürger*innen die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu fördern. Darin liegen legitime Zwecke.
(2) Geeignetheit
Durch das Verbot des Tragens von religiösen Kleidungsstücken und Symbolen können die Zweifel an der Neutralität, die negative Glaubensfreiheit und das Vertrauen in die Rechtspflege gestärkt werden. Die Vorschrift ist demnach geeignet.
(3) Erforderlichkeit
Eine Regelung ist erforderlich, wenn kein gleich geeignetes Mittel mit einer geringeren Eingriffsintensität vorliegt. Die Vorschrift sieht bereits vor, dass das Verbot nur bei Amtshandlungen mit Außenkontakt Anwendung findet. Eine andere weniger eingreifende Maßnahme ist nicht ersichtlich.
(4) Ausgleich der widerstreitenden Interessen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz
Die Vorschrift des § 11 LRiStAG verbietet den Adressat*innen das Tragen von religiösen Kleidungsstücken in Terminen mit Außenkontakt vollständig. Dadurch werden Personen, die das Tragen von solchen Kleidungsstücken für sich als religiöse Pflicht verstehen, sehr schwerwiegend in ihrem Grundrecht aus Art. 4 I, II GG eingeschränkt. Die Schwere des Eingriffs wird ein wenig dadurch abgefedert, dass das Verbot nur bei Terminen mit Außenkontakt gilt. Nichtsdestotrotz steht auf der einen Seite ein schwerwiegender Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit.
Demgegenüber steht das Gut der weltanschaulich religiösen Neutralität der Gerichte und Funktionsfähigkeit der Rechtspflege. Diese sind essentiell für das Vertrauen in die Rechtsstaat. Ein Staat ohne neutrale Gerichte läuft Gefahr als nicht weltanschaulich neutraler Staat wahrgenommen zu werden. Dabei können, wie oben gesehen, schon nachvollziehbare Zweifel die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege beeinträchtigen.
Insbesondere ist es schwierig von Verfahrensbeteiligten zu erwarten, dass sie zwischen der Person und dem Amt einer Richterin oder eines Richters trennen. Vielmehr tritt die Person in ihrer Individualität, ihrem Glauben und ihren Ansichten hinter das ausgeübte Amt zurück. Richter*innen sind – in der Wirkung auf Verfahrensbeteiligte – rechtsprechende Repräsentant*innen des Staates.
Eine Vorschrift, die der Neutralität der Rechtspflege den Vorzug vor der Religionsausübungsfreiheit gewährt, wahrt in dieser Form die Grundsätze der praktischen Konkordanz. Zugleich lässt sich aus dem Geflecht der widerstreitenden Interessen keineswegs eine Pflicht des Gesetzgebers zur Einführung einer solchen Vorschrift ableiten.
Anmerkung: Unterschied zur Rechtsprechung zu Lehrerinnen mit Kopftuch?5. Ergebnis
Der Eingriff in Art. 4 I, II GG ist gerechtfertigt.
III. Verstoß gegen Art. 33 II GG
Außerdem könnte hier ein Verstoß gegen Art. 33 II GG, also das besondere Gleichbehandlungsgebot in Bezug auf öffentliche Ämter, in Betracht kommen. Dafür gilt jedoch die oben vorgenommene Abwägung entsprechend.
IV. Verstoß gegen Art. 3 III S. 1 GG
Durch § 11 LRiStAG könnte ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot vorliegen, weil nur Frauen von den Regelungen betroffen sein könnten. Zunächst handelt es sich nicht um eine unmittelbare Diskriminierung, welche voraussetzen würde, dass bereits die Regelung eine an geschlechtsspezifische Unterschiede angeknüpfte Differenzierung vornimmt. Es könnte sich jedoch um eine mittelbare Diskriminierung handeln. Dafür müsste die Vorschrift im Ergebnis mehrheitlich Frauen betreffen.[15]BayVerfGH, 14.03.2019 – Vf. 3 VII-18 Rn. 41 ff. Jedoch findet die Vorschrift auch für von Männern getragenen Kleidungsstücken und Symbolen Anwendung, wie einer Kippa oder dem Dastar. Selbst wenn Frauen zahlenmäßig weit häufiger betroffen sein sollten, läge hier eine Regelung mit einem verfassungsrechtlich gerechtfertigten Ziel vor, die die Unterscheidung rechtfertigen.
V. Verstoß gegen Art. 3 I GG den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz
Zuletzt könnte ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vorliegen, da Kruzifixe in einzelnen Ländern in den Räumlichkeiten des Gerichts aufgehängt sein dürfen. Nur auf Nachfrage wird dieses abgenommen. Die Ausstattung der Verhandlungsräume ist jedoch eine Angelegenheit der Gerichtsverwaltung. Diese ist nicht mit der Rechtsprechung beauftragt („Nicht der Raum, sondern die Richter*innen sprechen das Recht“). Dementsprechend kann die räumliche Ausstattung nicht in vergleichbarer Weise einen Zweifel an der Unabhängigkeit der Richter*innen begründen. Damit liegt eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung vor.
Anmerkung: andere Ansicht gut vertretbarC. Ergebnis
§ 11 LRiStAG ist formell und materiell verfassungsgemäß. Die Auffassung der M ist unzutreffend.
Zusatzfragen
Zusatzfrage 1: Könnte der Eingriff in die Berufsfreiheit hier zu einer anderen Beurteilung führen?Zusammenfassung:
1. Das Verbot religiös konnotierte Kleidungsstücke oder Symbole während einer Tätigkeit mit Außenkontakt bei Gericht zu tragen, greift in die Religionsfreiheit ein.
2. Der Eingriff kann nach Auffassung der Gerichte aufgrund der widerstreitenden Verfassungsgüter (negative Glaubensfreiheit der Verhandlungsteilnehmer*innen, staatliche weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht und die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege) gerechtfertigt werden.
3. Aus den wiederstreitenden Verfassungsgütern lässt sich keine Pflicht des Staates zur Einführung eines Kopftuchverbots für Lehrer*innen ableiten.
4. Der Unterschied zu den Fällen des „Kopftuchverbots“ für Lehrerinnen liegt darin, dass der Staat hier klassisch hoheitlich tätig wird und in einem Gerichtssaal schwerwiegendere Grundrechtseingriffe ausgesprochen werden können, als in einem Klassenzimmer.
[kaliform id=“2599″]