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Inlandsgeheimdienst

BVerfG, Urteil vom 14.12.2022 (2 BvE 8/21), NVwZ 2023, 239

Sachverhalt

Bei Durchsicht der Verfassungsschutzberichte des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) fällt dem Abgeordneten im Bundestag A auf, dass in den Berichten zunehmend internationale Bedrohungen thematisiert werden. A ist besorgt. Seiner Meinung nach bestünde hier ein Zuständigkeitskonflikt zwischen dem BfV, der gemeinhin als „Inlandsgeheimdienst“ betitelt wird, und dem Bundesnachrichtendienst (BND), als „Auslandsgeheimdienst“. Darin sieht er eine Gefahr, da in der Vergangenheit, z.B. beim NSU, Unklarheiten über die Zuständigkeit zu Problemen geführt haben. Außerdem würde dies eine strategische Umorientierung des Verfassungsschutzes auf das Ausland darstellen, was nicht parlamentarisch legitimiert sei. Deswegen wendet sich A mit einer Einzelfrage an die Bundesregierung. Diese lautet:

„Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz sind in den letzten fünf Jahren für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit in das Ausland entsandt worden (bitte aufschlüsseln nach Jahr) und wie bewertet die Bundesregierung die Entsendung dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Blick auf die Aufgabenverteilung zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst?“

Die Bundesregierung lehnt die Beantwortung der Frage aus Geheimhaltungsgründen ab. Ihrer Ansicht nach würden durch die Beantwortung der Frage Informationen preisgegeben, die in besonderem Maße das Staatswohl berühren. Mit Blick auf die künftige Aufgabenerfüllung und Einsatzerfolge sind die operativen Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen der Sicherheitsbehörden besonders schutzwürdig: Eine (zur Veröffentlichung bestimmte) Antwort würde spezifische Informationen zur Tätigkeit, insbesondere zu Methodik und konkreten Fähigkeiten der Sicherheitsbehörden, einem nicht eingrenzbaren Personenkreis im Inland sowie im Ausland zugänglich machen. Insbesondere durch die Auskunft über die „Größenordnung des eingesetzten Personals“ könnten Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des BfV gezogen werden. Da andere Nachrichtendienste Informationen sammeln, um diese wie ein „Mosaik“ zusammenzusetzen, könnte die begehrte Auskunft ein entscheidendes Teilstück sein, um sicherheitsrelevante Rückschlüsse auf die Tätigkeit des BfV im Ausland zu ziehen. Dies würde einen Nachteil für die Interessen der Bundesrepublik bedeuten. Daher müsse hier eine „Bereichsausnahme“ für das Fragerecht erfolgen – eine ausreichende Kontrolle erfolge bereits über die vertraulichen Kontrollgremien im Bundestag (PKGrG).

A gibt sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Es sei sein gutes Recht als Abgeordneter über die Tätigkeiten der Bundesregierung und der ihr unterstehenden Behörden informiert zu werden; dies sei Teil seiner Kontrollfunktion als Abgeordneter. Er rügt daher die Bundesregierung erfolglos. Nach Erhalt dieser erneuten Verweigerung möchte A die B vor dem BVerfG zur Antwort verpflichten. In der Zwischenzeit ist die ursprüngliche Legislaturperiode beendet und eine neue Regierung im Amt; A ist weiterhin Abgeordneter.

Hätte das Vorhaben des A Erfolg?


Skizze


Gutachten

Das Vorhaben des A hat Erfolg, wenn sein Antrag zulässig und soweit er begründet ist.

A. Zulässigkeit

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreitverfahrens müssten erfüllt sein, Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG, §§ 63 ff. BVerfGG.

I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet gem. Art. 93 I Nr. 1 GG über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Vorliegend streiten ein Bundestagsabgeordneter und die Bundesregierung über die Beantwortungspflicht der letzteren, sodass das BVerfG zuständig ist.

II. Beteiligtenfähigkeit

Sowohl der Antragsteller A als auch die B als Antragsgegnerin müssten beteiligtenfähig sein. Dies wird durch § 63 BVerfGG konkretisiert. Die Bundesregierung ist explizit in § 63 BVerfGG genannt und damit auch beteiligtenfähig. 

Fraglich ist, inwieweit A beteiligtenfähig ist. Nach § 63 BVerfGG können auch Organteile beteiligtenfähig sein, sofern sie im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Als Organteile werden ständig unterhaltene Gliederungen, die die Arbeit des Organs ermöglichen oder erleichtern, verstanden.[1]BVerfG, BeckRS 1953, 107287. Zwar kommen Abgeordneten z.B. aus Art. 38 I 2 GG eigene Organrechte zu. Fraglich ist aber, ob A als einzelner Abgeordnete unter diese Definition zu fassen ist. Dies kann hier dahinstehen, da Abgeordnete in jedem Fall als andere Beteiligte i.S.d. Art. 93 I Nr. 1 GG zu verstehen sind.[2]So: BeckRS 2007, 21804; aA Maurer/Schwarz, StaatsR I, 7. Aufl. (2023), Rn. 153. Dem Grundgesetz ist normhierarchisch Vorrang zu gewähren, sodass § 63 BVerfGG den Art. 93 I Nr. 1 GG nicht einschränken kann.

Damit sind A und B beteiligtenfähig. 

Vernetztes Lernen: Wann ist der Streit um die Organzugehörigkeit von Abgeordneten entscheidungserheblich?
Der Streit ist immer dann entscheidungserheblich, wenn der oder die Abgeordnete nicht nur eigene Rechte geltend machen möchte, sondern Rechte des Bundestags im eigenen Namen in Prozessstandschaft geltend machen möchte. Eine Prozessstandschaft ist gem. § 64 BVerfGG nur dann möglich, sofern der Abgeordnete ein Organteil des Bundestags ist.[3]Eingehend dazu: Ingold, JuS 2020, 118 ff.

Dies hat das BVerfG z.B. den Bundestagsfraktionen, nicht aber den einzelnen Abgeordneten zugebilligt.[4]M.w.N. Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. (2023), § 52 Rn. 13. Nach Auffassung des BVerfG sind sie lediglich „andere Beteiligte“, da Abgeordnete nach der GO-BT keine selbstständige „Gliederung“ des Bundestags seien.[5]BVerfG, BeckRS 1994, 120194, Rn. 165. Ferner fehle es Abgeordneten gerade an einer „organisierten parlamentarischen Minderheit“, die für ein Organteil vorausgesetzt wird.[6]BVerfG, BeckRS 1994, 120194, Rn. 165; Hervorhebung durch Autorin. Eine andere Ansicht ist hier aber mit Blick auf die Literatur vertretbar.[7]Vgl. z.B. Maurer/Schwarz, StaatsR I, 7. Aufl. (2023), § 15 Rn. 153.

III. Tauglicher Antragsgegenstand

Es müsste ebenso ein tauglicher Antragsgegenstand vorliegen. Gem. § 64 I BVerfGG bedürfte es einer rechtserheblichen Maßnahme oder Unterlassung. Es kommt nicht darauf an, ob es sich bei den gerügten, nicht erfolgten Antworten der B um eine Maßnahme in Form der Verweigerung einer hinreichenden Antwort oder um ein Unterlassen in Form einer pflichtwidrigen Nichtbeantwortung oder einer nicht hinreichenden Beantwortung der jeweiligen Anfrage handelt.[8]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 43. In jedem Fall kann die Nichtbeantwortung den Rechtskreis des A aus Art. 38 I 2 GG betreffen. 

Anmerkung: Rechtserheblichkeit der Maßnahme
Das BVerfG hat die Frage der „Rechtserheblichkeit“ bzgl. der Unterlassung bisher nicht definiert. Jedenfalls ist der Punkt weit auszulegen – es sollen bspw. bloße Meinungsäußerungen oder Realakte ausgeschlossen werden.[9]Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. (2023), Rn. § 52 Rn. 10.

IV. Antragsbefugnis

A müsste gem. § 64 I BVerfGG in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet sein. Dies ist Ausdruck des kontradiktorischen Charakters des Organstreitverfahrens, da Gegenstand der Prüfung nicht die abstrakte Verfassungswidrigkeit, sondern die konkrete Rechtsverletzung ist. A macht seine Informationsrechte als Abgeordneter geltend. Es ist nicht auszuschließen und damit möglich, dass die Nichtbeantwortung seiner Einzelfrage seine Rechte aus Art. 38 I 2 GG verletzt.[10]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 48. Damit ist A antragsbefugt. 

V. Form- und Fristerfordernisse

Der Antrag des A müsste den Frist- und Formerfordernissen genügen. Gem. §§ 23, 64 II BVerfGG muss der Antrag schriftlich erfolgen und es ist die Bestimmung des Grundgesetzes zu bezeichnen, gegen die nach Ansicht der Antragssteller*innen verstoßen wird. Dies müsste binnen sechs Monate nach Bekanntwerden des gerügten Unterlassens oder der Maßnahme erfolgen, § 64 III BVerfGG

VI. Rechtsschutzbedürfnis

Zuletzt müsste A auch ein Rechtsschutzbedürfnis haben. Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn und solange über die Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht.[11]BVerfG, NVwZ 2019, 1755, Rn. 28. Es ist grundsätzlich indiziert. Hier könnten es aber mit Blick auf die vorherige Rüge oder das Ende der Legislaturperiode entfallen.

1. Konfrontationsobliegenheit

A hat die B nach Erhalt der Verweigerung nochmals gerügt und damit um die Beantwortung der Frage gebeten. Damit ist er seiner „Konfrontationsobliegenheit“ nachgekommen. Das Organstreitverfahren war für die Antragsgegnerin dadurch auch vorhersehbar.[12]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 51.

Anmerkung: Konfrontationsobliegenheit
Grundsätzlich muss das BVerfG ein Verfahren nicht deshalb ablehnen, weil zur Verfolgung des Prozesszieles außerhalb der gewählten Verfahrensart andere gleichwertige verfassungsrechtliche Wege offen gestanden hätten oder offenstehen, oder weil andere politische Klärungs- oder Handlungsmöglichkeiten bestehen.

Die Konfrontationsobliegenheit, die diesen Grundsatz einschränkt, wurde für das parlamentarische Fragerecht ausdrücklich 2017 das erste Mal vom BVerfG erwähnt.[13]BverfG, NVwZ 2018, 572, Rn. 19. Sie soll der Regierung die Möglichkeit geben, über den vermeintlichen Fehler ihrer Beantwortung aufgeklärt zu werden und ggf. Abhilfe zu schaffen. 2019 wurde diese Obliegenheit auch für einen Ordnungsruf bestätigt.[14]BverfG, NVwZ 2019, 1755, Rn. 31. Wann Antragssteller*innen verpflichtet sind vor Einleitung des Organstreitverfahrens noch eigene Maßnahmen vorzunehmen, ist in weiten Teilen noch unklar. Insoweit gilt es für Studierende besonders auf etwaige Informationen im Sachverhalt zu achten und diese entsprechend zu verwerten: „Jedenfalls bedarf dieser Gesichtspunkt in der Fallbearbeitung besonderer Aufmerksamkeit.“[15]Sachs, JuS 2017, 1234 (1235).

2. Ende der Legislaturperiode

Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt auch nicht dadurch, dass eine neue Regierung ins Amt getreten ist. Die Auskunfts- und Informationspflichten enden nicht mit der Legislaturperiode. Ebenso gehört der Antragsteller dem Bundestag weiterhin an und hat daher ein schutzwürdiges Interesse an der Klärung, ob die B zur vollständigen Beantwortung der von ihm gestellten Anfrage verpflichtet war.[16]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 51.

VII. Zwischenergebnis

Sofern A die Form- und Fristerfordernisse einhält, wäre sein Antrag zulässig. 

B. Begründetheit

Der Antrag des A ist begründet, wenn die gerügte Nichtbeantwortung verfassungswidrig war und den A in seinen Rechten verletzt.

Anmerkung: Aufbau der Begründetheit
Hier gibt es nicht das „eine“ richtige Schema. Vielmehr sind verschiedene Aufbaumöglichkeiten, die sich z.B. an einem Anspruchs- oder Eingriffsaufbau orientieren, denkbar.

I. Bestehen eines Auskunftsanspruchs

Aus Art. 38 I 2 GG i.V.m. Art. 20 II 2 GG folgt ein Frage- und Informationsrecht der Bundestagsabgeordneten gegenüber der Bundesregierung. Die Antworten der Bundesregierung auf schriftliche Anfragen und auf Fragen in der Fragestunde des Bundestages dienen dazu, dem Bundestag und den einzelnen Abgeordneten die für ihre Tätigkeit nötigen Informationen auf rasche und zuverlässige Weise zu geben.[17]BverfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 53. Dadurch werden die Voraussetzungen für eine sachgerechte Arbeit des Parlaments geschaffen. Dies dient zum einen der Sicherstellung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive und zum anderen dem Demokratieprinzip, indem die Regierung gegenüber dem direkt legitimierten Parlament verantwortlich zeichnet.[18]BverfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 54 f. Der Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit fordert, dass die Beantwortung der Fragen grundsätzlich öffentlich erfolgt, da eine verantwortliche Teilhabe der Bürger*innen voraussetzt, dass sie über Entscheidungen, Maßnahmen und Lösungsvorschlägen genügend wissen, um sie beurteilen, billigen oder verwerfen zu können.[19]BverfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 57.

Anmerkung: Anknüpfungsgegenstand in der Begründetheit
Es ist hier wichtig, sich direkt auf die Normen des Grundgesetzes zu beziehen und nicht nur auf die GOBT, da das BVerfG nicht die Verletzung des einfachen Rechts prüft, sondern die Verletzung einer verfassungsrechtlichen Rechtsposition gefordert wird (Vgl. § 67 S. 1 BVerfGG).

II. Kein Auskunftsverweigerungsrecht

Das parlamentarische Informationsrecht gilt aber nicht unbegrenzt. Vielmehr kann die Bundesregierung die Auskunft aus verfassungsrechtlichen Gründen verweigern. Dies gilt, wenn und soweit die Beantwortung der Frage außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Regierung liegt oder der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, die Grundrechte Dritter oder das Staatswohl betroffen sind.[20]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 58. Bedenken bestehen hier insbesondere bezüglich des Staatswohls, insoweit als dass das Interesse an der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes betroffen ist.

Vernetztes Lernen: Was umfasst der „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“?
Der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung wird als „grundsätzlich nicht ausforschbarer Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich“ definiert.[21]Klein, in: DHS, GG, 101. EL (2023), Art. 45d Rn. 36. Sinn ist es also, die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive zu wahren. Die „Willensbildung der Regierung selbst, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich vornehmlich in ressortübergreifenden und -internen Abstimmungen vollzieht“ soll dem Fragerecht entzogen werden.[22]BVerfG, BeckRS 2017, 130229, Rn. 229. Da gerade verhindert werden soll, dass das Parlament durch das Fragerecht mit- oder hineinregiert, sind zukünftige Fragen der Willensbildung oder Entscheidungsprozesse diesem entzogen. Demnach beschränkt sich das Fragerecht auf solche Vorgänge, die bereits in der Vergangenheit liegen.[23]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 61.

1. Generelle Bereichsausnahme 

Die Bundesregierung beruft sich auf eine generelle Bereichsausnahme für das Gebiet der nachrichtendienstlichen Tätigkeiten. Die Kontrollfunktion könnte z.B. ausreichend durch die vertraulich bzw. geheim agierenden Kontrollgremien innerhalb des Bundestags wahrgenommen werden (Vgl. § 1 I PKGrG). 

Grundsätzlich muss zwischen den Interessen des Staatswohls und des Auskunftsanspruchs abgewogen werden. Die vertraulich arbeitenden Kontrollgremien können dabei u.a. einen geeigneten Ausgleich darstellen. Die Mitglieder der Kontrollgremien sind aber zur Geheimhaltung verpflichtet.[24]Vgl. z.B. § 10 Abs. 1 PKGrG, § 10a Abs. 2 S. 5 BHO, § 15 Abs. 2 G 10. Weder anderen Abgeordneten noch den Fraktionen oder Bürger*innen dürfen nachrichtendienstliche Informationen mitgeteilt werden, die ihnen die Bundesregierung zur Verfügung stellt.[25]Vgl. Shirvani, Parlamentarisches Fragerecht und Staatswohl, Verfassungsblog v. 20.12.2022. Die oben dargestellten Funktionen des Auskunftsanspruchs können daher nicht vollends erfüllt werden. Schon deshalb kann das parlamentarische Auskunftsrecht durch die Kontrollgremien nicht verdrängt oder ersetzt werden – vielmehr ist es ein zusätzliches Instrument.[26]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 71, 97. Eine vollständige Bereichsausnahme kommt, trotz der Sensibilität der Materie, daher nicht in Betracht.[27]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 92. Denn dem Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung steht ein ebenfalls gewichtiges Informationsinteresse des Parlaments gegenüber. Für die Tätigkeit der Nachrichtendienste sind die verfassungsrechtlich verankerten Geheimhaltungsinteressen und der parlamentarische Auskunftsanspruch vielmehr im Einzelfall in Ausgleich zu bringen.[28]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 92.

Anmerkung: Verweigerungsgrund des Staatswohls
Obwohl der Verweigerungsgrund des Staatswohls anerkannt ist, ist zumindest seine Herleitung strittig. Das BVerfG hat die Frage hier offen gelassen.[29]Vgl. Wischmeyer, JuS 2023, 608 (609 f.); eingehend zur Debatte: Sachs, JuS 2021, 380 (381).

2. Bewertung des Einzelfalls

Die Anfrage des A richtet sich ausschließlich auf die Mitteilung der Gesamtzahl der in den Jahren 2015 bis 2019 jeweils im Ausland tätigen Bediensteten des BfV und eine Bewertung dieses Umstands mit Blick auf die Aufgabenverteilung zwischen BfV und BND. Eine Spezifizierung der erfragten Zahl der Auslandsbediensteten nach Einsatzorten oder -regionen, Einsatzzeiten, Tätigkeitsschwerpunkten oder sonstigen Merkmalen fordert der Antragsteller gerade nicht.[30]Vgl. BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 84. Weder können dadurch Rückschlüsse auf konkrete Aktivitäten, Aktivitätsorte oder Einsatzfelder für den erfragten Zeitraum gezogen werden, noch enthalten die erbetenen Zahlen Aussagen für die Gegenwart oder Zukunft.[31]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 84.

Insbesondere ist die „Mosaiktheorie“ abzulehnen. Würde jede noch so abstrakte Information, die in irgendeiner Weise (z.B. in Zusammenschau mit anderen Informationen) Rückschluss auf die Arbeit des BfV ziehen ließe, genügen, um die Beantwortung der parlamentarischen Frage zu verweigern, würde jede Aussage verweigert werden können und dadurch das parlamentarische Auskunftsrecht leerlaufen.[32]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 89, 91. Vielmehr bedarf es einer substantiierten Darlegung im Einzelfall, wieso die spezifischen Informationen konkret dazu geeignet sind, die Handlungsfähigkeit des BfV zu beeinträchtigen. Dies konnte die B als Antragsgegnerin nicht plausibel darlegen, sondern beschränkte sich auf eine rein abstrakte Darstellung.[33]BVerfG, NVwZ 2023, 239, Rn. 110. Damit überwiegt das parlamentarische Auskunftsrecht des A das Interesse an der Geheimhaltung der B.

III. Zwischenergebnis

Durch die Nichtbeantwortung der Einzelfrage des A verletzt die B ihn in seinem Recht aus Art. 38 I 2 GG i.V.m. Art. 20 II 2 GG.

C. Ergebnis

Der Antrag des A hat Erfolg.


Zusatzfragen

1. Darüber hinaus hat A auch den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Wonach bemisst sich der Erfolg einer solchen?
Der Erfolg der einstweiligen Anordnung bemisst sich nach § 32 BVerfGG. Die Prüfung teilt sich auch in Zulässigkeit und Begründetheit auf.

A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit des BVerfG
Die Zuständigkeit im Rahmen der einstweiligen Maßnahme richtet sich nach der Zuständigkeit in der Hauptsache. Also für das Organstreitverfahren z.B. aus Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG, §§ 63 ff. BVerfGG.

II. Antragsberechtigung
Die Antragsberechtigung ergibt sich aus der Hauptsache.

III. Tauglicher Antragsgegenstand
Auch die Frage des tauglichen Antragsgegenstands muss nach der Hauptsache bestimmt werden.

IV. Form
Mangels besonderer Formvorschriften findet § 23 BVerfGG Anwendung.

V. Rechtsschutzbedürfnis
Im Rahmen des Rechtsschutzbedürfnis ist insbesondere zu berücksichtigen, dass keine Vorwegnahme der Hauptsache erfolgt.

B. Begründetheit
Der Antrag ist begründet, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum Gemeinwohl dringend geboten ist.

Wichtig ist, dass sich der Zusatz „zum Gemeinwohl dringend geboten“ auf alle vorherigen Varianten bezieht.[34]Manssen, StaatsR II, 19. Aufl. (2022), Rn. 985. In der darauffolgenden Prüfung ergeben sich zwei mögliche Konstellationen: Entweder ist der Antrag auf einstweilige Anordnung unbegründet, da der Hauptantrag unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Ansonsten wendet das Gericht die folgenorientierte Doppelhypothese an. Dabei wird abgewogen, welche Nachteile überwiegen: Wenn die einstweilige Anordnung nicht ergeht, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hat oder wenn die einstweilige Anordnung ergeht, der Antrag aber in der Hauptsache keinen Erfolg hat?

2. Welche anderen, prüfungsrelevanten Statusrechte von Bundestagsabgeordneten gibt es?
Insgesamt sind die sich aus Art. 38 I 2 GG ergebenden Statusrechte als Mitwirkungsrechte konzipiert.[35]Maurer/Schwarz, StaatsR I, 7. Aufl. (2023), § 11 Rn. 52. Zu diesen Mitwirkungsrechten gehören neben dem Fragerecht vor allem:[36]Ibid.
– das Recht auf Teilnahme an Bundestagessitzungen,
– das Rederecht,
– das Antrags- und Initiativrecht,
– das Recht auf Teilnahme an den Abstimmungen und Wahlen,
– das Recht, sich mit anderen Abgeordneten zu einer Fraktion zusammenzuschließen (Assoziationsrecht)
– und das Recht auf Mitgliedschaft in einem ständigen Ausschuss des Bundestages.

Zusammenfassung

1. Im Rahmen des Rechtsschutzbedürfnis kommt den Abgeordneten in Fällen zum parlamentarischen Fragerecht eine „Konfrontationsobliegenheit“ zu. 

2. Eine Bereichsausnahme, die das Informationsrecht von Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG i.V.m. Art. 20 II 2 GG begrenzt, kommt für die Organisation und Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste nicht in Betracht.

3. Das parlamentarische Kontrollgremium verdrängt die Informationsrechte aus Art. 38 I 2 GG nicht. 

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