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Infrastrukturabgabe oder auch ‚Ausländer-Maut‘

EuGH Urt. v. 18.6.2019 – C-591/17; EuGH NJW 2019, 2369

Sachverhalt

In Deutschland verabschiedete der Bundestag im Jahr 2015 das Infrastrukturabgabengesetz (InfrAG). §1 InfrAG sieht eine Abgabe für die Benutzung der Bundesfernstraßen (Autobahnen und Bundesstraßen) für PKW bis 3,5 t zulässigem Gesamtgewicht vor. Um diese zu begleichen, müssen Vignetten erworben werden. Diese kann man für zehn Tage, zwei Monate oder ein Jahr erwerben. Grundlage für den Preis sind die Leistung des Motors und die Emissionsklasse. Jeder Halter und jede Halterin eines in Deutschland zugelassenen Fahrzeugs muss – unabhängig von der tatsächlichen Nutzung von Bundesfernstraßen – eine Jahresvignette erwerben. Bei einem im Ausland zugelassenen Fahrzeug entsteht die Pflicht zur Entrichtung der Infrastrukturabgabe mit der erstmaligen Nutzung einer Bundesfernstraße nach dem Grenzübertritt.

In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass dies zum einen dem Umweltschutz dienen solle und man außerdem einen Systemwechsel vollziehe: Die Bundesfernstraßen würden bisher ausschließlich aus Steuermitteln finanziert, so dass ausländische Nutzerinnen und Nutzer der Straßen bisher nichts zu deren Erhalt und Instandsetzung beitrügen. Man wolle von der Steuerfinanzierung zur Nutzungsfinanzierung.

Damit deutsche Halter*innen und Fahrer*innen durch KfZ-Steuern und Infrastrukturabgabe nicht doppelt belastet werden, erließ der Bundestag am gleichen Tag, an dem er auch das InfrAG verabschiedete, eine Änderung der KfZ-Steuern (KfZ-StG). Die Änderung sieht vor, dass die Steuer für KfZ-Halter*innen um den Betrag geringer ist, den Halterinnen und Halter für die obligatorische Jahresvignette zahlen müssen. Die Verringerung der KfZ-Steuer soll ab dem Zeitpunkt gelten, ab dem die Infrastrukturabgabe erhoben wird.

Österreich hält das InfrAG für unionsrechtswidrig. Eine Infrastrukturabgabe an sich sei in Ordnung, man habe eine solche selbst. Jedoch müsse man das InfrAG und das KfZ-StG zusammen betrachten. Zusammen führten das InfrAG und die KfZ-StG dazu, dass ausschließlich PKW-Halter*innen mit im Ausland registrierten Fahrzeugen für die Infrastrukturabgabe aufkommen müssten. Österreich sieht darin eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und des allgemeinen Diskriminierungsverbots. Deshalb befasst Österreich gem. Art. 259 AEUV die Kommission mit der Angelegenheit, und fordert diese zu einer Stellungnahme auf. Es findet eine Anhörung bei der Kommission statt, daraufhin gibt die Kommission jedoch keine begründete Stellungnahme ab. Fünf Monate nach der Anhörung erhebt Österreich Klage vor dem EuGH aus den genannten Gründen.

Hat eine Klage vor dem EuGH Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitungshinweis: Art. 92 AEUV und sekundäres Unionsrecht sind nicht zu prüfen.


Skizze


Gutachten

Das Vertragsverletzungsverfahren in Form der Staatenklage Österreichs gegen Deutschland hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. Sachliche Zuständigkeit

Der EuGH ist gem. Art. 259 AEUV für ein Vertragsverletzungsverfahren in Form der Staatenklage zuständig. Eine Zuständigkeit des Gerichts oder von Fachgerichten nach Art. 256 AEUV ist nicht gegeben.

Anmerkung: Rolle der EU Kommission
Die Kommission als „Hüterin der Verträge“ ist gem. Art. 258 AEUV berechtigt ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Hier hatte die Kommission nach einigen Änderungen Deutschlands nach Einleitung des Verfahrens von einer Klageerhebung Abstand genommen.

II. Partei- und Beteiligtenfähigkeit

Art. 259 AEUV bestimmt, dass jeder Mitgliedsstaat aktiv parteifähig ist, also fähig ist vor dem EuGH zu klagen. Passiv parteifähig (also möglicher Klagegegner) ist der Mitgliedsstaat, dem die Verletzung von Unionsrecht vorgeworfen wird. Österreich ist als Mitgliedsstaat aktiv parteifähig und Deutschland als Mitgliedsstaat passiv parteifähig.

III. Vorverfahren

Das nach Art. 259 AEUV notwendige Vorverfahren müsste durchgeführt worden sein.

1. Vertragsverletzungsrüge

Dafür müsste Österreich zunächst eine Vertragsverletzungsrüge nach Art. 259 Abs. 2 AEUV gegenüber der Kommission erhoben haben. Dies geschah in Form der Aufforderung zur Stellungnahme an die Kommission.

2. Möglichkeit der Stellungnahme

Die Kommission hat daraufhin Deutschland und Österreich die Möglichkeit gegeben im Rahmen der Anhörung sich zum Verfahren zu äußern und ist damit den Anforderungen aus Art. 259 Abs. 3 HS. 2 nachgekommen.

Vernetztes Lernen: Möglichkeit der Stellungnahme
Der Staat, dem die Vertragsverletzung vorgeworfen wird muss die Möglichkeit haben eine Stellungnahme abzugeben. Erst wenn das passiert ist, ist das Verfahren vor dem EuGH zulässig. Leitet die Kommission dieses Verfahren also nicht ein, muss der anklagende Staat zunächst eine Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV gegen die Kommission erheben. Der uneindeutige Begriff Beschluss in Art. 265 AEUV ist weit auszulegen und kann gegen jede Art von Unterlassen gerichtet werden. [1]Pechstein in Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 265 AEUV Rn. 38 ff.
3. Begründete Stellungnahme der Kommission und Ablauf der Frist 

Zuletzt ist die Kommission aufgefordert innerhalb von drei Monaten nach Erhebung der Rüge eine begründete Stellungnahme abzugeben. Diese Stellungnahme ist hier ausgeblieben. Gem. Art. 259 Abs. 4 AEUV ist eine Klageerhebung in diesem Fall mit Ablauf einer dreimonatigen Frist seit der Rüge möglich. Hier hat Österreich fünf Monate nach der Anhörung die Klage erhoben. Die dreimonatige Frist war damit verstrichen.

4. Zwischenergebnis

Das Vorverfahren wurde ordnungsgemäß durchgeführt.

IV. Klagegegenstand

Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahren kann nur ein Verstoß gegen primäres und sekundäres Unionsrecht sein, Art. 259 Abs. 1 AEUV. Hier rügt Österreich einen Verstoß gegen Grundfreiheiten aus dem AEUV, namentlich der Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 ff. AEUV und der Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV sowie dem allgemeinen Diskriminierungsverbot, Art. 18 AEUV. Damit rügt Österreich die Verletzung primären Unionsrecht, es handelt sich um einen tauglichen Klagegegenstand.

V. Ergebnis

Das Vertragsverletzungsverfahren ist zulässig.

B. Begründetheit

Die Klage ist begründet, wenn der geltend gemachte Verstoß gegen das Unionsrecht tatsächlich vorliegt. Dies ist dann der Fall, wenn der vorgeworfene Sachverhalt zutreffend ist, dem Mitgliedstaat zurechenbar ist und eine Beeinträchtigung des Primär- oder Sekundärrecht der Union festgestellt werden kann sowie keine Rechtfertigungsgründe vorliegen.

I. Verstoß gegen allgemeines Diskriminierungsverbot

Hier könnte ein Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot gemäß Art. 18 Abs. 1 AEUV vorliegen. Österreich bringt dazu vor, dass durch die Einführung der Infrastrukturabgabe und der gleichzeitigen Senkung der KfZ-Steuer EU-Ausländer anders als Deutsche behandelt werden würden. Dafür müsste das allgemeine Diskriminierungsverbot zunächst anwendbar sein.

Anmerkung: Beginn der Prüfung mit Diskriminierungsverbot?
Klassischerweise würde man hier mit der Verletzung einer der (spezielleren) Grundfreiheiten beginnen. Dies hat der EuGH nicht getan. Es scheint als habe er mit Blick auf den Aufbau das Allgemeine vor das Spezielle „ziehen“ wollen, um später nach oben verweisen zu können. In der Bearbeitung zeigt man durch die Wahl des Aufbaus, dass man das Urteil kennt. Es ergibt sich aber kein Nachteil wenn man entsprechend des klassischen Aufbaus mit der Prüfung der Warenverkehrsfreiheit beginnt.
1. Anwendbarkeit

Art. 18 AEUV müsste zunächst anwendbar sein.

a) Reichweite des Diskriminierungsverbotes neben den Grundfreiheiten

Das allgemeine Diskriminierungsverbot ist in seiner Reichweite auf die Fälle beschränkt, die nicht ausdrücklich von einer der ausdrücklich genannten Grundfreiheiten umfasst ist, es wird von den spezielleren Grundfreiheiten soweit verdrängt. [2]Michl in Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV 1. Auflage 2017, Art. 18 AEUV Rn. 79 ff.Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist im Bereich der Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 i.V.m. Art. 36 AEUV, im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 45 AEUV und bezüglich des Dienstleistungsverkehrs in Art. 56 und Art. 62 AEUV umgesetzt worden. Der Anwendungsbereich dieser Grundfreiheiten ist jedoch dann nicht eröffnet, wenn eine Fahrt auf Grund eines privaten Anlasses vorgenommen wird. Für private Fahrten verbleibt damit eine Anwendung von Art. 18 AEUV.

b) Grenzüberschreitender Sachverhalt

Der Sachverhalt müsste einen Unionsrechtsbezug aufweisen. Gemäß Art. 90 AEUV ist die EU zur Entwicklung und Durchführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik verpflichtet. Insoweit betrifft die deutsche Regelung also einen Bereich, der dem Europarecht zugeordnet ist. Außerdem ist die private Nutzung von deutschen Bundesstraßen durch Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten zu erwarten. Daraus ergibt sich ein Unionsrechtsbezug.

2. Diskriminierung

Die Einführung der Infrastrukturabgabe könnte eine Diskriminierung darstellen. Eine Diskriminierung ist die Schlechterstellung aufgrund eines Merkmals.[3]Michl in Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV 1. Auflage 2017, Art. 18 AEUV Rn. 6. Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit umfasst nicht bloß unmittelbare Diskriminierungen, sondern auch alle Formen der mittelbaren Diskriminierung, die – unter Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale – zum gleichen Ergebnis führen. [4]EuGH, ECLI:EU:C:2010:181 = NVwZ 2010, NVWZ Jahr 2010 Seite 1141 Rn. NVWZ Jahr 2010 Seite 1141 Randnummer 40 mwN – Bressol ua

a) Diskriminierung durch InfrAG

Zunächst ist festzustellen, dass das InfrAG eine für alle gleichermaßen geltende Pflicht zur Entrichtung der Infrastrukturabgabe vorsieht. Daraus ergibt sich – für sich genommen – keine Diskriminierung von bestimmten Gruppen.

b) (P) Gemeinsame Beurteilung von InfrAG und KfZ-StG

Etwas anderes könnte sich ergeben, wenn man das InfrAG und das KfZ-StG gemeinsam beurteilt. Dafür müssten die beiden Gesetze untereinander einen Zusammenhang aufweisen, der es rechtfertigt, sie gemeinsam zu beurteilen. Dafür spricht, dass beide am selben Tag eingeführt und die Steuerentlastung vom Beginn der Erhebung der Infrastrukturabgabe abhängig gemacht worden ist. Außerdem entspricht die Steuerentlastung, die deutschen Fahrzeughalter*innen zugutekommen soll, exakt dem Betrag, den sie zunächst für die obligatorische Jahresvignette aufwenden müssen. Die Kosten für die Infrastrukturabgabe werden also kompensiert. Zwischen den beiden Gesetzen besteht ein Zusammenhang und eine Abhängigkeit. Betrachtete man sie getrennt, würde das Zusammenspiel der Maßnahmen unbeachtet bleiben. Es besteht eine derartig enge Verbindung, dass eine gemeinsame Betrachtung angezeigt ist.

Anmerkung: Lösungsentscheidender Punkt
Dieser Punkt ist zentral. Betrachtet man die beiden Maßnahmen unabhängig voneinander, wie es die Kommission getan hat, kommt man zu einem anderen Ergebnis.
c) Diskriminierung durch InfrAG und KfZ-StG

Die beiden Gesetze zusammengenommen könnten Fahrzeughalter*innen von im EU-Ausland zugelassenen Fahrzeugen diskriminieren. Eine unmittelbare Diskriminierung scheidet aus, da das Gesetz die Ungleichbehandlung nicht an die Staatsangehörigkeit knüpft. Es könnte aber eine mittelbare Diskriminierung vorliegen, wenn die Anknüpfung an ein anderes Merkmal zu dem gleichen Ergebnis führt.

Hier wird nicht bei der Erhebung der Infrastrukturabgabe unterschieden, aber nur Fahrzeughalter*innen von in Deutschland zugelassenen PKW kommt die Steuerentlastung in der Höhe zugute, die sie zuvor aufwenden mussten. De facto tragen also nur Fahrzeughalter*innen und -führer*innen von Fahrzeugen, die in einem anderen Land als Deutschland zugelassen wurden die zusätzlichen Einnahmen. Dem könnte man entgegen halten, dass Nutzer*innen von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen die volle Jahresgebühr entrichten müssen. Dadurch wird jedoch wegen der vollständigen Kompensation kein zusätzliches Einnahmenaufkommen generiert.

Deutsche müssen jedoch weiterhin die KfZ-Steuer zahlen. Dabei handelt es sich aber um einen nicht-zweckgebundenen Beitrag, der in den allgemeinen Haushalt fließt. Ein Ausgleich für die Schlechterstellung von Ausländern liegt darin nicht. Obwohl sich alle Fahrzeuge in der gleichen Situation befinden, werden die Halter*innen der Fahrzeuge unterschiedlich behandelt, je nachdem wo das Fahrzeug zugelassen wurde.

Die Regelung knüpft nicht offensichtlich an die Staatsangehörigkeit an. Da Fahrer*innen und Halter*innen von Fahrzeugen, ihr Auto oft am Ort ihres Wohnsitzes zulassen, kann man davon ausgehen, dass die Fahrzeughalter*innen und -fahrer*innen von nicht in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen zumindest mehrheitlich keine deutschen Staatsangehörigen sind. Demnach wird im Ergebnis in den meisten Fällen Deutschen eine andere Behandlung zu Teil als Nichtdeutschen. Darin liegt eine mittelbare Diskriminierung.

3. Rechtfertigung

Die Diskriminierung könnte gerechtfertigt sein. Eine Rechtfertigung der Diskriminierung ist möglich, wenn sie auf objektiven von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck steht, der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgt wird. [5]Michl in Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV 1. Auflage 2017, Art. 18 AEUV Rn. 28 ff.

a) Umweltschutz

Zunächst könnte sich eine Grundlage für die Rechtfertigung aus Gesichtspunkten des Umweltschutzes ergeben. Der Umweltschutz stellt zunächst ein legitimes Ziel zur Rechtfertigung einer Diskriminierung dar.[6]EuGH, ECLI:EU:C:2014:218 = BeckRS 2014, BECKRS Jahr 81333 Rn. BECKRS Jahr 2014 Randnummer 36 mwN – Kommission/Spanien Fraglich ist jedoch in welcher Form durch die Erhebung der Infrastrukturabgabe von Fahrzeugen, die nicht in Deutschland zugelassen wurden, die Umwelt geschützt wird. Während die Einführung einer Infrastrukturabgabe durchaus dazu führen kann, dass wegen der höheren Kosten Menschen vermehrt öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Darin liegt aber kein Grund für eine Unterscheidung zwischen in Deutschland und nicht in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen. Eine Rechtfertigung der Diskriminierung aufgrund des Umweltschutzes scheidet demnach mangels Geeignetheit aus.

b) (P) Rechtfertigung aufgrund eines Systemwechsels

Eine Rechtfertigung könnte sich jedoch daraus ergeben, dass Deutschland von einem steuerfinanzierten auf ein nutzerfinanziertes Modell umsteigen will. Die Art und die Modalitäten der Finanzierung der Infrastruktur steht den Mitgliedsstaaten frei.[7]EuGH Urt. v. 18.6.2019 – C-591/17, NJW 2019, 2369, 2371, Rn. 60. Es erschließt sich, dass Personen, die die Straßen nutzen, an deren Finanzierung beteiligt werden sollen. Ob darin ein legitimes Ziel für eine Diskriminierung liegt, kann jedoch offen bleiben, wenn die Maßnahmen nicht geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen.

Die Maßnahmen müssten also geeignet sein, die Erreichung des Ziels zu fördern. Hier werden alle Nutzerinnen und Nutzer von Bundesstraßen verpflichtet die Infrastrukturabgabe abzuführen. Allerdings wird Fahrer*innen und Halter*innen von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen die Nutzungsgebühr in voller Höhe erstattet. Damit ändert sich für Fahrer*innen und Halter*innen von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen nichts. Es erschließt sich nicht, wie der Wechsel zu einer nutzungsbasierten Finanzierung vollzogen werden soll, indem (im Ergebnis) ausschließlich Fahrer*innen und Halter*innen von ausländischen Fahrzeugen eine nutzungsabhängige Gebühr entrichten.

Außerdem müssen deutsche Fahrer*innen und Halter*innen die Infrastrukturabgabe unabhängig von einer tatsächlichen Nutzung entrichten. Es ist auch nicht möglich eine der zeitlich begrenzten Vignetten zu erwerben. Demnach liegt in Bezug auf deutsche Fahrzeuge keine nutzungsbasierte Gebühr vor.

Dies beides legt den Schluss nahe, dass ausschließlich eine Nutzungsgebühr von Fahrer*innen und Halter*innen von im Ausland zugelassenen Fahrzeugen erhoben, aber kein Wechsel in der Art der Finanzierung vollzogen werden sollte.

Der InfrAG und dem KfZ-StG liegt damit kein kohärentes System zu Grunde, dass einen Umstieg von der Steuerfinanzierung auf die Nutzerfinanzierung nahelegt.

c) Ergebnis: Rechtfertigung

Die Diskriminierung ist nicht gerechtfertigt.

4. Ergebnis

Das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV ist verletzt.

II. Verstoß gegen Warenverkehrsfreiheit

Außerdem könnte durch die Maßnahmen die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV verletzt sein.

1. Anwendbarkeit

Dafür müsste die Warenverkehrsfreiheit zunächst anwendbar sein. Eine vollkommene Harmonisierung ist nicht ersichtlich. Es sind Sachverhalte denkbar, bei denen im Ausland zugelassene Fahrzeuge auf deutschen Bundesstraßen genutzt werden, um Waren über Mitgliedsstaatsgrenzen hinweg zu transportieren. Es besteht ein Unionsrechtsbezug.

2. Schutzbereich

Der Schutzbereich von Art. 34 AEUV müsste eröffnet sein. Dieser umfasst sog. EU-Waren, Art. 28 Abs. 2 AEUV, also alle körperlichen Gegenstände, die einen Geldwert haben, Gegenstand rechtmäßiger Handelsgeschäfte sein können und die entweder in einem Mitgliedsstaat produziert werden oder sich in einem Mitgliedsstaat im freien Verkehr befinden.[8]EuGH, Urt. v. 10. 12. 1968, Rs. 7/68 (Kommission/Italien (Kunstschätze), Slg. 1968, 617; EuGH, Urt. v. 14. 7. 1977, Rs. 1/77 (Bosch GmbH/Hauptzollamt Hildesheim), Slg. 1977, 1473 Rn. 4.

Die hier zu betrachtenden Maßnahmen beziehen sich jedoch nicht unmittelbar auf solche Waren. Allerdings muss eine Person, die Waren von einem Mitgliedsstaat in einen anderen bringt, die Infrastrukturabgabe entrichten, wenn dies in einem Fahrzeug bis 3,5 Tonnen Gewicht passiert. Die Regelungen können also eine den Warenverkehr beeinträchtigende Wirkung bei der Nutzung deutscher Bundesstraßen mit einem nicht in Deutschland zugelassenen Fahrzeug entfalten.

3. Eingriff

Verboten ist die mengenmäßige Beschränkung der Einfuhr von Waren und Maßnahmen mit gleicher Wirkung, Art. 34 AEUV. Maßnahmen gleicher Wirkung sind nach der Dassonville-Formel Maßnahmen, die geeignet sind, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.[9]EuGH, Urt. v. 11. 7. 1974, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 837

Hier werden, wie oben, die beiden Maßnahmen (InfrAG und KfZ-StG) zusammen betrachtet. Die Maßnahmen können zu einer Beschränkung führen, wenn Waren mit einem PKW mit einer Zulassung im Ausland über deutsche Bundesstraßen transportiert werden. Durch die Abführung der Infrastrukturabgabe werden die Transportkosten höher, was zu einem höheren Warenpreis führt. Da Fahrer*innen und Halter*innen von deutschen Fahrzeugen, die Infrastrukturabgabe erstattet bekommen, verbleiben die höheren Kosten nur bei Fahrer*innen und Halter*innen von ausländischen Fahrzeugen. Der Marktzugang wird für Fahrer*innen und Halter*innen von ausländischen Fahrzeugen erschwert. Eine Maßnahme gleicher Wirkung liegt vor.

Anmerkung: Standpunkt Generalanwalt Wahl
Während der Generalanwalt die Auswirkungen für „nur hypothetisch“ und „zu unbeachtlich“ hielt,[10]GA Wahl, SchlA v. 6.2.2019, EUGH Aktenzeichen C-591/17, ECLI:EU:C:2019:99 Tz. 121-124 ließ der EuGH dies ausreichen.

Etwas anderes würde jedoch dann gelten, wenn es sich hierbei lediglich um eine Verkaufsmodalität und nicht um eine produktbezogene Regelung handelte (Keck-Formel). Verkaufsmodalitäten sind Regelungen, die die Art und Weise regeln, in der Waren vermarktet und verkauft werden können. [11]EuGH, Urt. v. 24. 11. 1993, verb. Rs. C–267/91 u. C–268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I–6097. Hier geht es um die Beförderung der Ware. Es handelt sich damit nicht um eine Verkaufsmodalität. Es liegt ein Eingriff in den Schutzbereich vor.

Vernetztes Lernen: Dassonville & Keck
Wenn es sich nicht um eine Verkaufsmodalität handelt, ist die Regelung automatisch produktbezogen. Schließlich handelt es sich bei der Keck-Formel um eine Ausnahme von der generellen Regel der Dassonville-Entscheidung.
Außerdem: Die Grundsätze aus der Dassonville-Entscheidung und der Keck-Rechtsprechung sind auch in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit anerkannt.
4. Rechtfertigung

Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Eine Maßnahme gleicher Wirkung kann aus den in Art. 36 AEUV genannten Gründen gerechtfertigt sein, wenn die Maßnahme zur Erreichung des Ziels geeignet und verhältnismäßig ist.

Die von Deutschland vorgebrachten Rechtfertigungsgründe (Umweltschutz, Umstellung auf ein nutzungsfinanziertes System) scheiden, nach dem oben Gesagten, jedenfalls mangels Geeignetheit aus. Eine andere Rechtfertigung ist nicht ersichtlich.

5. Ergebnis

Mangels Rechtfertigung ist der Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit unionsrechtswidrig.

III. Dienstleistungsfreiheit

Außerdem könnte die Dienstleistungsfreiheit verletzt sein.

1. Anwendbarkeit

Diese müsste zunächst anwendbar sein. Gem. Art. 57 AEUV tritt die Dienstleistungsfreiheit hinter die anderen Freiheiten zurück, wenn die Dienstleistungsfreiheit nicht in besonderer Weise betroffen ist. Während z.B. der gewerbliche Transport von gekauften Waren vom Anwendungsbereich von Art. 34 AEUV umfasst ist, bleiben andere Nutzungen der vignettenpflichtigen Straßen denkbar, in denen die Warenverkehrsfreiheit nicht, aber die Dienstleistungsfreiheit betroffen ist.

Vernetztes Lernen: Spezielle Subsidiarität der Dienstleistungsfreiheit

Es handelt sich bei Art. 57 AEUV, wie hier deutlich zu sehen ist, nicht um eine generelle Subsidiaritätsklausel. Art. 57 AEUV bleibt insoweit anwendbar, als ein Anwendungsbereich verbleibt, der nicht von den anderen betroffenen Grundfreiheiten erfasst ist. Etwas anderes gilt jedoch, ähnlich wie bei deutschen Grundrechten, wenn die Dienstleistungsfreiheit völlig hinter die anderen betroffenen Grundfreiheiten zurücktritt und mitumfasst ist.

2. Schutzbereich

Der Schutzbereich von Art. 56 AEUV müsste eröffnet sein.

a) Sachlicher Schutzbereich

Sachlich umfasst der Schutzbereich jede selbstständig und vorübergehend ausgeführte Leistung nicht-körperlicher Art, die in der Regel gegen ein Entgelt erbracht wird. Häufig werden Kraftfahrzeuge nötig sein, um Termine wahrzunehmen – entweder für diejenigen, die die Leistung in einem anderen Staat wahrnehmen (passive Dienstleistungsfreiheit) oder wenn diese in einem anderen Mitgliedsstaat angeboten werden soll. Damit ist der sachliche Schutzbereich betroffen.

b) Grenzüberschreitender Sachverhalt

Es müsste auch ein grenzüberschreitender Bezug bestehen. Hinsichtlich der aktiven Dienstleistungsfreiheit, wenn also der Leistende sich zum Empfänger der Dienstleistung begibt, ist ein grenzüberschreitender Bezug denkbar. Das gleiche gilt bezüglich der passiven Dienstleistungsfreiheit, wenn der Empfänger den Leistenden also aufsucht. In beiden Fällen könnte es zu einem grenzüberschreitenden Bezug kommen.

c) Persönlicher Schutzbereich

Vom persönlichen Schutzbereich von Art. 56 AEUV sind alle Unionsbürger, Art. 9 S. 2 EUV, 20 I S. 2 AEUV und alle Gesellschaften, die nach dem Recht der Mitgliedsstaaten gegründet wurden und in einem MS ihren Sitz haben, Art. 62 i.V.m. Art.54 AEUV, umfasst.

d) Zwischenergebnis

Der Schutzbereich ist eröffnet.

3. Beschränkung

Nach den oben dargelegten Erkenntnissen ist eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit anzunehmen, da für die an einer Dienstleistung Beteiligten höhere Kosten entstehen, wenn sie ein nicht in Deutschland zugelassenes Fahrzeug nutzen.

4. Rechtfertigung

Auch hier können die von der Bundesregierung angeführten Gründe für eine Rechtfertigung nicht überzeugen.

IV. Ergebnis

InfrAG und KfZ StG verstoßen damit gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot, die Warenverkehrs- und die Dienstleistungsfreiheit.

C. Ergebnis

Die Klage Österreichs hat Aussicht auf Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.


Zusatzfragen

Ist eine Inländerdiskriminierung zulässig?
Eine Inländerdiskriminierung liegt vor, wenn eine nationale Vorschrift eine bestimmte Tätigkeit, Verhaltensweise o.ä. verbietet, die gegen die EU Grundfreiheiten verstößt und damit für EU-Ausländer erlaubt ist. Auch dort, wo sie vom nationalen Recht verboten wird. Z.B. galt in Deutschland in der Vergangenheit ein Verbot für Margarine Produkte so verpackt zu werden, wie Butter, um Verwechslungen zu vermeiden. Für europäische Anbieter von Margarine, die in Deutschland ihre Margarine verkauften, galt dieses Verbot nicht, da darin eine Maßnahme gleicher Wirkung i.S.v. Art. 34 AEUV liegt. Das Beschränkungsverbot findet jedoch bei rein innerstaatlichen Sachverhalten keine Anwendung. Somit war es den deutschen Anbietern verboten Margarine wie Butter zu verpacken, EU-ausländischen Anbietern war es erlaubt.

Die Inländer können sich gegenüber dem deutschen Staat in diesem Fall nicht auf Art. 3 GG berufen, da die Regelungen von unterschiedlichen Normsetzern erlassen wurden – und Art. 3 GG nur einen Gleichbehandlungs“anspruch“ gegenüber dem gleichen Träger begründet. Allerdings zeigen die europarechtlichen Regelungen häufig auf, dass die Rechtfertigung eines Eingriffs in Freiheitsrechte (aus dem Grundgesetz) – wie z.B. im obigen Beispiel die Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit – nicht mehr geeignet sind (eine Verwechslungsgefahr besteht jetzt „so oder so“). Eine Inländerdiskriminierung ist dementsprechend im Einzelfall unzulässig – politisch wird sie nach Möglichkeit vermieden. Das noch heute relevanteste Beispiel zeigt sich an der Notwendigkeit der Ablegung einer Meisterprüfung in Deutschland, um bestimmte Betriebe führen zu dürfen. Dieses Modell kennt man in fast keinem anderen Mitgliedsstaat. Um hier einen Ausgleich zu finden, muss eine Prüfung zum Nachweis der Kenntnisse abgelegt werden. Auf welche Ausnahme von der Niederlassungsfreiheit wird diese wohl gestützt?


Zusammenfassung:

1. Zwei Maßnahmen können gemeinsam beurteilt werden, wenn ein gemeinsamer Wirkungsinhalt besteht. Anhaltspunkte dafür sind eine Verbindung der beiden Maßnahmen in inhaltlicher Hinsicht, aber auch z.B. die Verabschiedung am selben Tag.

2. Eine mittelbare Diskriminierung kann vorliegen, wenn de facto zusätzliche Kosten nur für Nichtdeutsche erhoben werden. Dafür reicht es aus, wenn bei einer unterschiedslos wirkenden Zahlungspflicht, die aufzubringenden Beträge an anderer Stelle kompensiert werden.

3. Die Rechtfertigung einer Diskriminierung kann erreicht werden, wenn ein legitimes Ziel verfolgt wird und die Maßnahmen geeignet sind dieses Ziel zu erreichen. Dafür müssen die Maßnahmen zunächst ein konsistentes System ergeben.

4. Rechtspolitisch zeigt der Ablauf des Verfahrens, dass der EuGH zwar oft, aber eben nicht immer den Schlussanträgen des Generalanwalts folgt.

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