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Hoffnungslos und einsam in der Fremde

BGH, Beschluss v. 12.7.2023 – 6 StR 231/23, NStZ 2023, 675

Sachverhalt

A bewohnt mit ihrem Ehemann B und der gemeinsamen drei Monate alten Tochter T ein Zimmer in einer Asylbewerberunterkunft. A fühlt sich in letzter Zeit zunehmend allein gelassen, einsam und hilflos. Als es ihr in einem solchen Moment schließlich zu viel wird, tötet sie das gemeinsame Kind mit mehreren Messerstichen. Zum Tatzeitpunkt hält sich B von dem Gebäude, in dem sich das von der Familie bewohnte Zimmer befindet, etwa 360 Meter entfernt im Außenbereich des Geländes auf.  

Wie hat sich A strafbar gemacht? Ggf. erforderliche Strafanträge gelten als gestellt.


Skizze

Gutachten

A. Strafbarkeit gem. § 212 I StGB

Indem A ihre Tochter T mit mehreren Messerstichen tötete, verwirklichte sie kausal und zurechenbar den objektiven Tatbestand des Totschlags. Dabei handelte sie auch vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft.

B. Strafbarkeit gemäß §§ 212 I, 211 II Gr. 2, Var. 1 StGB 

A könnte darüber hinaus wegen Mordes nach §§ 212 I, 211 II Gr. 2, Var. 1 StGB strafbar sein.

I. Objektiver Tatbestand

T ist durch die von A ausgeführten Stiche tödlich verletzt worden. Als objektives Mordmerkmal kommt zunächst Heimtücke gemäß § 211 Abs. 2 StGB in Betracht. Diese setzt das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit voraus.[1]BGHSt 32, 382, 383; BGH NJW 1991, 1963.; BGH NStZ 2009, 569. Arglos ist, wer zum Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit Gefahr für Leib oder Leben vonseiten des Täters rechnet.[2]Rengier, StR BT II, 24. Aufl. 2023, § 4 Rn. 51. Wehrlos ist, wer aufgrund dieser Arglosigkeit in seiner Verteidigung wesentlich eingeschränkt ist. Zusätzlich muss bei der Wehrlosigkeit die konstitutionelle Fähigkeit des Opfers, dem Angriff gegen sein Leben entgegenwirken zu können, vorliegen.[3]BGH NStZ 2009, 569, 570; Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 211 Rn. 39.

Anmerkung: Definition Heimtücke
In gängigen Lehrbuch-Definitionen findet sich der Einschub „in feindseliger Willensrichtung“. In seiner jüngsten Entscheidung hat der BGH diese Figur weitestgehend aufgegeben. Für eine ausführliche Diskussion[4]BeckOK StGB/Eschelbach, 60. Ed., 01.02.2024, § 211 Rn. 55.1f. mwN. im Gutachtenstil siehe den Fall: Das Leid der Welt sollst du nicht ertragen.

Auf die Arg- und Wehrlosigkeit des Kindes T kann hier grundsätzlich nicht abgestellt werden. Babys und Kleinkinder sind bis zu einem Alter von ca. drei Jahren noch nicht fähig, Argwohn zu hegen,[5]BGH NStZ 2006, 338 (339); BGH NStZ 2013, 158; Vgl. auch Bohnhorst/Skeries, StV 2014, 340 (341); Eser/Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 211 Rn. 25 c. da diese nicht die nötige Verstandesreife besitzen, um zu verstehen, dass jemand sie töten möchte.[6]BGHSt 3, 330 (332); BGH NStZ 1993, 341; BGH NStZ 1995, 230; BGH NStZ 2006, 338 (339).

Vernetztes Lernen: Wann macht die Rechtsprechung eine Ausnahme und nimmt die Fähigkeit zum Argwohn auch bei Kleinkindern an?
Im sogenannten Babybrei-Fall bejahte der BGH eine Argwohnfähigkeit des Kleinkindes. Der Täter hatte in diesem Fall bittere Schlafmedikamente in den süßen Brei gemischt, um ein Ausspucken zu verhindern.[7]BGHSt 8, 216 (218); BeckOK StGB/Eschelbach, 60. Ed.; Stand: 01.02.2024, § 211 Rn. 48. Dadurch konnten die natürlichen Abwehrinstinkte des Kindes „ausgetrickst“ und ausgeschaltet werden. Der Bundesgerichtshof bejahte somit das Mordmerkmal der Heimtücke und stellte unmittelbar auf das Kind ab.[8]BGHSt 8, 216 (216f.). Die Entscheidung des BGH, dass die Heimtücke dann anzunehmen ist, wenn der Täter die natürlichen Abwehrinstinkte des Kindes ausschaltet, ist eine grundsätzlich einleuchtende Ausnahme.
Allerdings wird in der Literatur argumentiert, dass es unangemessen sei, eine Tat allein aufgrund des Geschmacks einer Substanz, die einem Kind verabreicht wird, als Mord zu kennzeichnen.[9]NK/Neumann, StGB, Bd. 2, 6. Aufl. 2023, § 211 Rn. 58. Die Abwehrinstinkte hätten per se nichts mit dem Argwohn zu tun.[10]Fahl, JA 1999, 284 (286); Kett-Straub, JuS 2007, 515 (520). Zudem beruhe das Verhalten des Kleinkindes (z.B. Ausspucken vergifteter Nahrung) nicht auf eigener Kraftentfaltung, sondern lediglich auf einem Reflex oder Automatismus.[11]Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. 2023, § 211 Rn. 9. Angenommen, der Babybrei hätte einen bitteren Geschmack und das Gift wäre süß, dann müssten gerade keine Abwehrinstinkte des Kindes überwunden werden.

Siehe hierzu auch den Babygläschen-Fall.

Stattdessen wird auf die Arg-und Wehrlosigkeit eines im Hinblick auf das Kind schutzbereiten Dritten abgestellt. Darunter ist jede Person zu verstehen, die den Schutz des Kindes vor Leib- oder Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diese im Tatzeitpunkt entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut oder von ihm ausgeschaltet wurde.[12]BGH NStZ-RR 2020, 313 (314). Als schutzbereiter Dritter kommt vorliegend der Vater B in Betracht. 

Einerseits kann man mit der Rechtsprechung davon ausgehen, dass zwar nicht vorauszusetzen ist, dass der schutzbereite Dritte unmittelbar zugegen ist, aber eine gewisse räumliche Nähe unerlässlich ist.[13]BGHSt 8, 216, 219; BGH NStZ 2015, 215. An diesem Erfordernis fehle es jedenfalls dann, wenn aufgrund der räumlichen Entfernung vom Tatort der tödliche Angriff schon gar nicht wahrgenommen werden kann und eine Gegenwehr des Dritten auch deshalb zu spät käme, weil hierfür erst eine erhebliche räumliche Distanz überwunden werden müsste.[14]BGH NStZ 2023, 675 Rn. 7; BGH NStZ 2015, 215. B hätte danach an seinem Standort im Außenbereich des Geländes, der sich 360 Meter von der Unterkunft entfernt befand, gar nicht die Möglichkeit gehabt, einen Angriff auf T – etwa einen Schrei nach einer ersten Verletzung – wahrzunehmen. Demnach kann nicht angenommen werden, dass B im Zeitpunkt des Angriffs auf das Leben des Kindes „schutzbereiter Dritter“ gewesen ist. Danach scheidet eine heimtückische Tötung aus.

Andererseits erscheint das alleinige Abstellen auf die räumliche Nähe, um die Eigenschaft als schutzbereiten Dritten zu begründen, problematisch. Denn es würde zu dem Ergebnis führen, dass der Täter, wenn er das Kind im Beisein eines schutzbereiten Dritten tötet und die Tötung dadurch komplizierter ist, da der schutzbereite Dritte vermutlich versucht, die Lebensgefahr für das Kind abzuwehren, wegen Heimtückemordes bestraft werden kann. Derjenige Täter aber, der bewusst auf die Entfernung des schutzbereiten Dritten wartet und sich damit die Tatbegehung erleichtert, da kein Dritter zugegen ist, der den Angriff abwehren kann, hingegen nicht wegen Heimtückemordes bestraft werden kann. Dies ist insofern problematisch, als sich der Täter bewusst der Strafbarkeit wegen heimtückischen Mordes entziehen könnte, indem er die Tat erst ausführt, wenn der schutzbereite Dritte nicht mehr zugegen ist.[15]Jäger JA 2023, 872 (873f.). Dies führt zu einer Perspektivenverschiebung vom Opfer auf den schutzbereiten Dritten, was nicht in das Schema passt, mit dem der erhöhte Unrechtsgehalt der Heimtücketötung sonst begründet wird. In allen Fällen, in denen es bei der Heimtückebestimmung nicht um die Problematik des schutzbereiten Dritten geht, wird auf das betroffene Opfer abgestellt, das wegen des Überraschungsmoments keinerlei Abwehrmöglichkeiten hat und deshalb arg- und wehrlos ist.[16]Jäger JA 2023, 872 (874). Im Ergebnis sei die Annahme des Heimtückemerkmals bei schutzbereiten Dritten bei verringerten Verteidigungsmöglichkeiten – ganz gleich welche Entfernung der Dritte zum Kleinkind hat – eine stimmigere Lösung.[17]Jäger JA 2023, 872 (874). A tötet T in dem Moment als B als potentiell schutzbereiter Dritter nicht in der Nähe ist. In dubio pro reo muss allerdings davon ausgegangen werden, dass hierin kein bewusstes Ausnutzen der Situation besteht, sondern die Tötung vielmehr aus dem Affekt heraus passiert ist. 

Im Ergebnis scheidet demnach eine heimtückische Tötung aus.

Vernetztes Lernen: Unterstellt, das Mordmerkmal der Heimtücke wäre trotzdem anzunehmen. Wie könnte man dennoch der Situation der A Rechnung tragen?
Die Ausnahmesituation der A, die sich einsam in einem fremden Land fühlte, gibt Anlass, sich mit restriktiven Einschränkungen des objektiven Tatbestandes zu befassen.

Diese Einschränkungen im objektiven Tatbestand werden von einem Teil der Lehre gefordert, um die Rechtsfolge der lebenslangen Freiheitsstrafe in Ausnahmefällen zu vermeiden.
Nach der Lehre von der negativen Typenkorrektur setzt Mord zwar immer voraus, dass eines der in § 211 Abs. 2 StGB genannten Merkmale erfüllt ist. Diese sollen jedoch nur eine Indizwirkung haben. Der Mordvorwurf könne daher bei allen Mordmerkmalen wieder entfallen, wenn die Tötung aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters und der Tatumstände ausnahmsweise nicht als besonders verwerflich erscheint. Vorliegend könnte eine Tötungsmotivation aus Überforderung zumindest menschlich nachvollziehbar sein, sodass eine besondere Verwerflichkeit abzulehnen wäre.

Nach der Lehre vom verwerflichen Vertrauensbruch ist eine Tötung nur dann heimtückisch, wenn durch die Tötung ein besonders verwerflicher Vertrauensbruch begangen wird. Heimtückische Tötungen wären danach nur in persönlichen Näheverhältnissen denkbar, was hier gegeben war.
Die von der Lehre geforderten tatbestandlichen Beschränkungen des Heimtücke-Merkmals sind jedoch insbesondere im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) abzulehnen.

Auch der BGH hält bei Tötungen in einer besonderen Konfliktlage nur eine Berücksichtigung des geminderten Schuldgehalts auf Strafzumessungsebene für möglich, sofern außergewöhnliche Umstände vorliegen. So kann in Heimtückefällen auf der Rechtsfolgenseite des Mordes an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB treten, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern. Solche sind z.B. notstandsbezogene, ausweglos erscheinende Situationen, tiefes Mitleid, große Verzweiflung, gerechter Zorn, schwere Provokation, vom Opfer verursachter und ständig neu angefachter zermürbender Konflikt sowie schwere Kränkungen des Täters durch das Opfer.

Anmerkung: Weiterer Fälle zum Mordmerkmal Heimtücke

Für weitere Fälle mit ausführlicher Ausführung zu weiteren Sonderkonstellationen des Mordmerkmals Heimtücke siehe den Fall Heimtücke eines Erpressten und den heimtückischen Fallensteller.

II. Zwischenergebnis

A hat nicht heimtückisch gehandelt. Da auch kein anderes Mordmerkmal in Betracht kommt, scheidet eine Strafbarkeit wegen Mordes aus.

C. Gesamtergebnis

A hat sich gemäß § 212 I StGB wegen Totschlags strafbar gemacht.


Zusatzfragen

In einer anderen Familientragödie hat D seinen Sohn S heimtückisch und aus Habgier getötet, da dieser hinter die Machenschaften (Steuerhinterziehung) von D gekommen war. D ist 63 Jahre alt, verheiratet und lebt mit seiner Ehefrau in einem kleinen Einfamilienhaus. Er bezieht ein nicht allzu üppiges Gehalt als Geschäftsführer seines Familienbetriebs. Seine zukünftige Rente wird er in etwa in derselben Höhe erhalten. 

Der zuständige Ermittlungsrichter E erlässt gegen D auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl. Er begründet den Haftbefehl damit, dass D bisher nicht gestanden hätte und bei fehlendem Geständnis der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr vorläge. Zudem begründe in Fällen besonders hoher Straferwartung, wie insbesondere wegen hoher Mindeststrafe und erforderlicher Generalprävention bei Mord, in der Regel bereits die Straferwartung allein die Fluchtgefahr. Bei der erforderlichen Einzelfallprüfung bedürfe es zur Begründung der Fluchtgefahr keines weiteren Nachweises zusätzlich zur Straferwartung hinzutretender Umstände, sondern umgekehrt nur der Prüfung, ob in besonders gelagerten Ausnahmefällen die indizierte Fluchtgefahr ausgeschlossen werden kann. Zudem begründe der zusätzlich im Raum stehende Vorwurf der Steuerhinterziehung Verdunkelungsgefahr. Im Übrigen sei bei bestimmten Straftaten ohnehin kein Haftgrund erforderlich.

1. Kann mit dieser Begründung Untersuchungshaft angeordnet werden?
a) Es stellt sich zunächst die Frage, ob der Haftbefehl aufgrund einer Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO) erlassen werden könnte, da ein Geständnis fehlt und eine hohe Straferwartung besteht. Fluchtgefahr besteht grundsätzlich, wenn Umstände des Falles es wahrscheinlicher erscheinen lassen, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entzieht, als dass er sich dafür bereithält. Ein fehlendes Geständnis allein rechtfertigt nicht die Annahme von Fluchtgefahr und somit auch nicht den Haftbefehl. Dieser Umstand begründet keine Verdunkelungsgefahr, da der Beschuldigte nicht verpflichtet ist, sich zur Sache zu äußern (nemo tenetur-Grundsatz). In der Praxis wird dieser Haftgrund jedoch häufig missbraucht, da ein Geständnis in der Regel dazu führt, dass die Verdunkelungsgefahr verneint wird. Ein Geständnis ist jedoch problematisch, da es widerrufen werden kann und dessen Beweiswert gerade unter dem Druck der U-Haft zweifelhaft ist.
Die Höhe der Straferwartung allein kann nicht ausschlaggebend sein, um die Fluchtgefahr zu begründen. Sie ist nur ein Indiz für bestehende Anreize zur Flucht. Je höher jedoch die Straferwartung ist, desto weniger Gewicht soll auf weitere Umstände gelegt werden, um die Fluchtgefahr zu begründen. Einige Gerichte nehmen im Einklang mit der herrschenden Lehre an, dass bei sehr hoher Straferwartung nur in Ausnahmefällen auf zusätzliche Umstände eingegangen werden muss. Dadurch wird jedoch nur aufgrund der Höhe der Straferwartung de facto eine Fluchtvermutung aufgestellt, wodurch die Beweislast umgekehrt und somit die Unschuldsvermutung verletzt wird. Für alle Fälle kann kein entsprechender Erfahrungssatz gleichermaßen postuliert werden. Gerade im vorliegenden Fall (mittleres Einkommen, fester Wohnsitz, Familie, Alter etc.) erscheint die Annahme von Fluchtgefahr zweifelhaft.

b) Der Vorwurf der Steuerhinterziehung könnte eine Verdunkelungsgefahr nahelegen, da diese Straftat im betrieblichen Bereich per se auf Irreführung und Verschleierung (z.B. in der Bilanz) angelegt ist. Verdunkelungsgefahr würde vorliegen, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen das Verhalten des Beschuldigten den Verdacht nahelegt, dass er in prozessordnungswidriger, unlauterer Weise auf sachliche oder persönliche Beweismittel einwirkt und dadurch die Ermittlung der Wahrheit gefährdet. Es genügt, dass die Tatsachen mit derselben Wahrscheinlichkeit wie beim Tatverdacht und den anderen Haftgründen vorliegen (d.h. eine hohe Wahrscheinlichkeit und damit dringender Tatverdacht). Es ist umstritten, ob allein aus der verfolgten Tat, wenn diese ihrer Natur nach auf Irreführung und Verschleierung angelegt ist (z. B. Betrug, Bestechung, gewerbsmäßige Hehlerei, Urkundenfälschung, organisierte Kriminalität), auf Verdunkelungsgefahr geschlossen werden darf. Jedoch spricht die strikte Trennung von Haftgrund und dringendem Tatverdacht dagegen, da ein gesetzeswidriger Haftgrund der Tatbegehung geschaffen würde, wenn der Haftgrund aus dem Tatverdacht geschlossen wird.

c) Wenn der anordnende Richter feststellt, dass kein Haftgrund vorliegen müsse, nimmt er auf § 112 Abs. 3 StPO Bezug. Hier steht der Vorwurf des Mordes im Raum. Gemäß § 112 Abs. 3 StPO ist die Anordnung von U-Haft für bestimmte Taten auch ohne Vorliegen eines Haftgrundes möglich. Die Vorschrift verstößt gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da es unzulässig ist, gegen einen Tatverdächtigen, bei dem weder Flucht- noch Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr besteht, einen Haftbefehl zu erlassen. Daher ist eine verfassungskonforme Auslegung von Absatz 3 erforderlich. Dieser Paragraph dient lediglich als Erleichterung für die Beweisführung und entbindet nicht von der Pflicht, konkrete Tatsachen vorzulegen. Im vorliegenden Fall bestehen keine Anhaltspunkte für Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr, weshalb eine Untersuchungshaft allein auf Basis von § 112 Abs. 1 StPO unverhältnismäßig wäre.

2. Welche Rechtsbehelfe hat D gegen den Haftbefehl und welche formellen Voraussetzungen haben diese?
D hat zunächst auf Antrag (§ 117 StPO) die Möglichkeit der Haftprüfung. Der Antrag führt zur richterlichen Prüfung, ob der Haftbefehl aufzuheben oder der Vollzug auszusetzen ist. Ein Anspruch auf mündliche Verhandlung besteht nur nach Ablauf von zwei Monaten nach der letzten mündlichen Verhandlung und wenn die Untersuchungshaft drei Monate gedauert hat (§ 118 Abs. 3 StPO).
Das Rechtsmittel der Haftbeschwerde ist subsidiär (§ 117 Abs. 2 S. 1 StPO) und wird
nicht neben einer Haftprüfung durchgeführt. Eine Haftbeschwerde kann nur einmal gegen einen Haftbefehl eingelegt werden. Wie bei jeder Beschwerde gegen richterliche Entscheidungen kann der Richter abhelfen oder dem Beschwerdegericht vorlegen (§ 306 StPO). Das Beschwerdegericht ist die Strafkammer, gegen deren Entscheidung die weitere Beschwerde an das OLG zulässig ist (§ 310 StPO). Bei einem Antrag auf Haftverschonung besteht eine Zuständigkeit nach § 126 StPO.

Zusammenfassung

1. Ein Kleinkind ist aufgrund seines Alters noch nicht zu Argwohn und Gegenwehr fähig. Daher kommt es bei der Tötung eines Kleinkindes für die Frage der Heimtücke in der Regel auf die Arg- und Wehrlosigkeit eines im Hinblick auf dieses Kind schutzbereiten Dritten an. In Ausnahmefällen wird durch die Rechtsprechung die Fähigkeit zum Argwohn von Kleinkindern angenommen.

2. Der potenziell schutzbereite Dritte muss den Schutz für ein Kleinkind wirksam erbringen können, wofür nach der Rechtsprechung eine gewisse räumliche Nähe erforderlich ist. Eine Gegenstimme stellt auf die verringerten Verteidigungsmöglichkeiten des potenziell schutzbereiten Dritten – unabhängig von der räumlichen Nähe – ab.

3. Die „räumliche Nähe“ besteht aber jedenfalls dann nicht, wenn aufgrund der räumlichen Entfernung vom Tatort der tödliche Angriff schon nicht wahrgenommen werden kann und eine Gegenwehr des schutzbereiten Dritten auch deshalb zu spät käme, weil hierfür erst eine erhebliche räumliche Distanz überwunden werden müsste.

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