BVerfG Beschl. v. 08.06.2021, Az. 2 BvR 1866/17 und 2 BvR 1314/18
Sachverhalt
(geändert und gekürzt)
Seit 2015 befindet sich der A infolge eines Strafverfahrens im Maßregelvollzug in einem entsprechenden Krankenhaus. Schon zehn Jahre zuvor hatte er eine Verfügung getroffen, die beinhaltete, dass er nicht gegen seinen Willen mit Neuroleptika (Psychopharmaka) behandelt werden wolle. Das Krankenhaus diagnostizierte eine Schizophrenie und sah akuten Behandlungsbedarf. So wurde eine entsprechende Behandlung mit Neuroleptika beantragt, um den A vor irreversiblen hirnorganischen Gesundheitsschäden zu bewahren. Der Antrag wurde auf Art. 6 des BayMRVG [1]In dem zugrundeliegenden Verfahren galt noch die aF des Art. 6 des BayMRVG. gestützt und ua mit erheblichen Gefahren für das Krankenhauspersonal begründet, falls die Krankheiten des A nicht medikamentös eingestellt werden sollten. In der Vergangenheit griffen Inhaftierte mit einer ähnlichen Diagnostik willkürlich das Personal körperlich an. Zu schwerwiegenden Verletzungen oder bleibenden Schäden kam es jedoch nie. Nichtsdestotrotz wurde der Antrag auf Zwangsbehandlung bewilligt.
Gegen die Zwangsmedikation hat der A erhebliche Einwende. Er beruft sich auf seinen in der Verfügung erklärten Willen nicht mit Medikamenten behandelt werden zu wollen. Er habe das Recht mit seiner Erkrankung zu leben. Auch gingen von ihm keine Gefahren für Andere aus. Zwar entspricht es den Tatsachen, dass das Krankenhauspersonal in der Vergangenheit angegriffen wurde, jedoch hätte dies auch an der Unachtsamkeit des Personals gelegen. Darüber hinaus wurde A selbst nie gewalttätig. Nach Erschöpfung des Rechtswegs reicht A Verfassungsbeschwerde gegen die Zwangsmedikation ein.
Ist die Verfassungsbeschwerde des A begründet?
Art. 6 BayMRVG – (Auszug)
(1) 1Die untergebrachte Person erhält die nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst gebotene Behandlung ihrer Erkrankung, um die Ziele der Unterbringung zu erreichen. 2Die untergebrachte Person hat bei Behandlung anderer als psychischer Erkrankungen Anspruch auf Gesundheitsuntersuchungen, medizinische Vorsorgeleistungen, Krankenbehandlung und Versorgung mit Hilfsmitteln nach Maßgabe der Art. 59 bis 61, 63 und 64 BayStVollzG.
(2) 1Behandlungsmaßnahmen, die in die körperliche Unversehrtheit eingreifen, bedürfen der möglichst schriftlichen Einwilligung der untergebrachten Person. 2Die Einwilligung muss auf der Grundlage einer ärztlichen Aufklärung der untergebrachten Person erfolgen und auf deren freien Willen beruhen. 3Kann eine Einwilligung nicht rechtzeitig eingeholt werden, darf die Behandlungsmaßnahme ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen der untergebrachten Person entspricht.
(3) Behandlungsmaßnahmen im Sinn des Abs. 1, die dem natürlichen Willen der untergebrachten Person widersprechen, sind zulässig,
1. um die Entlassungsfähigkeit zu erreichen,
2. um eine konkrete Gefahr für das Leben oder eine konkrete schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit der untergebrachten Person abzuwenden oder
3. um eine konkrete Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung abzuwenden.
(4) 1Behandlungsmaßnahmen nach Abs. 3 dürfen nur angeordnet werden, wenn
1. ärztlich über Art, Dauer, Erfolgsaussichten und Risiken der beabsichtigten Maßnahmen aufgeklärt wurde,
2. zuvor frühzeitig, ernsthaft und ohne Druck auszuüben versucht wurde, die Zustimmung der untergebrachten Person zu erhalten,
3. die Maßnahmen geeignet sind, das Behandlungsziel zu erreichen,
4. mildere Mittel keinen Erfolg versprechen,
5. der zu erwartende Nutzen die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt,
6. Art und Dauer auf das zwingend erforderliche Maß beschränkt werden und
7. in den Fällen des Abs. 3 Nr. 1 und 2 zusätzlich
a) die untergebrachte Person krankheitsbedingt zur Einsicht in die Schwere und die Behandlungsbedürftigkeit ihrer Krankheit oder zum Handeln gemäß dieser Einsicht nicht fähig ist und
b) der nach § 1901a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zu beachtende Wille der untergebrachten Person den Maßnahmen nicht entgegensteht.
2Die Behandlungsmaßnahmen sind durch einen Arzt oder eine Ärztin anzuordnen. 3Die Maßnahmen sind zu dokumentieren und durch einen Arzt oder eine Ärztin durchzuführen, zu überwachen und in regelmäßigen Abständen auf ihre Eignung, Notwendigkeit und Angemessenheit zu überprüfen. 4Die Anordnung der Maßnahme gilt höchstens für zwölf Wochen und kann wiederholt getroffen werden.
[…]
Skizze
Gutachten
Die zulässige Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführenden hat gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG Erfolg, soweit sie begründet ist.
Vernetztes Lernen: Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde:I. Beschwerdeführer
1. Beteiligtenfähigkeit
2. Prozessfähigkeit
II. Beschwerdegegenstand
III. Beschwerdegrund – Beschwerdebefugnis
IV. Rechtsschutzbedürfnis
1. Rechtswegerschöpfung
2. Subsidiarität
3. Durchbrechung von 1 und 2
VI. Form und Frist
A. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer durch die Zwangsbehandlung in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist. A könnte in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt sein
I. Eröffnung des Schutzbereichs
Zunächst müsste der Schutzbereich eröffnet sein. Dieser setzt sich aus dem sachlichen und persönlichen Schutzbereich zusammen.
1. Persönlicher Schutzbereich
Der persönliche Schutzbereich müsste eröffnet sein. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG stellt ein sog. Jedermann-Grundrecht dar, auf seinen Schutz kann sich also jede natürliche Person berufen [2]BeckOK GG/Lang, 47. Ed. 15.5.2021, GG Art. 2 Rn. 64, sodass für A der personale Schutzbereich eröffnet ist.
Vernetztes Lernen: Ist der Nasciturus in den Grundrechtsschutz mit einbezogen?:2. Sachlicher Schutzbereich
Die körperliche Unversehrtheit iSd Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bedeutet zum einen die Gesundheit im biologisch-physiologischen Bereich und als Gegenpart wird auch die Gesundheit im psychischen Bereich geschützt.[4]BeckOK GG/Lang, 47. Ed. 15.5.2021, GG Art. 2 Rn. 62-62a. Bricht man vor allem den biologisch-physiologischen Bereich herunter, ergibt sich zunächst der Grundrechtsschutz als die Freiheit vor Schmerzen.
a) Selbstbestimmungsrecht
Dies führt im vorliegenden Fall zu dem Problem, dass die unerwünschte Behandlung gerade Schmerzen verhindern soll. Insofern steht eine Behandlung mit Medikamenten im Einklang mit dieser Ausgangsdefinition. Dieses Verständnis greift jedoch zu kurz und verengt den Schutzbereich. Deswegen schützt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur das Leben und die körperliche Integrität im oben beschriebenen Sinne, sondern auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht [5]BeckOK GG/Lang, 47. Ed. 15.5.2021, GG Art. 2 Rn. 63.
b) Unfreiwillige Behandlung (Zwangsbehandlung)
Auch wenn die Entscheidung des Einzelnen medizinisch nicht nachzuvollziehen ist oder seine Lebenserwartung senkt, ist dieser Entschluss grundrechtlich geschützt. Insofern spricht man von der Freiheit zur Krankheit. Genau auf diese Ausprägung des Grundrechts beruft sich der A, indem er die Auswirkungen der Schizophrenie einer medikamentösen Behandlung vorzieht.
3 Zwischenergebnis
Mithin ist der Schutzbereich eröffnet.
II. Eingriff
In das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird durch jede rechtl. oder faktische Maßnahme der öffentlichen Gewalt eingegriffen, die unmittelbar oder mittelbar, zur Gesundheitsschädigung führt und gegen den Willen des Beeinträchtigten durchgeführt wird. Die Verfügung des A beinhaltet einen entgegenstehenden Willen zur Behandlung mit Medikamenten. Zudem greift die Behandlung in seine körperliche Integrität ein, sodass ein Eingriff zu bejahen ist.
Anmerkung: Bagatellvorbehalt:III. Rechtfertigung
Allerdings könnte Art. 20a GG einen Auslegungsmaßstab für die verfassungsrechtliche Abwägung darstellen.
1. Grundrechtsschranke
Art. 2 Abs. 2 enthält in S. 3 einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Hier wird auf Grundlage des Art. 6 des BayMRVG eingriffen. Gegen dieses Gesetz bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.dersprechen.[8]BVerfG NJW 2021, 1723, 1728 (Rn. 120).
Anmerkung: Rechtmäßigkeit des Gesetztes im Ausgangsfall :2. Grundrechtschranken-schranken.
Es müssten jedoch die weiteren Schranken- Schranken, insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, gewahrt bleiben.
a) Schutz der Gesundheit des A
Zunächst kommt als Rechtfertigungsgrund der Gesundheitsschutz des A in Betracht. Ohne eine Behandlung drohen A durch die Schizophrenie irreversible hirnorganische Gesundheitsschäden. Insofern könnten hier die staatlichen Schutzpflichten zum Tragen kommen. Der A hat die Behandlung aber ausdrücklich abgelehnt und hat dies sogar in einer Verfügung schon 10 Jahre vor der Diagnose zum Ausdruck gebracht. Wie bereits erwähnt gehört der Schutz vor staatlichen Zwangsbehandlungen zum traditionellen Gehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit. Insofern tritt die Schutzpflicht des Staates gegenüber der Freiheit des Betroffenen zurück. Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern setzt voraus, dass der Betroffene seine Entscheidung mit freiem Willen und im Bewusstsein über ihre Reichweite getroffen hat. Seine Erklärung ist daraufhin auszulegen, ob sie hinreichend bestimmt und die konkrete Behandlungs- und Lebenssituation von ihrer Reichweite umfasst [9]BVerfG Beschl. v. 08.06.2021, Az. 2 BvR 1866/17 und 2 BvR 1314/18. Eine einsichtsfähige Erklärung ist vom A abgegeben wurden, sodass sein Selbstbestimmungsrecht der staatlichen Schutzpflicht ihm gegenüber vorgeht.
b) Gefährdung Dritter
Als Rechtfertigung kommt aber der Grundrechtsschutz anderer in Betracht. Von einer akuten Schizophrenie gehen erhebliche Gefahren aus und auch Gewaltakte sind nicht auszuschließen. Bezugspunkt des Grundrechtsschutzes in Fällen der Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug kann dabei nicht, wie üblich, der Schutz der Allgemeinheit vor von einer psychischen Erkrankung herrührenden Straftaten sein. Durch die stationäre Unterbringung ist diese Gefahr schon gebannt. In Betracht kommt vielmehr der Grundrechtsschutz anderer Personen innerhalb der Einrichtung. Das Krankenhaus führt dazu aus, dass erhebliche Gefahren für andere Personen beständen, wenn der A nicht behandelt werden würde. Dies reicht aber nicht schlechthin als Begründung für den Eingriff. Sieht der Gesetzgeber nämlich Maßnahmen einer Zwangsbehandlung derjenigen Person vor, von der die Gefährdung anderer auszugehen scheint, so ist er dabei an den Grundsatz strikter Verhältnismäßigkeit gebunden. Strenge materielle und verfahrensrechtliche Anforderungen müssen sicherstellen, dass die betroffenen Freiheitsrechte nicht mehr als unabdingbar beeinträchtigt werden
aa) Legitimes Ziel
Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Krankenhauspersonals ist ein Legitimes Ziel.
bb) Geeignetheit
Die Zwangsbehandlung müsste auch geeignet sein. Das Mittel ist dann geeignet, wenn der damit verfolgte Zweck überhaupt erreicht oder zumindest gefördert werden kann. Durch die Zwangsbehandlung wird die Schizophrenie des A kontrolliert, sodass von diesem Gesundheitszustand keine Gefahren für andere ausgehen.
cc) Erforderlichkeit
Darüber hinaus müsste die Zwangsbehandlung auch erforderlich sein. Das gewählte Mittel ist dann erforderlich, wenn es keine mildere Maßnahme gibt, die denselben Erfolg mit gleicher Sicherheit erzielt. Dabei ist zu beachten, dass eine Zwangsbehandlung nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf, wenn kein milderes Mittel in Betracht komme. In Rahmen einer staatlichen Unterbringung ist eine Vielzahl an Schritten denkbar, um eine Gefahrenquelle zu minimieren, bevor man auf eine Zwangsbehandlung zurückgreift. Zunächst müsste das Gefahrenpotential des A eingeschätzt werden. Dazu bedarf es neben einer Dokumentationspflicht auch einer vorausgehenden Prüfung der Maßnahme. Der A wurde selbst nie gewalttätig. Die Gefahrenprognose bezieht sich nur auf andere Inhaftierte mit einer ähnlichen Diagnostik. Aber auch in diesen Fällen kam es bei den Übergriffen nie zu schwerwiegenden Verletzungen oder bleibenden Schäden. Auch sind hohe Anforderungen an den Ablauf zu stellen, wie die Dokumentation und Überwachung durch medizinisches Personal. Auch sollte bevor eine Zwangsbehandlung in Betracht kommt der ernsthafte Versuch unternommen werden, die Zustimmung des Betroffenen zu erlangen. Diese Punkte wurden nicht hinreichend erfüllt. Es standen mildere Mittel zur Verfügung, welche nicht ausgeschöpft wurden. Mithin ist die Zwangsbehandlung nicht erforderlich gewesen..
Anmerkung: Prüfung der Verhältnismäßigkeit :B. Ergebnis
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
Zusatzfrage
Welche Schrankenvorbehalte gibt es?Einschränkung oder Regelung „durch oder auf Grund eines Gesetzes“, z.B. Art. 2 I, 5 I GG
– Grundrechte mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt
GG enthalten nähere Anforderungen an das einschränkende Gesetz, zB Art. 11 II GG.
– schrankenlos gewährte Grundrechte
können nur durch kollidierendes Verfassungsrecht bzw. Rechtsgüter von Verfassungsrang begrenzt werden
Zusammenfassung:
1. Das Grundrecht auf Körperliche Unversehrtheit schützt auch das Selbstbestimmungsrecht. Demnach ist vom Schutzbereich auch die Freiheit zur Krankheit umfasst.
2. Die Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung ist möglich. Daran sind aber hohe Hürden zu knüpfen.
3. Staatliche Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG gegenüber einer untergebrachten Person können eine Zwangsbehandlung nicht rechtfertigen, wenn sie die in Rede stehende Behandlung im Zustand der Einsichtsfähigkeit durch eine Patientenverfügung wirksam ausgeschlossen hat.
4. Die staatliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte anderer Personen, die mit dem Betroffenen in der Einrichtung des Maßregelvollzugs in Kontakt treten, bleibt unberührt. Die autonome Willensentscheidung des Patienten kann nur so weit reichen, wie seine eigenen Rechte betroffen sind. Über Rechte anderer Personen kann er nicht disponieren.