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Folgenschwere Verwechslung

BGH, Beschluss v. 17.4.2024 – 1 StR 403/23, NStZ 2024, 611 

Sachverhalt

(leicht abgewandelt und gekürzt)

Ärztin A hatte den minderjährigen, unter Betreuung stehenden P zur Behebung eines beidseitigen Leistenbruchs zu operieren. Bei einem weiteren Patienten G, der auch unter Betreuung seiner Eltern stand, sollte ebenfalls eine Leistenoperation vorgenommen und zeitgleich eine medizinisch nicht indizierte Sterilisation durchgeführt werden. Zwar lag dafür eine Einwilligung der Eltern des G vor. Diese reichte allerdings, was A wusste, nicht aus. Vielmehr hätte ein Sterilisationsbetreuer bestellt werden und eine betreuungsgerichtliche Genehmigung zur Sterilisation vorliegen müssen, was nicht der Fall war. Im Zuge des Eingriffs an P führte A eine Sterilisation durch und durchtrennte die beiden Samenleiter mit dem dafür vorgesehenen Operationsbesteck. Dabei nahm A aufgrund einer Personenverwechslung irrtümlicherweise an, anstelle des P den G zu operieren. Als der A nach Abschluss der Operation noch am selben Tag der Irrtum aufgrund eines Hinweises eines Mitarbeiters auffiel, legte sie ihren Fehler gegenüber der Mutter des P offen, die zuvor wirksam in die Operation des Leistenbruchs eingewilligt hatte, und vermittelte den P an einen Refertilisierungsspezialisten. Dieser führte zwei Wochen eine Operation zur Wiederherstellung der Fortpflanzungsfähigkeit an P durch. Es ist unklar, ob diese tatsächlich wieder hergestellt wurde.

Wie hat sich A zum Nachteil des P strafbar gemacht? Ggf. erforderliche Strafanträge gelten als gestellt.


Skizze

Gutachten

A. Strafbarkeit gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2, 226 I Nr. 1 Var. 4 StGB

A könnte sich wegen schwerer Körperverletzung gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2, 226 I Nr. 1 Var. 4 StGB strafbar gemacht haben, indem sie eine Sterilisation an P vornahm, obwohl diese gar nicht bei ihm vorgenommen werden sollte. 

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) Objektiver Tatbestand des Grunddelikts 

Zunächst müsste der objektive Tatbestand des § 223 I StGB erfüllt sein. Dieser setzt eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung voraus, die kausal durch die A herbeigeführt und ihr objektiv zurechenbar sein müsste. Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene körperliche Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines krankhaften Zustandes. Vorliegend führt die A bei der Operation des P eine Sterilisation durch, was zu einem Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit führte. Dadurch wurde auch in kausaler und objektiv zurechenbarer Form ein krankhafter Zustand hervorgerufen. 

Soweit der Eingriff der A medizinisch indiziert gewesen wäre (sog. „ärztlicher Heileingriff“), ließe sich fragen, ob sie nicht durch eine Verneinung des Tatbestandes (dogmatischer Sonderweg) oder erst auf Ebene der Rechtswidrigkeit straffrei gestellt werden sollte. Da es im vorliegenden Fall jedoch bereits an einer solchen medizinischen Indikation fehlt, muss dieser Streit nicht gelöst werden.

Anmerkung: Ärztlicher Heileingriff
Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Problem siehe das Vernetzte Lernen im Fall Zahnextraktionszange.
b) Begehung der Qualifikation § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB

Die Körperverletzung könnte mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs gem. § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB begangen worden sein, indem A für die Sterilisation das dafür vorgesehene Operationsbesteck verwendete. Fraglich ist, ob das bei einem ärztlichen Eingriff verwendete Werkzeug als gefährliches Werkzeug anzusehen ist.

aa) Eine Ansicht

Nach der früher hM[1]BGH NJW 1978, 1206 (zahnärztliche Zange); siehe auch BGH, Urt. v. 24.5.1960 – 5 StR 521/59 (Skalpell). Aus dem Schrifttum etwa Engländer, in: Matt/Renzikowski, Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. … Continue reading seien bei einem ärztlichen Eingriff – unabhängig davon ob medizinisch indiziert oder nicht – kunstgerecht verwendete Gegenstände nicht als gefährliche Werkzeuge einzuordnen. Denn unter gefährlichen Werkzeugen seien nur als Angriffs- oder Verteidigungsmittel verwendete Gegenstände zu verstehen. Zudem seien solche Gegenstände in der geübten Hand von medizinischem Personal weniger gefährlich. Die Ärztin A ist dem medizinischen Personal zuzurechnen. Auch von einer gewissen Qualifikation und Erfahrung im chirurgischen Bereich ist auszugehen. Demnach stellt das Operationsbesteck nach dieser Ansicht kein gefährliches Werkzeug dar.

bb) Andere Ansicht

Nach anderer Ansicht[2]BGH, Beschl. v. 19.12.2023 – 4 StR 325/23, BeckRS 2023, 46571 mit Anm. Klein, ZJS 2024, 605; Kudlich, JA 2024, 607; Nestler, JK 2024, 790; Schiemann, NStZ 2024, 358; Zieschang, JR 2024, 368; siehe … Continue reading sei bei medizinisch nicht indizierten ärztlichen Eingriffen eine Ausnahme zu machen. Hier war die Sterilisation von P nicht medizinisch indiziert. Demnach stellt das Operationsbesteck nach dieser Ansicht ein gefährliches Werkzeug dar.

cc) Stellungnahme

Die Ansichten kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, weshalb ein Streitentscheid erforderlich ist. 

Die erste Ansicht beruft sich darauf, dass in § 223a StGB a.F. die Waffe der Oberbegriff war und das Messer sowie andere gefährliche Werkzeuge dafür lediglich Beispielsfälle darstellten. Daraus wurde die Voraussetzung hergeleitet, dass ein gefährliches Werkzeug einer Waffe vergleichbar sein müsse. Das sei nur der Fall, wenn der Täter den Gegenstand bei einem Angriff oder Kampf zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken benutzt, was bei einem bestimmungsgemäß benutzten Skalpell oder einer zahnärztlichen Zange zu verneinen sei.[3]BGH NJW 1978, 1206.

Demgegenüber berücksichtigt die zweite Ansicht den Wortlaut und Telos des Gesetzes, denn die in § 224 StGB pönalisierte besonders gefährliche Begehungsweise der Köperverletzung kann auch bei der Benutzung eines chirurgischen Geräts, das bestimmungsgemäß von einer ärztlichen Behandlungsperson verwendet wird, bestehen. Dabei ist § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB auch richtigerweise anwendbar, wenn eine medizinische Indikation vorlag, denn es kommt nur auf die hervorgerufene tatsächliche körperliche Beeinträchtigung an.[4]Zieschang, JR 2024, 368 (371). Diese Meinung ist dogmatisch konsequenter und daher zu folgen.

Hier wurde nun durch den Eingriff mit einem medizinischen Instrument die Fortpflanzungsfähigkeit des P aufgehoben. Daher ist auch § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB zu bejahen. 

Anmerkung: Weitere Fälle
Dieses Problem kann auch in der Prüfung selbst entwickelt werden. Siehe dafür die Bearbeitung des Falles Zahnextraktionszange.

2. Subjektiver Tatbestand

a) Vorsatz bzgl. des Grunddelikts

Zudem müsste A vorsätzlich hinsichtlich der objektiven Merkmale des § 223 StGB gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung des Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatbestandsmerkmale. Hier ging A allerdings davon aus, nicht den P, sondern vielmehr den G bzgl. des Leistenbruchs und der Sterilisation zu operieren. Gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB handelt ohne Vorsatz, wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Der Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB verlangt jedoch nur die Verletzung eines anderen Menschen. Auf die Person des Opfers kommt es nicht an. Daher genügt für den Tatbestandsvorsatz das Bewusstsein, irgendeinen Menschen zu verletzen. In der Verwechslung des P und G liegt somit ein unbeachtlicher Motivirrtum (sog. „error in persona“). A handelte vorsätzlich hinsichtlich der objektiven Merkmale des § 223 StGB.

b) Vorsatz bzgl. verwirklichter Qualifikationsmerkmale

A hat die Sterilisation bewusst mit dem Operationsbesteck durchgeführt und damit vorsätzlich ein gefährliches Werkzeug i.S.d. § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB verwendet. 

3. Erfolgsqualifikation des § 226 I Nr. 1 Var. 4 StGB

Durch das Durchtrennen beider Samenleiter des P könnte dieser nahezu vollständig die Fortpflanzungsfähigkeit verloren haben. Ein vollständiger Funktionsverlust liegt vor, wenn die jeweilige Funktion dauerhaft oder längere Dauer fast vollständig aufgehoben ist, der verletzten Person also maximal noch eine wertlose Restfähigkeit verbleibt.[5]BGH BeckRS 2010, 30925. Längere Dauer ist dabei nicht mit Unheilbarkeit gleichzusetzen.[6]BGH NStZ 2024, 611 Rn. 8. Der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit tritt ein, wenn die verletzte Person die zum Tatzeitpunkt noch vorhandenen Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen, verliert.[7]Wegner/Zech/Krüger/Wenglarczyk, Studienbuch Strafrecht BT I, 2024, S. 148. 

Die Zeugungsfähigkeit des P ist zwei Wochen nach der Sterilisation – nicht ausschließbar – wiederhergestellt worden. In dubio pro reo muss dies hier zugunsten von A ausgelegt werden, sodass die Zeugungsfähigkeit wiederhergestellt wurde. Es fehlt also an einer Langwierigkeit der schweren Folge. Die schwere Folge ist somit nicht eingetreten. Die Erfolgsqualifikation § 226 I Nr. 1 Var. 4 StGB liegt nicht vor.

II. Rechtswidrigkeit

Zugunsten von A könnte ein Rechtfertigungsgrund vorliegen. In Betracht kommt hier die Einwilligung in die Operation. Hinsichtlich der Operation bezieht sich die wirksame Einwilligung der Mutter des P allerdings nicht auf die Sterilisation, sondern nur auf den Leistenbruch. Mangels objektiv vorliegender Einwilligung (durch die Mutter) in die Sterilisation, hat A diesbezüglich rechtswidrig gehandelt haben. 

Vernetztes Lernen: Kann ein Minderjähriger in seine eigene Operation einwilligen?
Grundsätzlich kommt es dabei darauf an, ob die Person einwilligungsfähig ist.
Die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit richtet sich (anders als im Zivilrecht) nicht nach bestimmten Altersgrenzen. Es kommt stattdessen auf die tatsächliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers an. Der Einwilligende muss nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande sein, Wesen, Bedeutung und Tragweite des fraglichen Eingriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen; dabei sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je gewichtiger der Rechtsgutsangriff und je schwerer die (drohenden) Folgen sind.[8]BGH NStZ 2018, 537.
Bei einem Minderjährigen wird man tendenziell die Selbstbestimmungsfähigkeit umso eher bejahen können, je näher er der Volljährigkeitsgrenze und je geringgewichtiger der Eingriff ist. Dementsprechend gelten Kinder unter 14 Jahren nicht generell als einwilligungsunfähig. Für Jugendliche (§ 1 II JGG) ließe sich jedoch anhand der Faustformel orientieren, dass bei weniger gravierenden Körperverletzungen die generelle Einsichtsfähigkeit ab 14 bis 15 Jahren, bei gravierenderen ab 16 bis 17 Jahren gegeben ist.
Pauschal lässt sich das also nicht sagen. Es kommt auf den einzelnen Fall an. Es sollte also in der Prüfung bei der Einwilligung von Minderjährigen stets genau der Sachverhalt ausgewertet werden.

III. Schuld

Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. A ist schuldfähig. Soweit A irrtümlich von der Einwilligung der Eltern ausging, ist dies kein Fall des Erlaubnistatbestandsirrtums, sondern eine Konstellation des Erlaubnisirrtums (hier Verbotsirrtums gem. § 17 StGB), da eine Einwilligung der Eltern im Hinblick auf § 1817 II BGB ohnehin nicht genügt hätte. Zudem müsste dieser Irrtum auch nicht vermeidbar gewesen sein. Der Täter ist zunächst verpflichtet zur gehörigen Gewissensanspannung unter Aufbietung seiner intellektuellen Erkenntniskräfte, um dadurch das Unrechtmäßige seiner Handlung zu erkennen. Hat er dies unterlassen und es aufgrund dessen in zurechenbarer Weise versäumt, die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zu erkennen, so war der Irrtum vorwerfbar und somit vermeidbar.[9]BGHSt 2, 194 (201). A hätte bei einem so schwerwiegenden Eingriff wie der Sterilisation überprüfen müssen, ob die Eltern einwilligen konnten, oder ein Sterilisationsbetreuer für G existiert und ob eine betreuungsgerichtliche Entscheidung hierzu vorliegt. Insgesamt ist der Irrtum der A über die Einwilligung als vermeidbar anzusehen, sodass die Schuld gegeben ist, aber die Strafe gemildert werden kann. 

IV. Ergebnis

A hat sich durch die Sterilisation an P wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2, StGB strafbar gemacht.

B. Strafbarkeit gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2, 226 I Nr. 1 Var. 4, II, 22, 23 I StGB

A könnte sich wegen des Versuchs der absichtlichen schweren Körperverletzung gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2, 226 I Nr. 1 Var. 4, II, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben, indem sie eine Sterilisation an P vornahm, obwohl diese gar nicht bei ihm vorgenommen werden sollte. 

I. Vorprüfung 

1. Strafbarkeit des Versuchs

Bei § 226 II StGB handelt es sich um eine Erfolgsqualifikation, deren Versuchsstrafbarkeit sich nach den allgemeinen Regeln aus §§ 23 I, 12 StGB ergibt.

2. Nichtvollendung

Fraglich ist, ob eine Nichtvollendung vorliegt, da A die Sterilisation vorgenommen hat. Wie bereits festgestellt, konnte die Zeugungsfähigkeit des P zwei Wochen nach der Sterilisation – nicht ausschließbar – wiederhergestellt werden. Die Langwierigkeit der schweren Folge liegt nicht vor. Die schwere Folge der Tat ist nicht eingetreten und die Tat damit nicht vollendet.

II. Tatentschluss

A müsste einen Tatentschluss gefasst haben, also vorsätzlich in Bezug auf die Verwirklichung aller objektiven Tatbestandsmerkmale gehandelt haben. A wollte die Operation und die Sterilisation unter Verwendung von Operationsbesteck vornehmen und damit das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigen. Außerdem wollte A mit der Sterilisation die Fortpflanzungsfähigkeit einer anderen Person (hier P) verursachen. Mithin handelte A mit Tatentschluss hinsichtlich der Körperverletzung und der schweren Folge.

III. Unmittelbares Ansetzen

A müsste weiterhin unmittelbar zur Tat angesetzt haben (§ 22 StGB). Ein unmittelbares Ansetzen liegt vor, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht´s los“ überschreitet und objektiv – nach seinem Tatplan – keine wesentlichen Zwischenakte mehr notwendig sind, um zur Tatbestandserfüllung zu führen.[10]Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 34 Rn. 22. Teile des objektiven Tatbestands bzw. das Grunddelikt inkl. der Qualifikation sind schon erfüllt. A hat somit unmittelbar zur Tat angesetzt.

IV. Rechtswidrigkeit und Schuld

Mangels Rechtfertigungsgründen handelte A rechtswidrig. Mangels Schuldausschluss- und/oder Entschuldigungsgründen handelte sie auch schuldhaft.

V. Rücktritt

A könnte durch die Offenlegung ihres Irrtums und die Vermittlung des P an einen Spezialisten für Refertilisation von der versuchten schweren Körperverletzung strafbefreiend nach § 24 I StGB zurückgetreten sein.

1. Kein fehlgeschlagener Versuch

Zunächst dürfte der Versuch nicht fehlgeschlagen sein. Der Versuch ist fehlgeschlagen, wenn der Täter den Taterfolg nach seinen Vorstellungen mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr oder zumindest nicht mehr im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang herbeiführen kann.[11]Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 37 Rn. 15. Ein Fehlschlag kommt u.a. in Betracht, wenn die Tatbestandserfüllung zwar (noch) möglich wäre, der damit verfolgte Zweck jedoch verfehlt würde. Das ist vor allem da der Fall, wo das Tatobjekt infolge von Identitätsverwechslung oder Artverkennung dem Tatplan nicht entspricht.[12]Schönke/Schröder/Eser/Bosch, 30. Aufl. 2019, StGB § 24 Rn. 11; sog. „sinnlos gewordener Tatplan“.

Fraglich ist, ob der erkannte error in persona einen Fehlschlag zur Folge hätte und A somit nicht mehr strafbefreiend zurücktreten konnte. Dies wird unterschiedlich gesehen.

a) Eine Ansicht (Rspr.) 

Nach einer Ansicht[13]BGH NJW 2016, 2050; BGH NStZ 2008, 275; BGH NJW 1993, 2061. läge bei einem erkannten erorr in persona kein Fehlschlag des Versuches vor. Begründet wird das mit dem Tatbegriff. Die Tat i.S.v. § 24 I StGB sei die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne. Gemeint ist damit die in den gesetzlichen Straftatbeständen umschriebene tatbestandsmäßige Handlung und der tatbestandsmäßige Erfolg. Ein Rücktritt gemäß § 24 I StGB setzt daher nur ein Abstandnehmen von bzw. eine Verhinderung der Vollendung dieses gesetzlichen Tatbestands voraus. Die vorherige Erreichung außertatbestandlicher Ziele sei unschädlich. Dies würde auch in den Fällen eines „sinnlos gewordenen Tatplans“ gelten. Die Tat nach dieser Auffassung ist mithin nicht die beabsichtigte Sterilisierung des konkreten identifizierbaren Patienten, sondern allgemeiner die vom Tatbestand des § 226 umschriebenen Verursachung der Zeugungsunfähigkeit (irgend-) einer Person. Die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne war nicht fehlgeschlagen, sondern wäre – wenn A der Irrtum nicht aufgefallen wäre und sie den Dingen ihren Lauf gelassen hätte – zum Nachteil des P zur Vollendung gelangt. Die Identität des Patienten betraf lediglich außertatbestandliche Motive der A. Ob A von ihrem Entschluss den P zu sterilisieren abgerückt ist, ist somit für die Frage des Fehlschlags unerheblich. Nach dieser Auffassung wäre der Versuch nicht fehlgeschlagen.

b) Andere Ansicht (Lit.)

Ein starker Teil der Literatur bejaht im Fall eines erkannten error in persona einen Fehlschlag des Versuchs, da die Tat auf eine bestimmte Person individualisiert gewesen sei.[14]Schönke/Schröder/Eser/Bosch, 30. Aufl. 2019, StGB § 24 Rn. 11; Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, StGB § 24 Rn. 8; Lackner/Kühl/Heger, 30. Aufl. 2023, StGB § 24 Rn. 11; Kühl StrafR AT, 8. Aufl. … Continue reading  Der Täter wäre zwar an sich noch zur Tatbestandsverwirklichung in der Lage, ein Weiterhandeln sei für ihn jedoch sinnlos, weil er dadurch das von ihm erstrebte Tatziel nicht mehr erreichen könnte. Hier hätte A einfach den Dingen ihren Lauf lassen können. Dies wäre allerdings für A sinnlos gewesen, weil dadurch die Sterilisation von G nicht erreicht worden wäre. Folglich läge ein Fehlschlag des Versuchs vor.

c) Differenzierende Ansicht (Lit.)

Nach einer differenzierenden Ansicht sei beim unbeendeten Versuch ein Fehlschlag anzunehmen. Hingegen sei im Fall eines beendeten Versuchs ein Fehlschlag abzulehnen, da die Tatvollendung beim „falschen“ Opfer zwar aus Sicht des Täters sinnlos wäre, jedoch der freiwillige Rettungsakt honoriert werden müsse.[15]Brand/Kanzler JA 2012, 37 (39); Brand/Wostry GA 2008, 619 ff.; NK-StGB/Engländer, 6. Aufl. 2023, § 24 Rn. 24; Feltes GA 1992, 395 (413); LK-StGB/Murmann, 13. Aufl. 2021, § 24 Rn. 125; Murmann JuS … Continue reading 

Es kommt also darauf an, ob hier ein beendeter oder unbeendeter Versuch vorliegt. Beendet ist der Versuch dann, wenn der Täter nach seiner Vorstellung alles für die Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges Erforderliche getan hat und den Erfolgseintritt für möglich hält.[16]Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 37 Rn. 32. Unbeendet ist ein Versuch dann, wenn der Täter glaubt, noch nicht alles Erforderliche getan zu haben, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen und die Vollendung aus seiner Sicht noch möglich erscheint.[17]Rengier, StR AT, 15. Aufl. 2023, § 37 Rn. 31. Für die Abgrenzung ist das Vorstellungsbild des Täters unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung von Bedeutung. Vorliegend ging A davon aus, mit dem Durchtrennen der Samenleiter alles getan zu haben, um die Zeugungsunfähigkeit von P herbeizuführen. Eine Rücktrittsperspektive ergab sich für A jedenfalls mit Erkennen des error in persona, weil hierdurch die erfolgte Sterilisation nachträglich unerwünscht wurde und sie nun erstmals vor der Entscheidung stand, eine (dauerhafte) Zeugungsunfähigkeit des P durch aktive Gegenmaßnahmen zu verhindern bzw. sich hierum ernsthaft zu bemühen oder den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Damit liegt hier ein beendeter Versuch vor und somit kein Fehlschlag.

d) Stellungnahme

Die Ansichten kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eine Stellungnahme ist daher notwendig.

Die Ansicht der Literatur, die auf eine Individualisierung des Opfers abstellt, verkennt den Tatbegriff und kann deshalb nicht überzeugen.[18]BGH NStZ 2024, 611 Rn. 13. 

Auch die differenzierende Ansicht in der Literatur kann nicht überzeugen. Würde man diese Ansicht konsequent behandeln, läge es so, dass der Täter eines unbeendeten Versuchs, der den error in persona erkennt, rechtsgutsverletzend weiterhandeln müsste, um die Tat in das Stadium des beendeten Versuchs zu überführen und sich so einen Rücktritt durch Verhindern des Erfolges offenzuhalten.[19]Jäger, JA 2024, 785 (787). Dies aber wäre ein geradezu absurdes Ergebnis und ist unter Opferschutzgesichtspunkten nicht überzeugend. 

Die erste Ansicht der Rechtsprechung kann dagegen hinsichtlich des Opferschutzes überzeugen.[20]BGH NStZ 2024, 611 Rn. 13. Denn maßgeblich ist für den Rücktritt allein, ob eine Gefährdungsumkehr hinsichtlich des konkret ins Auge gefassten Handlungsobjekts stattgefunden hat. Eine solche Gefährdungsumkehr ist aber immer dann zu bejahen, wenn der Täter von dem aus seiner Sicht zunächst gefährdeten konkreten Handlungsobjekt abgelassen hat, obwohl ein Weiterhandeln objektiv möglich gewesen wäre. Der Täter, der seinen error in persona erkennt, gibt daher gerade deshalb auf. 

Zudem wird die Ansicht dem Wortlaut des § 24 StGB gerecht. Es geht in § 24 StGB entscheidend um die Aufgabe der „Tat“ im materiell-rechtlichen Sinn, also vorliegend um § 226 StGB, nicht aber um die Identität des Opfers. Den Erfolgseintritt bei § 226 StGB hat nun aber der A verhindert. Nicht maßgeblich sind die außertatbestandlichen Motive, sondern die konkret in Rede stehende gesetzliche Strafbestimmung. In der Konsequenz gilt dies dann aber nicht nur beim beendeten, sondern auch beim unbeendeten Versuch. Der Begriff der Tat i.S.d. § 24 StGB ist in beiden Fällen einheitlich zu bestimmen.[21]Zieschang, ZJS 2024, 848 (857). Viel überzeugender ist es daher, die Lösung des Problems bei der Frage der Freiwilligkeit zu suchen.[22]Jäger, JA 2024, 785 (787). Mithin liegt kein Fehlschlag des Versuches vor.

Anmerkung: Teilmeinung der Literatur zur Verortung des Streitstandes
Ein weiterer Teil der Literatur lässt den Rücktritt bei einem erkannten Irrtum erst über den sog. Handlungssinn an der Freiwilligkeit scheitern.[23]Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 2023, § 24 Rn. 21; SK-StGB/Jäger, Systematischer Kommentar zum StGB, 9. Aufl. 2017, § 24 Rn. 22.

2. Unbeendeter oder beendeter Versuch

Welche Rücktrittshandlung der Täter nach § 24 I StGB erbringen muss, hängt davon ab, ob ein beendeter oder ein unbeendeter Versuch vorliegt. In dem Verhalten der A liegt ein beendeter Versuch vor. Um nach Maßgabe des § 24 I StGB strafbefreiend vom Versuch zurückzutreten müsste die A die Tatvollendung mithin verhindert haben.

3. Verhinderung der Vollendung

A müsste die Vollendung der Tat verhindert haben. Ein Rücktritt vom beendeten Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts ist grundsätzlich auch dadurch möglich, dass der Täter das Eintreten der schweren Folge verhindert, nachdem er zunächst alles Erforderliche für den Erfolgseintritt getan hatte.[24]BGHSt 64, 80 Rn. 21. Die Aufdeckung der Tat gegenüber der Mutter des P und deren Vermittlung an den Refertilisierungsexperten setzte eine neue Kausalkette in Gang, an deren Ende die – nicht ausschließbar erfolgreiche – Refertilisierung des P stand. Damit hat A die am besten geeignete („optimale“) Rettungsmaßnahme ergriffen und die Vollendung der Tat verhindert.

Anmerkung: Anforderungen an die Verhinderungshandlung
Für die Diskussion rund um die Anforderungen an die Verhinderungshandlung bzgl. der „Ende-gut-alles-gut-Theorie“ und der „Bestleistungs-Theorie“ siehe den anschaulichen Fall Vergiftete Babygläschen.

4. Freiwilligkeit

Schließlich müsste der Rücktritt von A auch freiwillig erfolgt sein. Freiwillig ist der Rücktritt, wenn er nicht durch zwingende Hinderungsgründe veranlasst wird, sondern der eigenen autonomen Entscheidung des Täters entspringt, der Täter also „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist.[25]Rengier StrafR AT, 16. Aufl. 2024, § 37 Rn. 91ff. Die Tatsache, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt, stellt für sich genommen die Autonomie der Entscheidung des Täters nicht in Frage. Außerdem ist für die Bewertung der Freiwilligkeit nicht der bei Beginn der Tat bestehende Tatplan maßgeblich, sondern der Rücktrittshorizont nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung.[26]BGH NStZ 2024, 611 Rn. 17.

Es ist fraglich, ob jemand, der seine Personenverwechslung erkennt, tatsächlich noch freiwillig zurücktreten kann. 

Einerseits ist beim beendeten Versuch zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung ein Wegfall des Handlungssinns zu verzeichnen, sodass auch hier grundsätzlich von einer Unfreiwilligkeit des Rücktritts auszugehen ist, wenn der Täter allein wegen Erkennens des error in persona zurücktritt. Das geschieht nicht freiwillig im Rechtssinne, denn die vom Täter erkannte Sinnverfehlung des bisherigen Tuns seinen Handlungsspielraum in einer Weise auf null reduziert, dass er sich innerlich zu einem Rücktritt gedrängt sehen muss.[27]Jäger, JA 2024, 785 (787).

Andererseits konnte A nach dem Hinweis einer Mitarbeiterin auf die Personenverwechslung keine andere Entscheidung mehr treffen, als eine Wiederherstellung der Fortpflanzungsfähigkeit zu veranlassen, sofern sie sich durch die Aufdeckung der Tat dazu gezwungen sah. Aber auch wenn die A ihren Irrtum selbst erkannt hätte, musste ihr bewusst sein, dass der Fehler nicht unentdeckt bleiben wird.[28]Jäger, JA 2024, 785 (787).

Ob schließlich auf die erkannte Sinnverfehlung abgestellt wird oder vielmehr auf das Aufdeckungsrisiko, ist in diesem Fall irrelevant. In beiden Fällen läge hier eine Unfreiwilligkeit vor. A konnte somit nicht strafbefreiend vom Versuch zurücktreten. 

V. Ergebnis

A hat sich wegen des Versuchs der absichtlichen schweren Körperverletzung gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2, 226 I Nr. 1 Var. 4, II, 22, 23 I StGB strafbar gemacht. 


Zusatzfragen

1. Wie kommt ein Ermittlungsverfahren im Allgemeinen zustande?
Die Einleitung des Ermittlungsverfahrens steht chronologisch am Anfang jedes Strafverfahrens, wenn man etwaige Vorermittlungen und Vorfeldermittlungen, die nicht in der StPO geregelt sind, davon ausnimmt.

Der Gang des Strafverfahrens im Erkenntnisverfahren (in Abgrenzung zum Vollstreckungsverfahren) lässt sich in die Verfahrensabschnitte Ermittlungsverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverfahren und Rechtsmittelverfahren einteilen.
Für die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens ist ein Anfangsverdacht notwendig. Ein solcher liegt vor, wenn konkrete tatsächliche Anhaltspunkte die Begehung einer Straftat nach kriminalistischer Erfahrung nahelegen.[29]BVerfG NJW 2004, 1517 (1518); BGH NJW 1989, 96 (97). Er kann durch eine Strafanzeige, einen Strafantrag oder durch anderweitige Kenntnisnahme des Verdachts durch die Staatsanwaltschaft erlangt werden.

Bei der Strafanzeige gem. § 158 I StPO wird den Strafverfolgungsbehörden ein tatsächlicher Sachverhalt unterbreitet, der nach Meinung des Anzeigenden Anlass für eine Strafverfolgung bietet.[30]Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, 64. Aufl. 2021, StPO § 158 Rn. 2. Privatpersonen haben grundsätzlich keine Pflicht zur Anzeige von ihnen zur Kenntnis genommener Straftaten, solange sie sich nicht wegen der Nichtanzeige einer geplanten Tat selbst strafbar machen (§ 138 StGB). Auch anonyme Anzeigen sind zu beachten (vgl. Nr. 8 RistBV).

Ein Strafantrag i.S.d. § 158 I StPO enthält über die reine Information des Sachverhalts hinaus auch ein eigenes Begehren nach Strafverfolgung.[31]KK-StPO/Griesbaum, 8. Aufl. 2019, StPO § 158 Rn. 3; MüKoStPO/Kölbel, 1. Aufl. 2016, StPO § 158 Rn. 9. Er ist damit Ausdruck eines besonderen Interesses an der Strafverfolgung und führt zu einem Anspruch auf Bescheidung bei Nichtverfolgung. Dieser Bescheid ist – nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens – Grundlage für ein mögliches Klageerzwingungsverfahren (§§ 171, 172 StGB).

2. Was ist der Unterschied zwischen dem Antrag nach Para. 158 I StGB und dem Strafantrag nach Para. 158 II StGB?
Der Antrag i.S.d. § 158 I StPO muss begrifflich vom Strafantrag nach § 158 II StPO abgegrenzt werden, welcher für Straftaten des StGB erforderlich ist, die nur auf Antrag verfolgt werden (sog. „Antragsdelikte“, z.B. §§ 123, 185, 247, 248b StGB). Bei absoluten Antragsdelikten ist der Strafantrag i.S.d. § 158 II StPO zwingende Voraussetzung für die Strafverfolgung, bei relativen Antragsdelikten kann ein fehlender Strafantrag durch das Vorliegen eines „besonderen öffentlichen Interesses“ ersetzt werden (vgl. Nr. 234 RiStBV).
Bei Notwendigkeit eines Strafantrags nach § 158 II StPO stellt dieser eine Prozessvoraussetzung dar. Fehlt der erforderliche Strafantrag, so besteht ein Strafverfolgungshindernis. Die Anforderungen an seine Form und Frist ergeben sich insbesondere aus §§ 77 ff. StGB. Der Antrag des § 158 II StPO enthält jedoch regelmäßig auch den Strafantrag i.S.d. § 158 I StPO im Sinne eines Strafverfolgungsverlangens.

Zusammenfassung

1. Die in § 226 I StGB bezeichneten schweren Folgen müssen von längerer Dauer sein. Diese „Langwierigkeit“ der schweren Folge ist Teil des tatbestandlichen Erfolgs; fehlt es hieran, ist der Tatbestand nicht vollendet. „Längere Dauer“ ist dabei nicht mit Unheilbarkeit gleichzusetzen. Es genügt, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung des – länger währenden – krankhaften Zustands nicht abgesehen werden kann. 

2. Die in den Tatplan des Täters aufgenommene Identität des Opfers begründet lediglich ein außertatbestandliches Ziel des Täters, sodass eine von ihm erkannte Personenverwechslung auch bei einem „sinnlos gewordenen Tatplan“ weder zu einem Ausschluss noch zwingend zur Unfreiwilligkeit eines Rücktritts vom beendeten Versuch führt. 

3. Für die Bewertung der Freiwilligkeit des Rücktritts kommt es nicht auf die Tatplanperspektive, sondern auf den Rücktrittshorizont des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung an. 

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