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Europäischer Haftbefehl

BVerfG, Beschluss vom 01.12.2020– 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18; NJW 2021, 1518

Sachverhalt – gekürzt und abgewandelt

Gegen den rumänischen Staatsangehörigen R steht auf Grund einer Verurteilung zu fünf Jahren Haft wegen versuchten Mordes ein europäischer Haftbefehl aus Rumänien aus. R wird während eines Aufenthaltes in Deutschland von deutschen Behörden aufgegriffen. Das Kammergericht ordnete daher am 29.11.2017 die Auslieferungshaft an. Vor einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung müssen aber wegen etwaig unzureichender Haftbedingungen die rumänischen Behörden um Auskunft ersucht werden: Klärungsbedürftig ist in welcher Haftanstalt die Freiheitsstrafe vollzogen würde und wie die Haftbedingungen in dieser Anstalt ausgestaltet seien. Die rumänischen Behörden teilten daraufhin mit, dass die Haftstrafe höchstwahrscheinlich im geschlossenen Vollzug in Haftanstalt A vollstreckt werde, wo R einen individuellen Raum von 3 m² erhalte. Alle Räume seien mit WC, Waschbecken und Duschen ausgestattet, Tageslicht sei garantiert, kaltes Trinkwasser ständig zugänglich, Hofgang möglich und alle Räume würden regelmäßig desinfiziert. Nach der Vollstreckung eines Fünftels der Strafe werde R insbesondere unter Berücksichtigung seines Verhaltens neu beurteilt, sodass die, üblicherweise gewährte, Möglichkeit eines halboffenen Vollzugsregime in Haftanstalt B besteht. Im halboffenen Vollzug sei ihm ein persönlicher Raum von 2 m2 zugewiesen. Die Türen seien aber tagsüber offen, und es bestehe Zugang zum Hof. 

Der Entscheidung des Kammergerichts tritt R entgegen und beantragt die Auslieferung für unzulässig zu erklären sowie die Auslieferungshaft aufzuheben. Das Kammergericht wies dies am 10.08.2018 zurück und erklärte auch die Auslieferung für zulässig. Nach § 79 I 1 IRG, der insoweit den voll-determinierten Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHb) umsetzt, sei Deutschland grundsätzlich zur Auslieferung verpflichtet. Eine Ausnahme gelte nur dann, wenn dies der GRCh entgegenliefe, § 73 S. 2 IRG. In der Rechtsprechung des EuGH sei insoweit umfassend geklärt, dass der Vollzug eines europäischen Haftbefehls beendet werden muss, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der Person i.S.v. Art. 4 GRCh führt. Grundsätzlich sei wegen des gegenseitigen Vertrauens in der EU aber die Einhaltung der GRCh zu unterstellen. Das Gericht träfe nur Aufklärungspflichten, soweit tatsächlich systemische Mängel in dem anderen Mitgliedsstaat vorliegen und auch im konkreten Fall von einer menschenunwürdigen Behandlung auszugehen sei.
Zur rechtlichen Würdigung der Haftbedingungen rekurriert das Gericht auch auf die Rechtsprechung des EGMR. Laut dieser spreche eine starke Vermutung für eine Verletzung von Art. 3 EMRK, wenn der bei einer Unterbringung im halboffenen oder offenen Regime einem Gefangenen in einer Gemeinschaftsunterkunft zustehende persönliche Raum 3 m² unterschreite. Die Haftumstände in A entsprächen daher mit einem Mindesthaftraumanteil von 3 m² pro Gefangenen unproblematisch den Mindestvorschriften aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK. Auch seien die Ausführungen der rumänischen Behörden, auf die es ja vertrauen muss, zu den weiteren Haftbedingungen positiv.

Bezüglich der Haftanstalt B führt das Gericht folgendes aus: Auch wenn der Haftraum die 2 m2 unterschreite, könnte die oben genannte Vermutung laut EGMR im Rahmen einer Gesamtbetrachtung widerlegt werden, wenn die folgenden Anforderungen kumulativ erfüllt seien: Es dürfe sich lediglich um eine kurzzeitige, gelegentliche und geringfügige Unterschreitung des persönlichen Raums von 3 m² handeln, es müssten eine ausreichende Bewegungsfreiheit und Betätigungsmöglichkeiten außerhalb des Haftraums gewährleistet sein, und der Beschwerdeführer müsse insgesamt in einer angemessenen Haftanstalt ohne zusätzliche erschwerende Umstände untergebracht sein. Das Kammergericht schließt nicht aus, dass diese Voraussetzungen hier erfüllt sein könnten. Der EGMR habe in einem anderen Fall einen persönlichen Raum von lediglich 2,1 m² aufgrund umfassender Öffnungszeiten als rechtmäßig angesehen. Es sei zu klären gewesen, ob ähnliche Umstände auch im vorliegenden Fall bestünden. Auf Nachfrage hätte Rumänien mitgeteilt, dass die Häftlinge sich im halboffenen Vollzug zwischen 8 und 11.30, 13 bis 18 und 19 bis 22 Uhr in der Anstalt und auf dem Hof frei bewegen können. Nachts müssten sich die Gefangenen in ihrer Zelle aufhalten. 

Ohnehin beschränke sich die Prüfpflicht der Haftbedingungen aber auf die Anstalten, in denen der Verfolgte nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich inhaftiert sein werde. Dies legt das Kammergericht so aus, dass lediglich die Unterbringung in der ersten Vollzugsanstalt, also im geschlossenen Vollzug in Haftanstalt A zu prüfen ist. Ob es zu einer Verlegung in den halboffenen Vollzug in B kommen werde, sei noch ungewiss und hänge vom nicht vorauszusehenden Verhalten des R ab. Die Überprüfung der Haftbedingungen in B, wo R später inhaftiert werden könnte, falle deshalb in die alleinige Zuständigkeit der rumänischen Gerichte. In Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sei Deutschland gerade nicht verpflichtet, die Vereinbarkeit der Haftbedingungen in anderen Haftanstalten, in denen die genannte Person gegebenenfalls später inhaftiert werden könne, zu überprüfen. Danach hätte das Gericht nur die Haftbedingungen im geschlossenen Vollzug in A zu berücksichtigen, die ja mit 3m2 aber den Standards des EGMR entsprächen.

Insgesamt bestünden daher zwar abstrakte Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer Mängel im rumänischen Strafvollzug, so sind bei konkreter Betrachtung nur die Umstände in A relevant und diese hinsichtlich Raumgröße und Haftbedingung auch unionskonform. Weitere Nachforschungen, ob die Angaben Rumäniens stimmen, stellt es nicht an. 

R ist mit der gerichtlichen Würdigung unzufrieden. Deutschland dürfe mit seiner Auslieferung nicht Handlanger des rumänischen Staates werden. Denn dieser sei, auch im Hinblick auf die Haftanstalt, in der er untergebracht werden solle, erst jüngst vom EGMR in vier Fällen verurteilt worden: Die Gefängnisse seien überfüllt und es bestünden mangelhafte hygienische Bedingungen. Insofern seien die Angaben des rumänischen Staates hier nicht vertrauenswürdig. Auch sei es unerheblich, wenn seine Zelle im geschlossenen Vollzug 3m2 groß sei, da weitere erschwerende Haftumstände hinzuträten. Das Kammergericht hat sich seiner Ansicht nach diesbezüglich nicht ausreichend mit den ihm drohenden Haftbedingungen auseinandergesetzt und ist daher seinen Prüfpflichten nicht hinreichend nachgekommen. Auch die nach der Rechtsprechung des EGMR bestehende Vermutung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK werde vorliegend nicht entkräftet. Die Haftraumgröße in B sei menschenunwürdig und verstoße gegen die Rechtsprechung des EGMR. Insbesondere seien die prekären Haftbedingungen im halboffenen Vollzug dem Gericht aus den bereits eingeholten Angaben der rumänischen Behörden bekannt. Dass er auch unter diesen Haftbedingungen im halboffenen Vollzug leben wird, sei keine nur abstrakte Möglichkeit, sondern wahrscheinlich und somit prüfbedürftig. Umso mehr, als dass seine 9 Monate in deutscher Untersuchungshaft auf seine Strafe angerechnet würden. Das Gericht hätte die Auslieferung nicht als zulässig befinden dürfen.

Nach Ausschöpfung des Rechtswegs wendet sich R mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 10. August 2018. Er rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK und Art. 1 I GG. Von einer fristgemäßen Erhebung sowie der Richtigkeit der genannten Rechtsprechung ist auszugehen.

Hat die Verfassungsbeschwerde des R Erfolg?

§ 73 IRG – Grenze der Rechtshilfe

[…] 2Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten, Zehnten und Dreizehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.

§ 79 IRG – Grundsätzliche Pflicht zur Bewilligung; Vorabentscheidung

(1) 1Zulässige Ersuchen eines Mitgliedstaates um Auslieferung oder Durchlieferung können nur abgelehnt werden, soweit dies in diesem Teil vorgesehen ist. […]


Skizze


Gutachten

Die Verfassungsbeschwerde des R hat Erfolg, sofern sie zulässig und soweit sie begründet ist.

A. Zulässigkeit

Zuerst müsste die Verfassungsbeschwerde zulässig sein.

I. Zuständigkeit

Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG für Individualverfassungsbeschwerden zuständig. 

II. Beschwerdefähigkeit

Gem. § 90 I BVerfGG ist „jedermann“ und somit auch R als natürliche Person beschwerdefähig. Auf seine Staatsbürgerschaft kommt es nicht an. 

III. Beschwerdegegenstand

Beschwerdegegenstand kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. R möchte gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 10.08.2018 vorgehen. Mithin handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.

IV. Beschwerdebefugnis

R müsste hinreichend geltend machen durch die Entscheidung des Gerichts in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt zum einen die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten und zum anderen eine Beschwer voraus.[1]Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 178.

1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung

Die Grundrechtsverletzung müsste möglich, also nicht von vornherein ausgeschlossen sein. 

a) Verletzung des Art. 3 EMRK

R beruft sich auf die Verletzung des Art. 3 EMRK. Gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG muss die Verletzung von Grundrechten gerügt werden. Die EMRK ist aber als von Deutschland unterzeichnetem völkerrechtlichen Vertrag gem. Art. 59 II 1 GG nur als einfaches Bundesrecht zu qualifizieren.[2]Es handelt sich ausweislich Art. 6 I GRCh insbesondere nicht um Europarecht, da die EU der EMRK (noch) nicht nach Art. 6 II, III EUV beigetreten ist. An dieser Stelle ist die EMRK daher irrelevant. … Continue reading Die Prüfung und Subsumtion einfachen Bundesrechts fällt gerade nicht in die Prüfungskompetenz des BVerfG.[3]BVerfG NJW 2011, 1931, 1935 Rn. 87; Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2020, 1022, 1026. Somit ist R hinsichtlich Art. 3 EMRK vor dem BVerfG nicht beschwerdebefugt.

b) Verletzung des Art. 4 GRCh

Gegebenenfalls könnte aber eine Verletzung des Art. 4 GRCh nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die GRCh überhaupt anwendbar ist und das BVerfG diese prüfen dürfte.

aa) Anwendbarkeit der Grundrechte

Fraglich ist zuerst, welche Grundrechte überhaupt anwendbar sind, da im EU-Inland durch die nationalen Grundrechte und die Grundrechtecharta ein „doppelter“ Schutz besteht. Das GG und die GRCh stehen also nebeneinander. Insoweit statuiert Art. 51 I 1 GRCh, dass die GRCh die Mitgliedsstaaten ausschließlich „bei der Durchführung des Rechts der Union“ bindet. Es ist daher zu erörtern, wann eine solche Durchführung des Unionsrechts vorliegt. Dabei kann zwischen voll-determinierten und nicht voll-determinierten Unionsrecht unterschieden werden.[4]Herdegen, Europarecht, 23. Aufl. 2021, § 10 Rn. 44 ff.; Wissenschaftlich ist sehr umstritten, wann eine solche Durchführung vorliegt (Vgl. Neumann/Eichberger, JuS 2020, 502, 504). Für die … Continue reading Bei Letzterem besteht, z.B. bei Richtlinien, ein Restbeurteilungsspielraum der Mitgliedsstaaten. Nationale Entscheidungen, die im Rahmen dieses Beurteilungsspielraums gefällt werden, müssen sich daher an nationalen Grundrechten messen lassen.[5]Vgl. zu dieser Konstellation den Recht auf Vergessen I Beschluss: https://staging.examensgerecht.de/recht-auf-vergessen-i-ii/ . Handelt es sich um voll-determiniertes Unionsrecht, genießt dieses als Konsequenz der Übertragung der Hoheitsbefugnisse gem. Art. 23 I 2 GG Anwendungsvorrang.[6]Grundlegend zum Anwendungsvorrang: EuGH, Coasta/ENEL, NJW 1964, 2371 ff.; EuGH, Simmenthal, NJW 1978, 1741 ff. Das bedeutet, dass die GRCh die deutschen Grundrechte in diesen Fällen verdrängt. 
Vorliegend ist Deutschland durch § 79 IRG, der den voll-determinierten RbEUHb umsetzt,[7]Zur voll-determinierten Natur des RbEUHb: BVerfG NJW 2016, 1149, 1152 Rn. 52. grundsätzlich verpflichtet auszuliefern. Ausnahmen von dieser Auslieferungspflicht, wie § 73 S. 2 IRG sie z.B. vorsieht, bemessen sich ausschließlich nach der Reichweite der GRCh, sprich nach Unionsrecht. Der EuGH hat umfassende und klare Rechtsprechung zu Art. 4 GRCh und dem Vollzug europäischer Haftbefehle entwickelt. Bei der Entscheidung über die Auslieferung wenden die Gerichte also schlicht das europäisches Recht an. Insoweit ist die GRCh anwendbar.[8]BVerfG NJW 2021, 1518, 1519 Rn. 34.

Anmerkung: Europäischer Haftbefehl und Grundrechtsbindung
Der RbEUHb hat selbst keine eigene Grundrechtsklausel, die Ausnahmen für der GRCh widersprechende, menschenrechtswidrige Auslieferungen vorsieht. Insofern hat der EuGH aber in seiner Rechtsprechung zu rumänischen und bulgarischen Gefängnissen eine Art ungeschriebene Ausnahme für den Vollzug europäischer Haftbefehle entwickelt.[9]EuGH NJW 2016, 1709 ff.; Vgl. dazu: Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäisches Unionsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 4 GRCh Rn. 7.
bb) Prüfungsumfang des BVerfG

Weiterhin ist aber zu erörtern, ob das BVerfG überhaupt Unionsgrundrechte prüfen darf. Dies hängt davon ab, was unter dem Begriff „Grundrechte“ zu verstehen ist und ob darunter auch Unions- oder nur nationale Grundrechte fallen.[10]Dazu grundlegend bzgl. Recht auf Vergessen I und II: https://staging.examensgerecht.de/recht-auf-vergessen-i-ii/ .

Auch wenn sich aus einer historischen Auslegung heraus ergibt, dass EU-Grundrechte grundsätzlich nicht erfasst werden, lässt der Wortlaut „Grundrechte“ eine weite Auslegung zu.[11]BVerfG NJW 2020, 314, 319 Rn. 67. Aus der mitgliedsstaatlichen Integrationsverantwortung gem. Art. 23 I 2 GG, die sich auch auf die Gerichte erstreckt, könnte sich insoweit ergeben, dass Deutschland am effektiven EU-Grundrechtsschutz mitwirken muss. Es gibt kein Äquivalent zur Verfassungsbeschwerde auf EU-Ebene,[12]Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, EU-GRCharta Art. 47 Rn. 10; Schroeder, Grundkurs EuropaR, 7. Aufl. 2021, § 15 Rn. 26. sodass bei fachgerichtlichen Entscheidungen keine unionale Überprüfung möglich ist und nur unzureichender Rechtsschutz im Rahmen des voll-determinierten Unionsrechts bestünde. Ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz ist demnach nur dann gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung auch die Unionsgrundrechte prüft.[13]BVerfG NJW 2021, 1518, 1519 Rn. 36; BVerfG NJW 2020, 314, 319 Rn. 60.. Dem EuGH verbleibt dabei aber die Zuständigkeit über die letztverbindliche Auslegung des Unionsrecht, weshalb das BVerfG die GRCh nur insoweit zum Prüfungsgegenstand machen kann, wie die Auslegung der fraglichen Bestimmung bereits geklärt ist – ansonsten bedarf es einer Vorlage nach Art. 267 III AEUV.[14]BVerfG NJW 2021, 1518, 1520 Rn. 39; Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 1032b. Die Reichweite und Auslegung des Art. 4 GRCh ist hier abschließend geklärt, sodass das BVerfG die vom EuGH entwickelten Maßstäbe nur anwenden muss.[15]BVerfG NJW 2021, 1518, 1526 Rn. 81. Es kann den Art. 4 GRCh daher im vorliegenden Verfahren prüfen. 

Vernetztes Lernen: Wieso gibt es keine Verfassungsbeschwerde auf EU-Ebene? Welche Rechtsschutzmöglichkeiten hat das Individuum auf EU-Ebene?
Als prozessuale Einkleidung kommen in der Examensklausur insbesondere das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV), die Nichtigkeits- und Untätigkeitsklage (Art. 263, 265 AEUV), das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) sowie eine Staatshaftungsklage (aus Art. 340 AEUV oder für Mitgliedsstaaten aus dessen Rechtsgedanke heraus) in Betracht. Welche Verfahrensart einschlägig ist, bestimmt sich insbesondere nach dem Rechtsschutzsuchendem und dem Verfahrensgegner, wobei bzgl. Letzterem sowohl Unionsorgane als auch die Mitgliedsstaaten in Betracht kommen.
Im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens fehlt es schon an der Klagebefugnis des Einzelnen, da das Verfahren nur Kommission und Mitgliedsstaaten berechtigt. Das Vorabentscheidungsverfahren wiederum schafft nur mittelbar Abhilfe, da es die Anstrengung des nationalen Rechtsschutzes voraussetzt, in dessen Rahmen das mitgliedsstaatliche Gericht dann an den EuGH vorlegen kann. Staatshaftungsrechtliche Ansprüche sind nur dann sinnvoll, wenn ein bereits eingetretener Schaden kompensiert werden soll.
Allein erfolgsversprechend ist daher die Nichtigkeitsklage. Hier scheitern Kläger:innen aber regelmäßig an der Klagebefugnis, Art. 263 IV AEUV. In den wenigsten Fällen wird eine Person „verwaltungsaktähnlich“ Adressat der unionalen Handlung sein (Alt. 1). Ferner ist auch Alt. 3 nur wenig hilfreich, da Rechtsakte mit Verordnungscharakter nicht sekundärrechtliche Verordnungen i.S.d. 288 I Alt. 1 AEUV meint, sondern nur Rechtsakte, die nicht im ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden.[16]EuGH, NVwZ 2014, 53, 55 Rn. 58 ff. Daher kommt es auf die unmittelbare und individuelle Betroffenheit durch den angegriffenen Rechtsakt an (Alt. 2). Hierbei ist regelmäßig die individuelle Betroffenheit problematisch, da eine solche nach der herrschenden Plaumann-Formel so gut wie nie gegeben ist: Es bedarf, dass die streitige Vorschrift den Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder wegen besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender, Umstände berührt.[17]EuGH, NJW 1963, 2246, 2246. So betroffen zu sein, wie andere auch, reicht also nicht aus.
Die Untätigkeitsklage wiederum erfasst als Klagegegenstand nur solche Akte, die, würden sie erlassen werden, auch Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein könnten, sodass sich die eben erörterte Problematik hier spiegelt.

Insgesamt gibt es damit kein Äquivalent zur deutschen Verfassungsbeschwerde, wobei diese Rechtsschutzlücke, insbesondere in Anbetracht von Art. 47 GRCh, vielfach kritisiert wird.[18]Nowak/Behrend, EuR 2014, 86, 95 ff.

cc) Zwischenergebnis

Die GRCh ist anwendbar und durch das BVerfG prüfbar. Ferner ist im konkreten Fall nicht ausgeschlossen, dass das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zulasten des R verletzt wurde, sodass die Möglichkeit einer Verletzung des Art. 4 GRCh besteht.

c) Ausnahmsweise parallele Anwendung deutsche Grundrechte

Darüber hinaus ist aber fraglich, ob parallel dazu auch ausnahmsweise deutsche Grundrechte geprüft werden könnten, obwohl es sich um eine voll unionsrechtlich determinierte Materie handelt. 

aa) Identitätskontrolle als Ausnahme des Anwendungsvorrangs

Dies ist wegen des oben erörterten Anwendungsvorrangs grundsätzlich abzulehnen. Eine Ausnahme vom Anwendungsvorrang gilt aber dann, wenn die Verfassungsidentität des deutschen Staates betroffen ist (sog. Identitätskontrolle).[19]BVerfG NJW 2021, 1518, 1520 Rn. 40, 58; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 73 Also immer dann, wenn durch eine Maßnahme Art. 79 III GG berührt wird, der auch die Menschenwürde umfasst. Dieser ist einer Verfassungsänderung unzugänglich und daher auch, wie Art. 23 I 3 GG zeigt, integrationsfest. Der vom Grundgesetz in Art. 1 I GG gewährleistete Schutz der Menschenwürde muss daher als absolutes Konstitutionsprinzip stets überprüfbar bleiben und kann dem deutschen Staat nicht entzogen werden,[20]Grundlegend: BVerfG NJW 2016, 1149, 1152 Rn. 49. sodass das BVerfG im Einzelfall trotz Anwendungsvorrang Unionsakte anhand des Art. 1 I GG prüfen kann. 

bb) Voraussetzungen der Identitätskontrolle

Wegen des europäischen Integrationsgedankens erfolgt die Identitätskontrolle jedoch nur in engen Grenzen und ausschließlich dann, wenn als Ausdruck erhöhter Zulässigkeitsanforderungen substantiiert dargelegt wird, inwieweit Art. 1 I GG im konkreten Fall verletzt wurde.[21]BVerfG NJW 2016, 1149, 1152 Rn. 50. 
R hat Ausführungen zu den Haftbedingungen und den bisherigen Verurteilungen Rumäniens, insbesondere auch im Hinblick auf die ihn etwaig betreffenden Haftanstalten getätigt. Zum einen werden an die Substantiierungserfordernisse wegen des Ausnahmecharakters der Identitätskontrolle aber hohe Anforderungen gestellt,[22]BVerfG NJW 2016, 1149, 1152 Rn. 50. zum anderen ist fraglich, ob Art. 1 I GG in seinen Gewährleistungen über Art. 4 GRCh hinausgeht. Mit der Gewährleistung der Grundrechte, wie sie sich in der GRCh finden, dürfte eine Berührung der von Art. 1 I i.V.m. Art. 23 I 3 und Art. 79 III GG verbürgten Grundsätze nämlich in der Regel vermieden werden.[23]BVerfG NJW 2021, 1518, 1520 Rn. 40. Insofern dient die Identitätskontrolle nur dazu, vereinzelten „Schutzlücken“ des EuGHs entgegenzuwirken.[24]Ruffert, JuS 2021, 374, 377. Die Maßstäbe des EuGH bezüglich der Auslegung des Art. 4 GRCh decken sich mit Art. 1 I GG sowohl hinsichtlich der Mindestanforderungen an Haftbedingungen als auch hinsichtlich der damit verbundenen Aufklärungspflichten.[25]BVerfG NJW 2021, 1518, 1524 Rn. 68. Dem Art. 1 I GG kommt hier also kein eigener Rechtsgehalt zu. Eine Begrenzung des Anwendungsvorrangs unter Rückgriff auf die Identitätskontrolle ist deshalb vorliegend nicht notwendig.[26]BVerfG NJW 2021, 1518, 1524 Rn. 68.

Anmerkung: Identitätskontrolle
Ruffert beschreibt die Prüfung des BVerfG hier sehr treffend: „Der Zweite Senat hält an seinem Identitätskontrollvorbehalt auch im Grundrechtsbereich fest, erkennt jedoch, dass die nunmehr auch von ihm verfolgte Linie des Ersten Senats im Normalfall dazu führt, dass der Kontrollvorbehalt nicht aktiviert werden muss.“[27]JuS 2021, 374, 376.
Ein anderes Ergebnis ist hier vertretbar, dann muss sich dieses Ergebnis in der Begründetheit entsprechend spiegeln, sodass zusätzlich Art. 1 I GG geprüft werden müsste. Insbesondere muss die Rechtsprechung hinsichtlich Art. 1 I GG nicht gekannt werden. Es genügt, wenn die Identitätskontrolle gesehen wird.
cc) Zwischenergebnis

Eine Verletzung von Art. 1 I GG ist daher ausgeschlossen und eine Identitätskontrolle nicht nötig.

d) Zwischenergebnis

Insgesamt erscheint daher also nur die Verletzung von Art. 4 GRCh möglich.

Anmerkung: Relevante Grundrechte im Fall
In seiner Verfassungsbeschwerde, die 2018 erhoben wurde, hatte sich der Beschwerdeführer ursprünglich nur auf die Verletzung von Art. 1 I, Art. 2 II 2, Art. 101 I 2 und Art. 103 I GG berufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der erste Senat des BVerfGs noch über Recht auf Vergessen II entschieden, in dessen Rahmen es 2019 erstmals die Prüfung der GRCh vornahm. Indem der zweite Senat hier also von Amts wegen die (an sich zulässige) Verfassungsbeschwerde so erweitert, als dass er Art. 4 GRCh prüft, schloss er sich der Rechtsprechung des ersten Senats an und bestätigt die Rechtsprechungslinie aus dem Recht auf Vergessen II Beschluss.[28]BVerfG NJW 2021, 1518, 1520, Rn. 41.
Diese Transferleistungen und vertiefte Kenntnis der Rechtsprechung kann von Studierenden nicht erwartet werden, sodass davon auszugehen ist, dass der Sachverhalt wie hier entsprechend modifiziert wird. Wichtig ist, dass die Grundsätze von Recht auf Vergessen II gekannt und angewendet werden können.[29]Vgl. https://staging.examensgerecht.de/recht-auf-vergessen-i-ii/.
Eine Ergänzung des Klagebegehrens um Art. 3 EMRK erfolgte aus rein didaktischen Gründen.

2. Betroffenheit

R müsste auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Bei Urteilsverfassungsbeschwerden ist dies i.d.R. unproblematisch gegeben, da der Beschwerdeführer durch den Beschluss persönlich und rechtskräftig adressiert wird.[30]Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 9. Aufl. 2020, § 51 Rn. 27.

V. Rechtswegerschöpfung

Die Verfassungsbeschwerde müsste dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung aus § 90 II BVerfGG sowie der Subsidiarität gerecht werden. R hat alle ihm zur Verfügungen stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeschöpft.[31]Zum Rechtsschutz im Auslieferungsverfahren: Kromrey/Morgenstern, ZIS 2017, 106, 107. Fachgerichtlicher Rechtsschutz i.S.d. Subsidiarität kann auch bei Urteilsverfassungsbeschwerden vereinzelt erforderlich sein,[32]Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 61. EL 2021, § 90 Rn. 413. ist hier aber nicht erforderlich, da auf fachgerichtlicher Ebene keine Abhilfe bzgl. der Grundrechtsverletzung zu erwarten ist. 

VI. Rechtsschutzbedürfnis

Es müsste auch ein Rechtsschutzbedürfnis des R vorliegen. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte wird dieses durch das Vorliegen der anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen indiziert.[33]Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 143. 

VII. Form- und fristgerechte Erhebung

Die Verfassungsbeschwerde müsste auch form- und fristgerecht i.S.d. §§ 23, 93 I BVerfGG erhoben worden sein. Diesbezüglich bestehen keine Bedenken.  

VIII. Zwischenergebnis

Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist daher zulässig. 

B. Begründetheit

Die Beschwerde ist begründet, wenn und soweit rechtswidrig in Grundrechte eingegriffen worden ist.

I. Prüfungsumfang des BVerfG

Vorliegend handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde, sodass fraglich ist, welcher Prüfungsmaßstab für das BVerfG anzulegen ist. Das BVerfG ist in dieser Hinsicht keine Superrevisionsinstanz. Zur Wahrung der fachgerichtlichen Kompetenzen und um das BVerfG vor Überlastung zu schützen, prüft es weder, ob die fachgerichtliche Tatsachenfeststellungen noch die einfachgesetzliche Rechtsanwendung zutreffend ist, sondern nur ob die Fachgerichte das spezifische Verfassungsrecht gewahrt haben.[34]Manssen, Staatsrecht II, 18. Auflage 2021, § 5 Rn. 140. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich daher im Folgenden darauf, ob die der Entscheidung zugrunde gelegte Norm verfassungswidrig ist, gegen verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien verstoßen wurde, die Gerichtsentscheidung unhaltbar und damit willkürlich ist oder die Anwendbarkeit von Grundrechten an sich, oder deren Tragweite und Bedeutung verkannt wurden.[35]Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 9. Aufl. 2020, § 51 Rn. 61. Diese Prüfungsmaßstab muss so entsprechend auf die GRCh übertragen werden.  

II. Verstoß gegen Art. 4 GRCh

Ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh liegt vor, wenn die GRCh anwendbar ist und ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich vorliegt. 

1. Anwendbarkeit der GRCh

Die GRCh ist gem. Art. 51 I GRCh bei Handeln von Unionsorganen stets und im mitgliedsstaatlichen Bereich bei Durchführung des Unionsrechts anwendbar. Im Rahmen der Durchsetzung des IRG wendet das Kammergericht faktisch den RbEUHb und damit voll-determiniertes Unionsrecht an (s.o.). Mithin hat der Sachverhalt einen unionsrechtlichen Bezug, sodass es sich um die Durchführung von Unionsrecht i.S.d. Art. 51 I GRCh handelt. 

2. Schutzbereich

Art. 4 GRCh schützt natürliche Personen vor Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bzw. Strafe. 

Vernetztes Lernen: Können sich juristische Personen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen?
Grundsätzlich können sich inländische, juristische Personen des Privatrechts auf alle Grundrechte berufen, die dem Wesen nach auf sie anwendbar sind, Art. 19 III GG.[36]Vgl. zur Sonderproblematik bei juristischen Personen des öffentliches Rechts: Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 161 ff. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG hat unmittelbaren Bezug zur Menschenwürde, die ihrerseits an das Menschsein anknüpft.[37]Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 9. Auflage 2020, § 27 Rn. 11. Insofern können sich juristische Personen nur auf die Teile des allgemeinen Persönlichkeitsrechts berufen, die nicht direkt an die Menschenwürde anknüpfen (so z.B. die Intimsphäre, postmortaler Persönlichkeitsschutz) und daher korporativ ausgeübt werden können.[38]Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 627. Dazu gehört unter anderem das Recht am eigenen Wort und die informationelle Selbstbestimmung.[39]Manssen, Staatsrecht II, 18. Aufl. 2021, Rn. 291;Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 627.
a) Berücksichtigung der EMRK

Bei der Auslegung der Reichweite von Art. 4 GRCh ist Art. 3 EMRK zu beachten. Dies wird einerseits am Wortlaut des Art. 4 GRCh deutlich, der den Art. 3 EMRK wörtlich wiedergibt,[40]Jarass, in: Jarass/Pieroth, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 4 Rn. 1. und ist andererseits Ausdruck der sog. Transformationsklausel in Art. 52 III 1 GRCh.[41]BVerfG NJW 2021, 1518, 1521 Rn. 47. Sofern ein Grundrecht in der GRCh ein korrespondierendes Gegenstück in der EMRK hat, soll demnach dem Grundrecht die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie in der EMRK verliehen werden.[42]Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 52 GRCh Rn. 21. Bedeutung und Tragweite werden dabei aber nicht nur durch den Vertragstext selber sondern auch durch die Rechtsprechung des EGMR bestimmt, sodass dessen Entscheidungen stets zu berücksichtigen sind.[43]Geiger/Khan/Kotzur, in: dies., EUV/AEUV, 6. Aufl. 2017, Art. 52 GRCh Rn. 3. Die Union hat lediglich die Möglichkeit einen weitergehenden Schutz als in der EMRK veranschlagt zu etablieren (Art. 52 III 2 GRCh). 

Demnach darf Art. 4 GRCh auf allen Ebenen nicht hinter dem Schutz der EMRK zurückbleiben, weshalb die Auslegung des Art. 3 EMRK und die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR für die Auslegung des Art. 4 GRCh verbindlich sind.[44]BVerfG NJW 2021, 1518, 1521 Rn. 47; Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäisches Unionsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 4 GRCh Rn. 2; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, … Continue reading

b) Konkrete Schutzbereichsbestimmung

Die etwaig zu erwartenden Haftbedingungen müssten in den Schutzbereich des Art. 4 GRCh fallen. In Anbetracht der Umstände ist nicht von Folter auszugehen, sodass nur die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Strafe in Betracht kommt.
Als Strafe werden alle Maßnahmen mit Sanktionscharakter verstanden.[45]Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 GRCh Rn. 8. Jedes andere staatliche Handeln fällt dann auffangtatbestandlich unter den Begriff der „Behandlung“. Diese ist als unmenschlich zu qualifizieren, wenn sie absichtlich schwere psychische oder physische Leiden verursacht, die in der bestimmten Situation ungerechtfertigt sind oder erniedrigend, sofern sie in den Opfern Gefühle der Angst, des Schmerzes und der Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, sie zu demütigen.[46]Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 GRCh Rn. 7. Sofern die Haftbedingungen Qualen oder Härten mit sich bringen, die über das unvermeidliche Maß an Leiden, das mit der Inhaftierung verbunden ist, hinausgehen, widerspricht dies der Menschenwürde.[47]EGMR, KUDŁA v. POLAND, Urt. v. 26.10.2000, App. No. 30210/96, Rn. 94. Die für R in Aussicht stehende Haft kann als sanktionierende Vollzugsmaßnahme als Strafe verstanden werden. Sofern prekäre Haftbedingungen in den rumänischen Gefängnissen vorliegen, sind diese auch geeignet ein Gefühl der Unterlegenheit und eine demütigende Wirkung zu vermitteln. Der Schutzbereich ist mithin eröffnet. 

Anmerkung: Verzahnung von GRCh und EMRK
Die Schwierigkeit des Falls besteht insbesondere darin, die rechtliche Verzahnung von GRCh und EMRK zu erkennen. Während es sich bei der EMRK um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der mangels Beitrittes der EU zur EMRK (noch) nicht dem Unionsrecht zugehörig ist, ist die GRCh inhaltlich an die (ältere) EMRK angelehnt und unter anderem über Art. 6 I UAbs. 3 EUV und Art. 52 III GRCh mit dieser verwoben. Mit diesem Wissen ist der zweifelsohne schwere Sachverhalt, der sich zwar auf die GRCh bezieht, aber zur Argumentation die Rechtsprechung des EGMR zur EMRK heranzieht, lösbar. Es ist daher stets wichtig die grundsätzliche, rechtliche Unabhängigkeit von GRCh und EMRK herauszuarbeiten, um dann wiederum dessen Überschneidungen und kooperative Wirkweise darzustellen.

3. Eingriff 

Ein Eingriff in Art. 4 GRCh liegt vor, wenn der Grundrechtsadressat eine Handlung vornimmt oder anordnet, die in den oben definierten Schutzbereich fällt.[48]Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 GRCh Rn. 16. Problematisch erscheint daran, dass die fraglichen Haftbedingungen vom rumänischen Staat angeordnet wurden. Deutschland hingegen entscheidet nur über die Auslieferung. Jedoch zeigt Art. 19 II GRCh, dass auch ausliefernde Staaten hinsichtlich der Überstellung einer Grundrechtsbindung unterliegen. Die Vollstreckung eines Haftbefehls darf demnach nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen.[49]EuGH, Haftbedingungen in Ungarn, NJW 2018, 3161, 3163 Rn. 59; EuGH, Dorobantu, BeckRS 2019, 24468 Rn. 51.

Dabei gilt grundsätzlich, dass die Mitgliedsstaaten der EU als Ausdruck des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung den jeweils anderen Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Einhaltung des Unionsrechts vertrauen müssen, sodass die Grundrechtskonformität des staatlichen Handelns grundsätzlich unterstellt wird.[50]BVerfG NJW 2021, 1518, 1520 Rn. 43; Obwohl das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens anerkannt ist, wird dessen normative Verortung uneinheitlich bewertet. Die Mehrheit tendiert aber wohl zu Art. 4 … Continue reading) Eine Ausnahme dieses gegenseitigen Vertrauens ist aber dann notwendig, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die die Gefahr einer erniedrigen oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe begründen.[51]BVerfG NJW 2021, 1518, 1521 Rn. 44. Ob solche außergewöhnlichen Umstände vorliegen, ist in einer zweischrittigen Prüfung festzustellen: Erstens muss geprüft werden, ob anhand objektiver und zuverlässiger Quellen Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel der generellen Haftbedingungen in dem anderen Mitgliedsstaat bestehen. Zweitens ist festzustellen, ob es auch im konkreten Fall ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh ausgesetzt wird.

Das Kammergericht unterliegt also von Amts wegen einer Prüfpflicht. Sollte es seinen Aufklärungspflichten nicht ausreichend nachgekommen sein und die Haftbedingungen nicht hinreichend geprüft haben oder trotz einer negativen Prognose ausliefern wollen, liegt ein Eingriff in Art. 4 GRCh vor.

a) Durch Auslieferung in den geschlossenen Vollzug

Das Kammergericht könnte diese Aufklärungspflicht hinsichtlich des geschlossenen Vollzugs verletzt haben. 

Wegen des absoluten Charakters der Menschenwürde, an die Art. 4 GRCh anknüpft, darf das Gericht seine Prüfung nicht nur auf offensichtliche Mängel erstrecken, vielmehr muss diese auf einer umfassenden Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen.[52]BVerfG NJW 2021, 1518, 1521 Rn. 46. Demnach genügt es nicht, nur auf die Haftraumgröße von 3 m² pro Person abzustellen, weil der dem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum zwar ein bedeutender, aber nicht der alleinige Faktor für die Bewertung der unmenschlichen oder erniedrigenden Handlung ist.[53]BVerfG NJW 2021, 1518, 1525 Rn. 72. Es muss also berücksichtigt werden, ob weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten. Das Kammergericht hat sich hierbei auf die Zusicherungen der rumänischen Behörden verlassen und keine weiteren Nachforschungen angestellt. Dies ist in Anbetracht des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung grundsätzlich legitim, da die Haftbedingungen im ersuchenden Staat von deutschen Gerichten nicht stets umfassend aufgeklärt und gewürdigt werden müssen.[54]BVerfG NJW 2021, 1518, 1524 Rn. 66. Andernfalls wäre der internationale und europäische Rechtshilfeverkehr nicht funktionsfähig.[55]BVerfG NJW 1518, 2021, 1524 Rn. 63. Etwas anderes muss aber dann gelten, wenn dieses Vertrauen erschüttert wird, insbesondere wenn tatsächliche, aussagekräftige Anhaltspunkte dahingehend bestehen, dass die Mindestanforderungen des Art. 4 GRCh im Falle der Auslieferung nicht erfüllt würden.[56]BVerfG NJW 2021, 1518, 1524 Rn. 67. Der EGMR hat Rumänien mehrfach wegen der unzureichenden Haftbedingungen verurteilt, wobei auch die Anstalten in denen R untergebracht werden soll, betroffen waren. Insofern bestehen aussagekräftige Anhaltspunkte, dass eine Gefahr für menschenunwürdige Behandlung besteht, die geeignet sind, dass Vertrauen zu erschüttern. Trotzdem hat das Kammergericht keine weitere konkrete Prüfung bzgl. der Haftbedingungen unternommen, sondern sich alleinig auf die Angaben Rumäniens verlassen. Das Kammergericht hat daher seine Aufklärungspflicht verletzt.

b) Durch Auslieferung in den halboffenen Vollzug

Fraglich ist, ob das Kammergericht seine Prüfpflichten auch bezüglich des halboffenen Vollzugs verletzt hat. Dies setzt zuerst voraus, dass das Gericht überhaupt verpflichtet war seine Prüfung auch auf den halboffenen Vollzug auszudehnen. 

aa) Erstreckung der Aufklärungspflicht auf den halboffenen Vollzug

Das Kammergericht hat argumentiert, dass die Verlegung und damit die tatsächliche Unterbringung in Anstalt B nicht konkret zu erwarten sei, sondern noch völlig offen. Zutreffend ist zwar, dass das Gericht nicht jegliche Haftanstalten in dem ersuchenden Mitgliedstaat untersuchen muss. Jedoch kann es andererseits seine Prüfung nicht nur auf diese Anstalten beschränken, bei denen sicher feststeht, dass der Auszuliefernde in ihnen untergebracht wird.[57]BVerfG NJW 2021, 1518, 1525 Rn. 74. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt vielmehr.[58]BVerfG NJW 2021, 1518, 1525 Rn. 74. Dabei ist zu berücksichtigen, dass R bereits 9 Monate seiner Haft verbüßt hat und die Beurteilung über die Verlegung in den halboffenen Vollzug nach einem Fünftel der Haftstrafe, also nach 12 Monaten, vorgenommen wird, die Überführung nach B also schon alsbald erfolgen könnte.[59]BVerfG NJW 2021 1518, 1525 Rn. 76. Diese Überführung ist üblich, ebenso war bereits die dann in Betracht kommende Haftanstalt bekannt. Dass das Verhalten des R für diesen Prozess relevant ist, steht dem nicht entgegen, da es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass diese Prognose negativ ausfallen würde. In Anbetracht der Absolutheit des Rechts auf menschenwürdige Behandlung muss daher von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, weshalb sich die Aufklärungspflicht des Gerichts auch auf die Haftbedingungen in der zweiten Haftanstalt erstreckt.

bb) Verletzung des Art. 4 GRCh hinsichtlich des halboffenen Vollzugs

Fraglich ist, ob die Haftbedingungen in B gegen die Mindestgarantien aus Art. 4 GRCh verstoßen würden.

Zwar genügt die Haftraumgröße andersherum auch nicht an sich, um eine menschenunwürdige oder erniedrigende Strafe zu begründen, so besteht nach Rechtsprechung des EGMR eine Vermutung dahingehend, dass eine Haftraumgröße von unter 3m2 grundsätzlich als Verstoß gegen Art. 4 GRCh zu werten sei.[60]BVerfG NJW 1518, 1525 Rn. 76. Etwas anderes gilt dann, wenn es sich dabei lediglich um eine kurzzeitige, gelegentliche und geringfügige Unterschreitung des persönlichen Raums von 3 m² handelt, eine ausreichende Bewegungsfreiheit und Betätigungsmöglichkeiten außerhalb des Haftraums gewährleistet ist und der Auszuliefernde insgesamt in einer angemessenen Haftanstalt ohne zusätzliche erschwerende Umstände untergebracht wird.[61]EuGH, Dorobantu, BeckRS 2019, 24468 Rn. 73. Nur bei kumulativem Vorliegen dieser Voraussetzungen kann die Vermutung widerlegt werden. Im halboffenen Vollzug können sich die Häftlinge zwischen 8 und 11.30, 13 bis 18 und 19 bis 22 Uhr in der Anstalt und auf dem Hof frei bewegen, sodass sich die Aufschlusszeit insgesamt auf 8,5 Stunden beschränkt und die restlichen 15,5 Stunden in der Zelle verbracht werden müssen. Dabei handelt es sich nicht um eine kurzzeitige, gelegentliche und geringfügige Unterschreitung des persönlichen Raums.[62]BVerfG NJW 2018 1518, 1526 Rn. 78. Bezüglich der anderen Voraussetzungen hat das Gericht mangels weiterer Nachforschung keine Ausführungen gemacht, sodass auch diesbezüglich die Vermutung nicht widerlegt wurde. Mithin verletzen die Haftbedingungen in B den R in seinem Recht aus Art. 4 GRCh, sodass die Zulässigkeitserklärung der Auslieferung durch das Kammergericht ein Eingriff in dieses Recht darstellt.

4. Rechtfertigung

Grundsätzlich gilt für alle Grundrechte der GRCh die einheitliche Schranke des Art. 52 I GRCh. Jedoch gilt eine Ausnahme für absolute Grundrechte, zu denen Art. 1, Art. 4 und Art. 5 GRCh gehören.[63]Knoth/Seyer, JA 2021, 928, 932; Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2020, 1022, 2016 Dies gilt umso mehr, als dass auch Art. 3 EMRK nicht einschränkbar ist, sodass sich dieses Ergebnis aus der Kongruenz von Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK ergibt.[64]Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 4 GRCh Rn. 3. Insofern gilt, dass „niemand“ einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sowie Strafe unterworfen werden darf. Ein Eingriff in Art. 4 GRCh ist daher nicht rechtfertigbar und per se rechtswidrig.

III. Zwischenergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

C. Ergebnis 

Die Verfassungsbeschwerde des R hat Erfolg.


Zusatzfragen

1. Welche Fallgruppen gibt es insgesamt bei denen das Grundgesetz trotz Anwendungsvorrang des Unionsrechts anwendbar bleibt?
Insgesamt lassen sich drei examensrelevante Fallgruppen herausarbeiten, in denen das BVerfG Unionsakte anhand deutscher Grundrechte prüft. Eine davon ist die oben besprochene Identitätskontrolle.

Von der oben besprochenen Identitätskontrolle zu unterscheiden ist der Fall, in dem das Grundrechtsschutzniveau, das vom EuGH gewährleistet wird, nicht nur im konkreten Einzelfall, sondern insgesamt und damit ganz generell unter dem gewährleistetem deutschen Grundrechtsschutz abfällt.[65]Ruffert, JuS 2021, 374, 375. Diese Konstellation ist auch unter dem Begriff der „Solange“ Rechtsprechung bekannt: Solange die EU einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der EU generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz gebotenen, unabdingbaren Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleicht, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab des Grundgesetzes prüfen (Solange II).[66]BVerfG, NJW 1987, 577, 582 Ursprünglich hat das BVerfG vertreten, dass, solange in der EU kein zum Grundgesetz vergleichbarer Grundrechtskatalog besteht, eine Vorlage von Unionsrecht an das BVerfG zulässig ist (Solange I.).[67]BVerfG, NJW 1974, 1697, 1699 Mit fortschreitender Rechtsprechung des EuGH zu Grundrechten, die unter anderem aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten hergeleitet wurden[68]Vgl. dazu heute: Art. 52 IV GRCh., bildete sich eine Art richterlicher Grundrechtsschutz, sodass dies hinfällig wurde, weshalb das BVerfG dieser Rechtsprechung in seinem eben angeführten Solange II-Beschluss den Rücken kehrte. Die Solange II Rechtsprechung gilt daher fort – fraglich ist aber, wie relevant die Solange II Rechtsprechung faktisch in der Prüfung ist, da das grundlegende Schutzlevel der GRCh wohl eher nicht unter das des Grundgesetzes abfallen wird.[69]IErg ähnl.: Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 1032.

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit einer ultra-vires Kontrolle. Die Möglichkeit der selben wurde erstmals im Maastricht-Urteil angedeutet,[70]NJW 1993, 3047, 3053) eine erstmalige Prüfung erfolgte dann im Rahmen des Lissabon-Urteil.[71]BVerfG NJW 2009, 2267, 2272 Rn. 240 f. Die Voraussetzungen der ultra-vires Kontrolle wurden im Zuge des Honeywell-Beschluss weiter konkretisiert: Es komme darauf an, dass der Pflichtverstoß der Unionsorgane hinreichend qualifiziert, offensichtlich und strukturwirksam für Deutschland ist.[72]BVerfG, NJW 2014, 907, 908 Rn. 36 ff.). Erstmalig angenommen wurde ein solcher Verstoß dann im PSPP Urteil.[73]Hier eingehend besprochen: https://staging.examensgerecht.de/eugh-und-ezb-ultra-vires/.

2. Das BVerfG kann keine direkte Verletzung der EMRK prüfen, sondern nur bei Prüfung der GRCh diese zur Auslegung heranziehen. Kann die EMRK vor dem BVerfG auch abseits der GRCh prüfungsrelevant werden?
Grundsätzlich gilt im deutschen Recht der Grundsatz der völkerrechts- sowie menschenrechtsfreundlichen Auslegung. Dieser Grundsatz kann aus der Zusammenschau verschiedener Normen im Grundgesetz entnommen werden: z.B. aus Art. 1 II i.V.m. 59 II GG oder Art. 20 III i.V.m. 59 II GG, aber auch aus der generell internationalen Ausrichtung der Verfassung, die Art. 23 und Art. 24 GG nahelegt. Dadurch, dass der Bundesgesetzgeber einem völkerrechtlichen Vertrag gemäß Art. 59 II GG zustimmt, „befiehlt“ er auch seine Anwendung.[74]BVerfG NJW 2004, 3407, 3408. Bei dessen Nichtbeachtung würde die Bundesrepublik sonst ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzen, sodass diese auch bei der Anwendung des deutschen Rechts zu beachten sind. Die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR müssen also als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes herangezogen werden.[75]BVerfG NJW 2011, 1931, 1935 Rn. 88. Der Rechtsprechung des EGMR kommt insoweit, sofern Deutschland nicht selbst Prozesspartei ist, eine Orientierungs- und Leitfunktion zu.[76]BVerfG NJW 2011, 1931, 1935 Rn. 89.

Auswirkungen kann dies vor allem in der materiellen Verfassungsmäßigkeit haben[77]M.w.N. zu Klausurkonstellation bzgl. der EMRK: Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2020, 1022, 1026.: So hat das BVerfG bei der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Sicherheitsverwahrung die EMRK herangezogen, um den Maßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu konkretisieren.[78]BVerfG NJW 2011, 1931, 1937 Rn. 100. I.R.d der verfassungsrechtlichen Bewertung des Streikverbots von Beamten hat die EMRK sogar einen eigenen Prüfungspunkt nach der Verhältnismäßigkeit zugeordnet bekommen, in der die Kompatibilität mit der EMRK geprüft wurde.[79]Vgl. BVerfG NVwZ 2018, 1121, 1127 Rn. 136, 163 ff.; eine klausurartige Besprechung findet sich in: Boulakhrif, HanLR 2019, 9, 16. Unabhängig des genauen Standpunktes in der Klausur kommt es vor allem darauf an, dass die „unterstützende“ Funktion der EMRK gesehen und bei der Auslegung berücksichtigt wird.

Zusammenfassung:

1. Im Bereich des voll-determinierten Unionsrecht prüft das BVerfG wegen des Anwendungsvorrangs anhand der GRCh. Eine Ausnahme kann im Wege der Identitätskontrolle (Art. 23 I 3, 79 III GG) dann gelten, wenn die Menschenwürde aus Art. 1 I GG betroffen ist.

2. Bei der Auslegung der GRCh ist über Art. 52 III 1 GRCh die EMRK sowie die konkretisierende Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen.

3. Grundsätzlich ist die Unionskonformität des staatlichen Handelns anderer EU-Mitgliedsstaaten als Ausprägung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Anerkennung zu unterstellen. Dieses Vertrauen ist aber (im Rahmen des europäischen Haftbefehls) erschüttert, sofern es objektive und zuverlässige Anhaltspunkte dafür gibt, dass die allgemeinen Haftbedingungen im ersuchenden Mitgliedsstaat eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen bergen.

4. In solchen Fällen besteht aus Art. 4 GRCh von Amtswegen eine Aufklärungspflicht hinsichtlich der konkret zu erwartenden Haftbedingungen. Dieses erstreckt sich auf alle Haftanstalten, in denen der Auszuliefernde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit untergebracht wird.


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