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E-Scooter

LG Oldenburg, Beschluss vom 07.11.2022 – 4 Qs 368/22 – SVR 2023, 36

Sachverhalt

A befährt auf einem E-Scooter (Gewicht ca. 20 kg; bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit von nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr als 20 km/h) zur Nachtzeit einen Radweg. Hinter ihm steht der B, der sich zur Stabilisierung am Lenkrad festhält, weil ihm das Festhalten an der Taille des A unangenehm ist. Die Geschwindigkeit des Fahrzeuges und die aktive Lenkung übernimmt allein der A. B weist zu diesem Zeitpunkt eine BAK von 1,2 Promille auf.

Strafbarkeit des B? 

Auszug von der Verordnung über die Teilnahme von Elektrokleinfahrzeuge im Straßenverkehr (eKFV)

§ 1 Anwendungsbereich

(1) Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne dieser Verordnung sind Kraftfahrzeuge mit elektrischem Antrieb und einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr als 20 km/h, die folgende Merkmale aufweisen:

1. Fahrzeug ohne Sitz oder selbstbalancierendes Fahrzeug mit oder ohne Sitz,

2. eine Lenk- oder Haltestange von mindestens 500 mm für Kraftfahrzeuge mit Sitz und von mindestens 700 mm für Kraftfahrzeuge ohne Sitz,

3. eine Nenndauerleistung von nicht mehr als 500 Watt, oder von nicht mehr als 1400 Watt, wenn mindestens 60 Prozent der Leistung zur Selbstbalancierung verwendet werden. Die Nenndauerleistung ist nach dem Verfahren gemäß DIN EN 15194:2018-112 oder den Anforderungen der Regelung Nr. 85 der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) – Einheitliche Bedingungen für die Genehmigung von Verbrennungsmotoren oder elektrischen Antriebssystemen für den Antrieb von Kraftfahrzeugen der Klassen M und N hinsichtlich der Messung der Nutzleistung und der höchsten 30-Minuten-Leistung elektrischer Antriebssysteme (ABl. L 323 vom 7.11.2014, S. 52) zu bestimmen,

4.  eine Gesamtbreite von nicht mehr als 700 mm, eine Gesamthöhe von nicht mehr als 1400 mm und eine Gesamtlänge von nicht mehr als 2000 mm und

5. eine maximale Fahrzeugmasse ohne Fahrer von nicht mehr als 55 kg.[…]


Skizze


Gutachten

Strafbarkeit gem. § 316 I StGB

B könnte sich gem. § 316 Abs. 1 StGB der Trunkenheit im Straßenverkehr strafbar gemacht haben, indem er während er eine BAK von 1,2 Promille aufweist, hinter A auf dem Roller steht und sich am Lenker festhält. 

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand
a) Fahrzeug

Zunächst müsste es sich bei dem E-Scooter um ein Fahrzeug i.S.d. § 316 StGB handeln. Als Fahrzeug wird allgemein jedes zur Ortsveränderung bestimmte Fortbewegungsmittel zur Beförderung von Personen oder Gütern verstanden. Unerheblich ist, ob das Fahrzeug durch Maschinen- oder Muskelkraft angetrieben wird.[1]Pegel, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. 2022, § 315c Rn. 8. E-Scooter dienen primär durch Maschinenkraft bewirkt der Fortbewegung von Personen. Abgesehen davon unterfallen sie schon nach dem auf sie zugeschnittenen Wortlaut des § 1 Abs. 1 eKFV dem Kraftfahrzeugbegriff.[2]Steinert, SVR 2023, 36, 37.

Vernetztes Lernen: Wo wird im StGB auf den engeren Kraftfahrzeugbegriff (Betrieb durch Maschinenkraft) abgestellt?
§ 248b Abs. 1 Alt. 1 StGB, der aber ausdrücklich auch auf Fahrräder anwendbar ist (Unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs)
§ 315d StGB (Verbotene Kraftfahrzeugrennen)
b) Fahrzeugführereigenschaft

Weiterhin müsste der B das Fahrzeug führen. Ein Fahrzeug führt, wer sich selbst aller oder wenigstens eines Teils der wesentlichen technischen Einrichtungen des Fahrzeuges bedient, die für seine Fortbewegung bestimmt sind, das Fahrzeug also unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Allein- oder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder das Fahrzeug unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt.[3]BGHSt 18, 6, 8 f.; BGHSt 35, 390, 393; BGHSt 36, 343; Pegel, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. 2022, § 315c Rn. 14. Während eine Bedienung der wesentlichen technischen Einrichtungen zur Fortbewegung für den A, der sowohl die Längs- als auch Querführung kontrolliert bejaht werden kann, bestehen Zweifel hinsichtlich des B (sog. Sozius), der sich allein zur Stabilisierung seiner Standposition am Lenkrad festhält und keine aktiven Lenkungsmanöver vornimmt.

Zunächst ist es für die Tätigkeit des Führens unbeachtlich, dass allein der Vordermann A die Geschwindigkeit des Fahrzeuges gehörend zur Längsführung reguliert. Ausreichend wäre es, wenn der B den Lenkungsapparat bedient und jedenfalls unter Mitverantwortung in Bewegung setzt. Fraglich ist daher, ob das Festhalten am Lenker unabhängig von aktiven Lenkbewegungen nach rechts oder links dennoch ein Lenkvorgang ist, der dem Begriff des Führens genügt.[4]So LG Oldenburg SVR 2023, 36. Es ließe sich argumentieren, dass das Festhalten eine Art natürliches Geradeauslenken darstellt und ein aktives Lenken in eine andere Richtung das Zusammenwirken beider Fahrer erfordert, sodass es sich um eine Art mittäterschaftliches Führen handele.[5]LG Oldenburg SVR 2023, 36. Zudem lässt sich für eine Fahrzeugführerschaft anführen, dass anders als beim Festhalten an der Taille eine unmittelbare Einwirkung auf den Fahrtvorgang stattfinde.[6]LG Oldenburg SVR 2023, 36. Es könnte sich zusätzlich eine teleologische Betrachtung Anbieten: Die Sicherheit des Straßenverkehrs ist auch durch den sich auf dem Lenker abstützenden Sozius im betrunkenen Zustand gefährdet, weil dieser durch bewusste oder unbewusste Lenkbewegungen das Fahrzeug in der Spur hält oder Lenkbewegungen des Vordermannes verstärkt.[7]LG Oldenburg SVR 2023, 36 f.; so auch Kääb, FD-StrVR 2022, 454476; zust. i.E. auch Hecker, JuS 2023, 275, 277. Für eine restriktive Auffassung in diesem Kontext lässt sich andererseits anführen, dass die teleologische Betrachtung zwar keine Reduktion des Tatbestandes nahelegt, aber eben auch keine Extension jenseits der Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG tragen kann. Denn dass ein fahruntüchtiger Sozius eine abstrakte Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs darstellt, trifft eben auch für den Soziusfahrer zu, der sich an der Taille des Vordermannes festhält, sei es auf einem Kraftrad oder einem E-Scooter. Es lässt sich weiterhin einwenden, dass von einem gemeinsamen Bedienen der Lenkvorrichtungen nicht gesprochen werden kann, weil der vermeintliche Beitrag des B nicht erforderlich zum Führen des Fahrzeuges ist. Schließlich übernimmt der A planmäßig auch die Lenkvorgänge bei der Fahrt. Allgemeinhin dürfte aber für die Führereigenschaft zu fordern sein, dass jeder Beteiligte eine Funktion ausübt, ohne die eine zielgerichtete Fortbewegung des Fahrzeugs im Verkehr nicht möglich ist. [8]Hecker, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 316 Rn. 20; krit. zum hiesigen Fall Steinert, SVR 2023, 36, 38. Damit dürften auch Zweifel an der Formulierung adressiert sein, dass beide Personen den E-Scooter in einer „Art Mittäterschaft“ führten. Denn das Verhalten des B war zu keinem Zeitpunkt darauf ausgerichtet, einen Beitrag zur Lenkung und damit zur Fahrzeugführung zu leisten. Schon ein auf die Übernahme einer Rolle bei der Lenkung durch B gerichteter gemeinsamer Tatplan dürfte daher, wenn man im Bilde der Mittäterschaft bleibt, fehlen. Aus diesen Gründen wird mit Blick auf die Wortlautgrenze (Art. 103 Abs. 2 GG) hier vertreten, dass es an einer Fahrzeugführereigenschaft fehlt.

Anmerkung: Andere Ansicht
Die andere Ansicht wird mit den genannten Argumenten nicht nur von dem LG Oldenburg, sondern auch von den ersten Besprechungen überwiegend vertreten[9]LG Oldenburg SVR 2023, 36 f.; Kääb, FD-StrVR 2022, 454476; Hecker, JuS 2023, 275, 277. und kann daher selbstverständlich auch in der Klausur gewählt werden. Es wäre sodann zu fragen, ob der B absolut fahruntüchtig war.
Anmerkung: Absolute und relative Fahruntüchtigkeit bei E-Scootern?
Das LG Oldenburg nimmt eine Fahrzeugführereigenschaft an, weshalb die Frage zu beantworten war, ab welchem Promillewert eine absolute Fahruntüchtigkeit anzunehmen ist. Über die Übertragbarkeit der Grenzwerte beim Führen von Kraftfahrzeugen (absolute Fahruntüchtigkeit bei 1,1 pro Mille) herrscht Streit, wobei sich die h.M. und zuletzt der 61. Deutsche Verkehrsgerichtstag für eine solche Anwendbarkeit und gegen die Grenze beim Fahrradfahren (1,6 pro Mille) aussprachen. Eine ausführliche Darstellung des Streites findet sich im Fall „Eine betrunkene Fahrt mit dem E-Scooter“. Eine aktuellere Darstellung des Meinungsstandes findet sich bei Kerkmann, NZV 2023, 25, 27; sowie Zeyher, HRRS 2022, 218, 219 ff.
Vernetztes Lernen: Wie wird der Promillewert zurückgerechnet?
In der Praxis ist es die Regel, dass die Feststellung der Blutalkoholkonzentration nicht zum Zeitpunkt des Fahrzeugführens sondern erst nachträglich festgestellt wird. Daher ist es notwendig, den BAK durch Rückrechnung zu bestimmen. Es wird angenommen, dass jeder Mensch zwischen 0,1 und 0,2 Promille pro Stunde abbaut. Da dieser Wert je nach Person und Tagesform variiert ist mit dem in dubio pro reo-Grundsatz von dem für den Täter vorteilhaften Wert auszugehen. und zusätzlich ein Sicherheitszuschlag von 0,2 in die eine oder andere Richtung einzuberechnen. Für die Straßenverkehrsdelikte ist im Zweifel von einem geringeren Abbau auszugehen, sodass der Täter möglichst „nüchtern gerechnet wird“. Relevant ist erst das Ende der Resorptionsphase, weshalb regelmäßig die ersten zwei Stunden nach Trinkende nicht berücksichtigt werden.[10]Hecker, in: Schönke/Schröder, § 316 Rn. 17. Bei der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit (§§ 20 f. StGB) wird der Täter andersherum möglichst „betrunken zur Tatzeit gerechnet“, also von einem höheren Abbauwert ausgegangen. Hier wird ein einmäliger Sicherheitszuschlag von 0,2 Promille gewährt.[11]Perron/Weißer, in: Schönke/Schröder, § 20 Rn. 16 f.

Bsp.: T fährt um 15:00 Uhr mit seinem Auto und wird wegen Fahrauffälligkeiten angehalten. Der Bluttest wird um 20:00 Uhr vorgenommen und ergibt eine BAK von 0,6 Promille.

§ 316 StGB: 0,6+3×0,1=0,9 Promille
§§ 20 f. StGB: 0,6+5×0,2+0,2=1,8 Promille

2. Zwischenergebnis

Der Tatbestand des § 316 StGB ist mangels Fahrzeugführereigenschaft nicht erfüllt.

II. Ergebnis

B hat sich nicht gem. § 316 StGB strafbar gemacht.


Zusatzfragen

1. Ist der begleitende Fahrlehrer Fahrzeugführer i.S.d. Para. 316 StGB?
Zunächst einmal könnte § 2 XV 2 StVG, der dem Fahrlehrer eine Fahrzeugführereigenschaft zuschreibt als Anknüpfungspunkt dienen. Dass dort die Führereigenschaft für den Fahrlehrer fingiert wird, dient jedoch primär dem Zweck, den Fahrschüler von einer Haftung zu befreien und potenziell Geschädigten einen Adressaten i.S.v. § 18 StVG zur Verfügung zu stellen.[12]Mitsch, NStZ 2015, 409, 412. Es lässt sich sogar argumentieren, dass die Fiktion gegen die Fahrzeugführereigenschaft spreche, weil es sie nicht brauchen würde, wenn eine Eigenschaft schon nach allgemeinen Grundsätzen anzunehmen wäre.[13]BGH NJW 2015, 1124, 1125.
Richtigerweise ist zu differenzieren: Wenn der Fahrlehrer während der Fahrt tatsächlich eingreift, dann dürfte regelmäßig die Fahrzeugführereigenschaft zu bejahen sein. Problematischer ist hingegen die Konstellation, in der der Fahrzeuglehrer allein mündliche Anweisungen an den Fahrschüler gibt. Vereinzelt wird hier angenommen, dass das „Eingreifen-Können“ des Fahrlehrers eine hinreichende Mitbeherrschungsmöglichkeit in sich trage, um die Eigenschaft bejahen zu können.[14]Wolters, in: SK-StGB, § 316 Rn. 13. Überzeugender ist es derweil mit Blick auf die Wortlautgrenze in Fällen der allein mündlichen Anleitung eine Fahrschülers die Führereigenschaft abzulehnen.[15]Jahn, JuS 2015, 372, 373 f. Ein anderes kann jedenfalls auf der Grundlage der h.M., die den § 316 StGB als eigenhändiges Delikt beschreibt auch nicht über die mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB) angenommen werden.[16]Jahn, JuS 2015, 372, 373; König, in: LK-StGB, LK-StGB, § 316 Rn. 42.
2. Gesetzt den Fall, man nimmt wie das LG Oldenburg die Einschlägigkeit des Para. 316 StGB an, ist es möglich, dem B noch während des Ermittlungsverfahrens die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen?
Nach § 111a Abs. 1 S. 1 StPO kann der Richter dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis bereits im Ermittlungsverfahren vorläufig entziehen, wenn die Annahme gerechtfertigt ist, dass dem Beschuldigten gem. § 69 StGB die Fahrerlaubnis im Hauptsacheverfahren entzogen wird. Gem. § 69 Abs. 1 StGB wird die Fahrerlaubnis vom Gericht entzogen, wenn sich aus der Tat eine Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeuges ergibt. Gem. § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist das in der Regel bei Vergehen nach § 316 StGB der Fall.
Fraglich ist damit allein, ob für E-Scooter eine generelle Ausnahme und von dem Regelfall, wegen der geringeren Gefährlichkeit für den Straßenverkehr als bei anderen Kfz oder jedenfalls eine praktisch häufige Widerlegung der Vermutung anzunehmen ist (häufig alkoholisierte Nutzung zur Nachtzeit bei wenig Verkehr). Während die Rechtsprechung überwiegend zurückhaltend bei der Einschränkung des § 69 StGB in diesem Zusammenhang ist, wird im Schrifttum und jüngst auch durch den 61. Verkehrsgerichtstag eine Einschränkung befürwortet.[17]Vgl. zur Darstellung des Problems Zeyher, HRRS 2022, 218, 222.

Zusammenfassung

1. E-Scooter stellen Fahrzeuge i.S.d. § 316 StGB dar, für die die Promille-Grenzwerte von Kraftfahrzeugen, also 0,3 Promille (relative Fahruntüchtigkeit) und 1,1 Promille (absolute Fahruntüchtigkeit) heranzuziehen sind (h.M.).

2. Das LG Oldenburg nimmt für den E-Scooter-Sozius, also den hinter dem „Hauptfahrer“ stehenden an, dass er Fahrzeugführer i.S.d. § 316 StGB sei, wenn er sich am Lenker festhält, unabhängig davon, ob er aktive Lenkbewegungen vornimmt. Nach hier vertretener Auffassung spricht gegen diese Ansicht, dass es an der notwendigen Intention der Betätigung der technischen Einrichtung zur Fortbewegung mangelt.

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