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Die Zahnextraktionszange

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.03.2022 – 1 Ws 47/22BeckRS 2022, 6692

Sachverhalt

A ist Zahnärztin. Um ihrem Patienten P eine kostspielige prothetische Behandlung anbieten zu können, erklärt sie ihm, dass die Extraktion eines Zahnes medizinisch erforderlich sei, obwohl es hinreichend aussichtsreiche Behandlungsalternativen gegeben hätte. Im Vertrauen auf die Angabe, dass der Eingriff zwingend notwendig sei, willigt P in die Extraktion ein. A entfernt den Zahn mit Hilfe einer Zahnextraktionszange kunstgerecht. Dabei entstehen dem P erhebliche Verletzungen im Mundraum durch die Durchtrennung der Nerven. Die Schwellung und Schmerzen halten etwa für eine Woche an.

Strafbarkeit der A?


Skizze

Gutachten

Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2  StGB 

A könnte sich der gefährlichen Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB schuldig gemacht haben, indem sie dem P einen Zahn mittels Zahnextraktionszange entfernte.

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) Grunddelikt

Zunächst müsste der objektive Tatbestand des § 223 I StGB erfüllt sein. Das setzt eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung voraus, die kausal durch die A herbeigeführt und ihr objektiv zurechenbar sein müssten. Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene körperliche Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines krankhaften Zustandes. Vorliegend entfernt die A dem P einen Zahn, was sogar zu erheblichen Verletzungen im Mundraum führt. Dadurch wird auch in kausaler und objektiv zurechenbarer Form ein krankhafter Zustand hervorgerufen. Handelt es sich bei der Körperverletzung um einen ärztlichen Heileingriff, ist es umstritten, ob ausnahmsweise der Tatbestand zu verneinen ist oder ob auf einen dogmatischen Sonderweg zu verzichten ist und eine Straflosigkeit des Behandelnden auf Ebene der Rechtswidrigkeit zu suchen ist. Zu dieser Frage braucht hier nicht Stellung genommen werden, weil es bereits an einer medizinischen Indikation für den Eingriff fehlt und deshalb kein Heileingriff vorliegt.

Vernetztes Lernen: Würde es sich um eine tatbestandliche Körperverletzung handeln, wenn der kunstgerecht durchgeführte Eingriff medizinisch indiziert wäre, die Einwilligung aber aufgrund von schweren Aufklärungsmängeln unwirksam wäre?
Die Frage, ob der Heileingriff eine tatbestandliche Körperverletzung ist, ist seit über 130 Jahren umstritten.[1]Zum Streitstand Bollacher/Stockburger, Jura 2006, 908 ff.

Nach den sog. Tatbestandslösungen der wohl (noch) h.L. soll, wenn der Eingriff objektiv medizinisch indiziert ist und er mit Heilungsintention vorgenommen wurde, keine tatbestandsmäßige Körperverletzung vorliegen. Das gebiete schon die Vermeidung einer Diskriminierung von Ärzten, deren therapeutische Tätigkeit mit der eines Messerstechers gleichgesetzt werden würde. Mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen wird zusätzlich gefordert, dass der Heileingriff bei einer Betrachtung per saldo nicht zu einer Gesundheitsverschlechterung führt (erfolgsorientierte Theorien) oder dass der Eingriff nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wird (nicht-erfolgsbezogene Theorien).

Nach der Einwilligungslösung der Rechtsprechung und einem anderen Teil der Literatur gelten für den Tatbestand der Körperverletzung beim Heileingriff keine Besonderheiten. Eine Straffreiheit des Behandelnden wird auf der Rechtswidrigkeitsebene in Form der Einwilligung gefunden. Der Vorteil der Einwilligungslösung liegt darin, dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten zur Geltung zu verhelfen. Während die Tatbestandslösungen den eigenmächtigen, also nicht von der Einwilligung des Patienten gedeckten Eingriff nur unzureichend und vereinzelt unter den Straftatbeständen der §§ 239, 240, 185 StGB erfassen kann und überwiegend die Einführung eines eigenen Tatbestandes fordert, kann die Einwilligungslösung mit § 223 StGB reagieren. Um nicht jeden Aufklärungsmangel die rechtfertigende Einwilligung unwirksam werden zu lassen, wird auf die umstrittene Figur der hypothetischen Einwilligung zurückgegriffen. Eine Schwäche der Einwilligungslösung ist es indessen, dass sie bei fahrlässigen Kunstfehlern im Ergebnis zu Recht § 229 StGB bejaht, obwohl sie den Tatbestand des § 223 StGB zuvor angenommen hat und sodann die Wirkung der Einwilligung entfallen lässt. Schließlich kann die kunstwidrige Durchführung eines Eingriffs nicht von der Einwilligung gedeckt sein.

b) Qualifikation

Zudem könnte es sich bei der Zahnextraktionszange um ein gefährliches Werkzeug i.S.d. § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB handeln. Allgemeinhin ist ein solches ein körperlicher Gegenstand, der nach Art seiner Beschaffenheit und in der konkreten Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen zuzufügen. Die Zahnextraktion mittels Zange ist hier nicht nur geeignet erhebliche Verletzungen zuzufügen, vielmehr realisiert sich die Gefahr sogar in solchen Verletzungen oberhalb der Erheblichkeitsschwelle.

Fraglich ist, ob für das Merkmal der Verwendung des gefährlichen Werkzeugs zusätzlich eine gewisse Vergleichbarkeit zum Einsatz einer Waffe zu fordern ist und daher die zusätzliche Voraussetzung einer Verwendung in Angriffs- oder Verteidigungsrichtung erfüllt werden muss. Eine solche Angriffs- oder Verteidigungsrichtung könnte beim bestimmungsgemäßen Gebrauch des ärztlichen Instruments nicht bejaht werden. Jedoch scheint zweifelhaft, woher sich eine solche zusätzliche Voraussetzung ableiten ließe.  

Anmerkung: Angriff bei medizinischem Eingriff einer nicht berechtigten Heilperson
Eine Ausnahme hat der BGH von seiner Linie, dass der bestimmungsgemäße Einsatz des Werkzeuges keine Verwendung in Angriffs- oder Verteidigungsrichtung darstelle in dem Falle gemacht, dass sich eine formal nicht heilkundige Person als solche ausgibt. Dort wo die formal-rechtliche Befugnis zur Vornahme medizinischer Eingriffe fehle, könne von einem Angriff ausgegangen werden.[2] BGH NStZ 1987, 174. Eine solche Differenzierung kann jedoch nicht überzeugen. Warum die Gefährlichkeit des Eingriffs von der Diplomierung des Handelnden und nicht von seinen tatsächlichen Fertigkeiten und den sonstigen Umständen des Einzelfalles abhängt erklärt sich kaum.[3]Paeffgen/Böse, in: NK-StGB, § 224 Rn. 17; Sowada, JR 1988, 123 (124 f.); Kraatz, Arztstrafrecht, 2. Aufl. 2018, Rn. 92.

In grammatikalisch-systematischer Auslegung ließ sich das Kriterium für die Vorgängervorschrift des § 224 I Nr. 2 StGB, nämlich den § 223a StGB a.F. begründen. Hier stellte die Waffe noch den Oberbegriff für das gefährliche Werkzeug dar: „Ist die Körperverletzung mittels einer Waffe, insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges […] begangen, so […]“.[4]Dazu BGH Urt. v. 24.05.1960, Az.: 5 StR 521/59; 5 StR 533/58, Rn. 18 ff.; BGH NJW 1978, 1206. Weshalb es nicht fernliegt, eine Waffenäquivalenz auch des gefährlichen Werkzeugs in der konkreten Anwendung zu fordern. Im Wortlaut des § 224 I Nr. 2 StGB hingegen bildet das gefährliche Werkzeug hingegen den Oberbegriff, weshalb sich das Kriterium der Angriffs- oder Verteidigungsrichtung nicht mehr überzeugend aus dem Wortlaut herleiten lässt [5]OLG Karlsruhe BeckRS 2022, 6692, Rn. 7; vgl. auch Schneider, in: FS-Leipzig, 2009, 165 (176); Berster, JA 2015, 911 (913); Hardtung, in: MüKo-StGB, § 224 Rn. 50; Ast/Lorenz, medstra 2018, 135 (140 … Continue reading

Jedoch könnte eine teleologische, an der Gefährlichkeit des Werkezuggebrauchs ansetzende Auslegung ebenfalls eine einschränkende Auslegung begründen, weil die kunstgerechte Verwendung des Instruments eben keine besondere Gefährlichkeit für die Gesundheit des Patienten bedeute. Eine solche Begründung setzt sich jedoch dem Vorwurf der Inkonsequenz aus: Wenn man beim ärztlichen Heileingriff nicht schon den Grundtatbestand verneinen will, weil bei einer naturalistischen Betrachtung des einzelnen Aktes eine Gesundheitsschädigung vorliegt, dann erklärt sich kaum, wieso auf der Ebene der Qualifikation anders entschieden werden sollte, wenn doch sogar eine erhebliche Gesundheitsschädigung des Werkzeugeinsatzes die Folge ist.[6]Eschelbach, in: BeckOK-StGB, 53 Ed. 05/2022, § 224 Rn. 28.1.

Daher überzeugt es mehr, keinen dogmatischen Sonderweg für ärztliche Instrumente einzuschlagen. Daher ist der objektive Tatbestand des § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB erfüllt. 

2. Subjektiver Tatbestand

A handelt auch vorsätzlich hinsichtlich des Grundtatbestandes und der Qualifikation.

II. Rechtswidrigkeit

Die A könnte jedoch aufgrund einer ausdrücklich erklärten Einwilligung gerechtfertigt handeln. Zwar hat der P, von dessen genereller Einwilligungsfähigkeit auszugehen ist, ausdrücklich in die Zahnextraktion eingewilligt. Jedoch ist die Einwilligung aufgrund von beachtlichen Willensmängeln hinsichtlich der medizinischen Indikation der Zahnextraktion unwirksam. Daher handelt A rechtswidrig.

Vernetztes Lernen: Was sind die Voraussetzungen einer mutmaßlichen Einwilligung?
I. Objektiver Rechtfertigungstatbestand
1. Allgemeine Einwilligungsvoraussetzungen (, die auch für die tatsächliche Einwilligung und die hypothetische Einwilligung gelten)
a) Disponibilität des Rechtsguts
b) Einwilligungsfähigkeit
c) Verfügungsbefugnis

2. Spezifische Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung
a) Subsidiarität: Keine (zumutbare) Möglichkeit die Einwilligung rechtzeitig einzuholen
b) Mutmaßlicher Wille (ex-ante Betrachtung zum Tatzeitpunkt)

II. Subjektiver Rechtfertigungstatbestand

III. Schuld

Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich. A handelt schuldhaft.

IV. Ergebnis

A hat sich gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB strafbar gemacht.


Zusatzfragen

1. Wie begründet sich die Beschuldigtenstellung?
Die Eigenschaft als Beschuldigter entsteht nicht durch einen formellen Akt, sondern dadurch dass auf der Grundlage eines Anfangsverdachts (1) faktisch Ermittlungsmaßnahmen (2) mit Verfolgungswillen (3) getroffen werden.
2. Welche Rechte und Pflichten treffen einen Beschuldigten?
Der Beschuldigte hat zunächst einmal unter den jeweiligen Voraussetzungen staatliche Ermittlungsmaßnahmen, die mitunter erhebliche Eingriffe in seine persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit darstellen können (§§ 81 ff., 112 ff. StPO), zu dulden. Während sich die Stellung des Beschuldigten im gemeinrechtlichen Strafverfahren in der eines solchen Prozessobjekts erschöpft hat, nimmt er im reformierten Strafprozess die Rolle eines Prozesssubjekts mit entsprechenden Rechten ein.[7]Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 30. Aufl. 2022, § 18 Rn. 1.

Zu den aktiven Beschuldigtenrechten zählt in erster Linie der verfassungsrechtlich verbriefte Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 I GG. Dieser Anspruch schlägt sich in den verschiedenen Teilen der StPO nieder: Im Vor- und Zwischenverfahren gelten die §§ 115, 118, 128, 201 StPO. In der Hauptverhandlung sind die §§ §§ 243 II, IV, 257 f., 265 StPO zu achten. Im Rechtsmittelverfahren sehen die §§ 308 I, 311 III, 311a, 324 II, 326, 350, 351 II StPO entsprechende Konkretisierungen vor. Ansonsten gibt es besonders ab dem Zwischenverfahren einige weitere Verfahrensrecht zu beachten: Recht auf Wahl eines Verteidigers, § 137 StPO, u.U. das Recht auf die Bestellung eines notwendigen Verteidigers, § 140 StPO, das Recht auf Anwesenheit bei Beweisaufnahmen, das Recht auf Vornahme einzelner Beweiserhebungen nach Anklageerhebung, § 201 StPO, Recht auf Richter- bzw. Richtergehilfenablehnung, §§ 24, 31 StPO, Recht auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung, § 230 StPO etc.[8]Ausf. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 30. Aufl. 2022, § 18 Rn. 3 ff.

Zu den passiven Beschuldigtenrechten zählt das Recht, die Einlassung zu verweigern, §§ 136 I 2, 3, 163a III 2, IV 2 StPO und die Freiheit von Zwang und Täuschungen bei der Aussage §§ 136a, 163a III, IV StPO.[9]Dazu Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 30. Aufl. 2022, § 18 Rn. 18 f.


Zusammenfassung

1. Das bestimmungsgemäß zum Einsatz gebrachte ärztliche Instrument stellt kein gefährliches Werkzeug i.S.v. § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB dar. 

2. Eine prinzipiell einschränkende Auslegung lässt sich weder auf eine grammatikalisch-systematisch gefolgerte fehlende Waffenäquivalenz noch teleologisch aus einer zu verneinenden Gefährlichkeit im Einzelfalle folgern, wenn es tatsächlich zu erheblichen Gesundheitsschäden durch den Eingriff gekommen ist.

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