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Der Klima-Beschluss des BVerfG
BVerfG Beschluss vom 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, NJW 2021, 1723

Sachverhalt

(geändert und gekürzt)

Der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change – IPCC) hat in seinen Sonderberichten und Jahresberichten den wissenschaftlichen Stand zum Klimawandel und zu den drohenden Folgen zusammengefasst. Als wissenschaftlich gesichert gilt, dass Treibhausgase (THG) wie CO2 und Methan zu einer Verdichtung der Atmosphäre beitragen. Dies verursacht den sog. Treibhauseffekt; Das Sonnenlicht kommt zwar weiterhin durch die Atmosphäre zur Erde, aber die von der Erde abgegebene Wärme kann nicht aus der Atmosphäre austreten (wie in einem Gewächs-/Treibhaus). Durch die Emissionen der Menschen („anthropogener Klimawandel“) hat sich die Co2-Konzentration so verdichtet, dass sich die Erde seit 1750 um 1 Grad Celsius erwärmt hat. Wenn die Welt zukünftig keine Reduktion der Treibhausgasemissionen vornehmen würde, könnte bis 2100 die Temperatur im Mittel um mehr als 4-6 Grad Celsius steigen. In den letzten 10.000 Jahren änderte sich die Temperatur lediglich um 0,6 Grad. Auch die extremen Klimaereignisse der letzten 50.000 Jahre (Eiszeit) geschahen durch Veränderungen der Temperaturen über Jahrtausende – nicht Jahrhunderte.

Das IPCC stellt in Bezug auf die Auswirkungen fest, dass – sollte die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit (also 1750) nicht gelingen – mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit durch den Anstieg der Weltmeere und die immer stärker werdenden Wetterextreme Hunderte Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren und ganze Landstriche unbewohnbar werden, aber auch durch die Hitze hunderttausende Menschen sterben würden. Auch verringert sich durch die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sog. Kipppunkte überschritten werden. Sollten diese Kipppunkte überschritten werden, könnten unumkehrbare Prozesse angestoßen werden, wie z.B. das Abtauen des Permafrostbodens in Sibirien, was wiederum zu einem abrupten Anstieg des freigesetzten Methans führen würde, was in der Folge den Klimawandel beschleunigen würde. Schon bei einem Temperaturanstieg von 2,5 Grad schätzt das IPCC die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen der Kipppunkte als hoch ein.

Würde die Erderwärmung nicht auf deutlich unter 2 Grad, nach Möglichkeit 1,5 Grad begrenzt, werden auch in Deutschland Küstenregionen mit hoher Wahrscheinlichkeit regelmäßigen Überschwemmungen ausgesetzt sein. Durch Hitzewellen im Sommer würden zehntausende Menschen sterben. Durch die von der Erderwärmung veränderten Bedingungen für den sog. Jetstream werden sich sowohl anhaltende Dürreperioden als auch Starkregenereignissen verstärken und häufiger auftreten. Die Folgen eines durch den Klimawandel möglicherweise zum Erliegen kommenden Golfstroms sind noch nicht absehbar. Außerdem werden sich die Bedingungen für die Landwirtschaft und die Forstwirtschaft dramatisch verändern. Landflächen in Mecklenburg-Vorpommern z.B. droht wegen der intensiven Landwirtschaft in Verbindung mit dem Wassermangel eine Versandung, welche die Gebiete für die Landwirtschaft nicht mehr nutzbar machen könnte.

2015 einigten sich beinahe alle Staaten der UNO deshalb auf das sog. Paris Abkommen. Dieses legt fest, dass sich die Weltgemeinschaft verpflichtet die Erderwärmung auf unter 2 Grad und möglichst 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Auch Deutschland ist Unterzeichner des Paris Abkommens. Die bis 2021 in Bezug auf das Pariser Abkommen abgegebenen Selbstverpflichtungen der Staatengemeinschaft führen aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch zu einem Temperaturanstieg von 3 Grad bis 2100.

Der Bundestag beschließt deshalb ein Klimaschutzgesetz (KSG), in dem angesichts des drohenden Klimawandels eine Reduktion der Treibhausgasemissionen (THG) Deutschlands bis 2030 um 55 % gegenüber 1990 beschlossen wird. Mit den Vorgaben des Gesetzes sollen die Verpflichtungen Deutschlands im Rahmen des Paris Abkommens eingehalten werden.

Dafür enthält das Gesetz Vorgaben, wie hoch die jährliche maximal zur Verfügung stehende Menge an Emissionen in jedem Jahr bis 2030 in den einzelnen Sektoren (Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfallwirtschaft & Sonstiges) in Co2-Äquivalenten sein soll. Das Gesetz schreibt außerdem fest, dass Deutschland bis zum Jahre 2050 klimaneutral sein soll – also im Jahr 2050 maximal so viele Treibhausgasemissionen ausgestoßen werden sollen, wie die natürlichen sog. Senken (also Wälder, Gewässer, etc.) an CO2 aufnehmen können.  

Für die notwendigen Reduktionen im Zeitraum nach 2030, wofür das Gesetz bisher keine ausdrücklichen Reduktionspfade festlegt, wird die Bundesregierung ermächtigt im Jahre 2025, für die einzelnen Sektoren die Ziele zur Reduktion auf dem Weg zur Klimaneutralität 2050 festzulegen. Der Bundestag muss diesen Plänen zustimmen; Wenn der Bundestag sich 6 Wochen lang nicht mit dem Vorschlag beschäftigt hat, gilt die Zustimmung als erteilt.

Eine Gruppe von überwiegend jungen Menschen wendet sich gegen das Klimaschutzgesetz. Sie machen geltend, dass das KSG bereits bis 2030 keine ausreichenden Reduzierungen der Treibhausgasemissionen vorsehe. Deutschland, könne nur insgesamt 4,6 Gigatonnen CO2 ausstoßen, wenn es seinen Anteil an der Reduktion der THG-Emissionen erreichen wollte. Wenn man jetzt ausrechne, wie viele Emissionen Deutschland nach dem Klimaschutzgesetz bis 2030 ausstoßen dürfte, wären bereits rund 88 % ausgestoßen. Dann müsste Deutschland eine „Vollbremsung“ vollführen, um die katastrophalen Folgen des Klimawandels noch abfedern zu können. Damit seien sie, die Beschwerdeführenden, in Zukunft in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG aber auch in anderen Freiheitsrechten verletzt. Die Freiheit sich in Zukunft nicht extrem einschränken zu müssen, entfalte auch schon in der Gegenwart Wirkung.

Außerdem liege in den unzureichenden Maßnahmen eine Verletzung von Art. 20a GG, der auch subjektive Rechte begründe. Das werde dadurch verstärkt, dass ab 2030 noch überhaupt kein Reduzierungspfad festgelegt sei, sondern nur das abstrakte Ziel der Klimaneutralität 2050. Der entsprechende Plan könne nur von der Bundesregierung aufgestellt werden und nicht vom Bundestag, was demokratietheoretisch problematisch sei.

Durch die drohenden, teils lebensfeindlichen Bedingungen und drohenden Hitzewellen müsste der Staat auch mehr tun, um die Beschwerdeführenden in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II GG zu schützen – Schließlich treffe den Staat auch eine Schutzpflicht in Bezug auf drohende Naturgewalten. Außerdem sind einige der Beschwerdeführenden Eigentümer von Häusern und Betrieben, die in einem Risikogebiet für Hochwasser stehen. Sie meinen, dass der Staat seine Schutzpflicht gegenüber dem Grundrecht auf Eigentum und der Berufsfreiheit verletzten würde, wenn nicht ausreichend unternommen wird, um sie vor den Folgen der zu erwartenden Fluten zu schützen.

Zuletzt meinen die Beschwerdeführenden, dass sich aus Art. 20a i.V.m. Art. 1 I GG ein Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum ergebe. Dies umfasse auch, dass der Staat die Maßnahmen ergreifen muss, die aus wissenschaftlicher Sicht geboten seien, um das Klima zu schützen. Dass die Wissenschaft bestimmte Ereignisse nur mit Wahrscheinlichkeiten „voraussagen“ könnte, sei nicht schädlich, weil es für potentiell schädliche Ereignisse keine 100 %ige Sicherheit gebe.

Die Bundesregierung entgegnet, dass das Klimaschutzgesetz ausreichende Maßnahmen festlege. Art. 20a GG sei nur eine Staatszielbestimmung, die keine subjektiven Rechte begründe. Eine Verletzung von Art. 14 I GG komme nicht in Betracht, weil das Erbe nur in einem begrenzten Umfang geschützt sei. Eine Verletzung von Art. 12 I GG komme insbesondere nicht in Betracht, weil zukünftige Erwerbsaussichten nur von Art. 14 I GG geschützt seien, nicht aber von Art. 12 I GG. Außerdem sei es unseriös schon heute einen festen Plan für den Zeitraum nach 2030 festzulegen, wie die nötige Reduktion erreicht werden sollte. Dies könne erst später geschehen. In jedem Jahr könne von Deutschland, das eins der ambitioniertesten Klimagesetze weltweit habe, nur das erwartet werden, was mit den Freiheitsrechten der zurzeit Lebenden und den aktuellen wirtschaftlichen Aktivitäten vereinbar sei. Es sei es auch nicht möglich mit einem „CO2-Budget“ Grundrechtseinschränkungen vorzunehmen. Jeder Budget-Ansatz könne nur – was stimmt – auf Wahrscheinlichkeiten basiert werden, weshalb die Bundesregierung sich weigere sich auf ein derart mit Unsicherheit behaftetes Konzept zu versteifen.

Gleiches gelte für die angeführten Prognosen in Bezug auf zukünftig drohende Rechtsverletzungen: Diese seien mit inhärenter Unsicherheit behaftet – allein deshalb habe der Gesetzgeber eine weite Einschätzungsprärogative. In Zukunft könnte man auch zur Not sog. Carbon Capture and Storage (CCS) Methoden einsetzen, welche es ermöglichen CO2 aus der Atmosphäre herauszufiltern und im Boden zu binden. Die Beschwerdeführenden halten diesen Punkt für rein hypothetisch, da es bisher noch keinen Einsatz der CCS-Technik in großem Maßstab gibt und diese mit 200 € pro Tonne CO2 erhebliche Kosten verursacht.

Der Bund sagt weiter, Deutschland könne nur seinen Anteil leisten. Wenn andere Staaten in Zukunft noch mehr ausstießen, könne Deutschland nicht alleine verpflichtet werden.

Ein Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum sei nicht aus der Verfassung herleitbar. Vielmehr ergebe sich der Schutz, den der Staat gewährleisten müsste, aus den Grundrechten in ihrer in der Verfassung vorgegebenen Form und diese seien nicht verletzt.

Die Beschwerdeführenden halten an ihrer Position fest.

Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?


Skizze


Gutachten

Die zulässige Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführenden hat gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG Erfolg, soweit sie begründet ist.

A. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit die Beschwerdeführenden durch die Regelungen des KSG in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt sind.

I. Art. 20a des Grundgesetzes

Anmerkung zum Aufbau:
Sowohl die Prüfung von Art. 20a GG als Grundrecht als auch von Art. 12 GG erfolgt vom Bundesverfassungsgericht bereits in der Zulässigkeit. Angesichts der hier gewählten Fallkonstellation ist es notwendig hier in der Begründetheit darauf einzugehen, ob Art. 20a GG überhaupt als Grundrecht Maßstab der Beschwerde sein kann.

1. Grundrecht aus Art. 20a

Zunächst machen die Beschwerdeführenden geltend, dass sie in Art. 20a GG verletzt seien. Dafür müsste Art. 20a GG ein Grundrecht oder ein Grundrechtgleiches Recht sein.

Art. 20a GG wurde 1994 in das Grundgesetz als Staatszielbestimmung aufgenommen und enthält justiziable objektive Rechte. Diese binden den Gesetzgeber beim gesetzgeberischen Tätigwerden und verpflichten den Gesetzgeber auch in objektiver Hinsicht die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere auch in Verantwortung für die künftigen zu schützen.[1]so bereits der Wortlaut von Art. 20a GG. Der Gesetzgeber entschied sich aktiv dafür Art. 20a GG außerhalb des Grundrechtsteils der Verfassung aufzunehmen. Auch in Art. 93 I Nr. 4a GG, wo die mit einer Verfassungsbeschwerde rügbaren Rechte der Verfassung aufgezählt werden, wird Art. 20a GG nicht genannt. Es gibt dementsprechend keine Anhaltspunkte dafür, dass Art. 20a GG ein eigenständiges Grundrecht darstellen würde. Es handelt sich damit um eine Staatszielbestimmung und nicht um ein Grundrecht, welches subjektive Rechte begründet.

2. Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum / Recht auf eine menschenwürdige Zukunft, Art. 20a i.V.m. Art. 1 I des Grundgesetzes

Daneben machen die Beschwerdeführenden geltend, dass sie in ihrem Grundrecht auf „ein ökologisches Existenzmninimum“ bzw. in ihrem Grundrecht auf „eine menschenwürdige Zukunft“ verletzt seien, welches jeweils aus Art. 20a GG i.V.m. Art. 1 I GG hergeleitet werden könnte.

Es ist durchaus denklogisch die staatliche Pflicht zum Schutz der menschlichen Existenz und damit auch der Menschenwürde in der Hinsicht zu verstehen, dass der Staat ausreichende Maßnahmen ergreifen muss, um die grundrechtswesentlichen ökologischen Mindeststandards zu erhalten – also drohende katastrophale Zustände abzuwehren.[2]BVerfG NJW 2021, 1723, 1727 (Rn. 114). Nur wenn eine grundsätzlich bewohnbare Umwelt besteht, können die Grundrechte verwirklicht werden.

Dies ist jedoch z.B. auch von Art. 2 II GG in Bezug auf das physische Überleben geschützt und wird in Bezug auf andere grundrechtsrelevante Aktivitäten z.B. von Art. 14 GG geschützt.[3]BVerfG NJW 2021, 1723, 1727 (Rn. 114). Damit deckt sich die Pflicht weitestgehend mit bereits ausdrücklich bestehenden Grundrechten.

Ob also über die bereits bestehenden staatlichen Pflichten (aus den Grundrechten) auch der Schutz eines ökologischen Existenzminimum oder eines Rechts auf eine menschenwürdige Zukunft vom Grundgesetz vorgegeben ist, muss nicht abschließend geklärt werden, wenn der Gesetzgeber bzw. der Bund jedenfalls nicht dagegen verstoßen würde.

Der Gesetzgeber und das Parlament haben in den letzten Jahren verschiedene Maßnahmen ergriffen, um dem Klimawandel zu begegnen. Deutschland ist dem Paris Abkommen beigetreten; das KSG wurde verabschiedet (ungeachtet der folgenden Prüfung, ob das in vollem Umfang ausreichend ist); in den Kommunen und den Ländern gibt es Förderprogramme für Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel. Ein Recht wie es von den Beschwerdeführenden gefordert wird, würde jedenfalls nur das absolute Untermaßverbot, also vor katastrophalen oder existenzbedrohenden Zuständen, schützen. Eine Verletzung dieser Anforderungen kommt angesichts der ergriffenen Maßnahmen nicht in Betracht.

3. Art. 20a des Grundgesetzes als Auslegungsmaßstab

Allerdings könnte Art. 20a GG einen Auslegungsmaßstab für die verfassungsrechtliche Abwägung darstellen.

Die aus Art. 20a GG erwachsenden Pflichten für den Staat spielen in der Bewertung der staatlichen Schutzpflicht in Bezug auf die Grundrechte (bzw. der Feststellung der Einhaltung des Untermaßverbots) eine wesentliche Rolle (siehe unten). Außerdem gibt Art. 20a GG dem Bund auf, objektive Standards in Bezug auf den Klimawandel einzuhalten. Auch die von Deutschland im Paris Abkommen übernommenen Pflichten sind durch das Parlament – verfassungsrechtlich maßgeblich – als Konkretisierung von Art. 20a GG verfassungsrechtlich verbürgt. Die Ergreifung der national notwendigen Maßnahmen zur Einhaltung des Paris-Ziels (Begrenzung der Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad, nach Möglichkeit 1,5 Grad) ist damit auch verfassungsrechtlich festgeschrieben. Art. 20a GG verpflichtet den Staat auch sich auf einen Weg zu begeben, an dessen Ende Deutschland keine Co2-Emissionen mehr ausstößt, also klimaneutral ist. Ein unbegrenztes Fortschreiten des Klimawandels würde der Verfassung (neben Art. 20a GG auch den Schutzpflichten des Staates in Bezug auf Freiheitsrechte) widersprechen.[4]BVerfG NJW 2021, 1723, 1728 (Rn. 120).

Art. 20a GG ist ein Verfassungsgut, welches auch für die Einschränkung von Grundrechten herangezogen werden kann. Mit dem Fortschreiten des Klimawandels wird die Wahrnehmung von Freiheitsrechten immer stärker unter der Einschränkung stehen, ob dieses Verhalten mit dem aus Art. 20a GG folgenden verfassungsrechtlich gebotenen Klimaschutz vereinbar ist.[5]das Bundesverfassungsgericht spricht davon, dass Art. 20a GG mit dem Fortschreiten ein immer schwerer wiegendes „normatives Gewicht“ zukommt, BVerfG NJW 2021, 1723,1728 (Rn. 120). Dabei überwiegt Art. 20a GG nicht generell, jedoch können die rechtfertigbaren Einschränkungen von Freiheitsrechten immer gravierender werden, desto weiter der Klimawandel und der Verbrauch der national verbleibenden Emissionsmengen fortgeschritten ist.[6]so auch Kment, NVwZ 2020, 1537, 1540. Damit können auch drastische Freiheitsbeschränkungen in der Abwägung mit den Freiheitsrechten gerechtfertigt sein.[7]BVerfG NJW 2021, 1723,1728 (Rn. 120).

Um den drohenden Freiheitsbeschränkungen zu begegnen ist es dementsprechend auch Aufgabe des Staates Alternativen zu schaffen, die die Freiheitsausübung ermöglichen, ohne dass relevante Mengen CO2 ausgestoßen werden. Stehen nicht-CO2-relevante Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung kann auch die Beschränkung von CO2-relevantem Verhalten einfacher gerechtfertigt werden, weil die Freiheitsbeschränkung weniger intensiv ist.[8]BVerfG NJW 2021, 1723,1728 (Rn. 121). Versäumt es der Staat frühzeitig Maßnahmen zu ergreifen, die für den Umstieg auf CO2-Neutralität notwendig sind und ist es deshalb nötig innerhalb kürzester Zeit von einer CO2-intensiven Lebensweise auf eine weitestgehend CO2-freie Lebensweise umzusteigen, können die notwendigen Freiheitseinschränkungen enorm sein.[9]m.w.N. ebd.

Art. 20a GG ist damit für die weitere Betrachtung als Auslegungsmaßstab relevant.

II. Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 2 II des Grundgesetzes

Die Beschwerdeführenden machen geltend, dass Sie in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II GG verletzt sind, weil der Staat es unterlässt ausreichende Maßnahmen zum Schutz zukünftig drohender Rechtsverletzungen vorzunehmen.

1. Schutzpflicht

Mit den Freiheitsrechten korrespondieren im Regelfall auch staatliche Schutzpflichten, die je nach Grundrecht unterschiedliche Reichweiten und Gewichtungen aufweisen. Art. 2 II GG enthält nicht nur ein Abwehrrecht der Bürger*innen gegen Staat, ihn bzw. sie in der körperlichen Integrität nicht zu beeinträchtigen. Das Grundrecht umfasst auch die staatliche Pflicht sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und Eingriffe anderer zu vereiteln.[10]hierzu: BVerfG NJW 2021, 1723, 1731 (Rn. 144). Die Beschwerdeführenden machen geltend, dass sie in Zukunft durch die Folgen des Klimawandels aufgrund des nicht genügend geminderten Ausstoßes von THG nicht ausreichend vom Staat geschützt werden. Sie machen dementsprechend eine Verletzung der Schutzpflicht geltend.

Die vermeintlich drohenden Beeinträchtigungen liegen allerdings in der Zukunft. Jedoch wäre eine rein auf die Gegenwart gerichtete Betrachtung nicht geeignet den Gehalt der Grundrechte angemessen zu schützen, denn er ließe die Grundrechte ungeschützt, wenn ein zu erwartender Grundrechtseinschlag bloß bevorsteht. Deshalb umfasst der subjektive Gewährleistungsgehalt auch einen auf die Zukunft gerichteten Schutz. Dies gilt insbesondere, wenn die möglichen Rechtsverletzungen sich aus heute bereits angelegten und unumkehrbaren Verhaltensweisen ergeben.[11]BVerfG NJW 2021, 1723, 1727 (Rn. 146). Während der individuelle subjektive Schutz – ausgehend vom Grundrecht – nur bereits Lebende umfassen kann, kann sich in Bezug auf bestimmte Bedrohungen auch ein objektiver Gewährleistungsgehalt für den Schutz künftiger Generationen ergeben, auch wenn künftige Generationen weder in ihrer Gesamtheit noch als Summe der zukünftig grundrechtsberechtigten Individuen vom subjektiven Gewährleistungsgehalt umfasst sind.[12]BVerfG NJW 2021, 1723, 1727 (Rn. 146); siehe zu der Übertragbarkeit dieses Konzepts auf andere Bereiche auch: Rath/Benner, VerfBlog, 2021/5/07 (abrufbar unter: … Continue reading

Würde der Staat keine ausreichenden Maßnahmen zum Klimaschutz ergreifen, würden die Beschwerdeführenden in Zukunft von den teils schwerwiegenden Folgen des Klimawandels beeinträchtigt. Sie müssten in einer Welt leben, die mit jedem Grad Temperaturanstieg größere Bedrohungen für ihre körperliche Unversehrtheit bedeuten: Durch Hitzewellen, Überschwemmungen drohen unmittelbare Gefahren. Aber auch Dürren und eine daraus folgende Unsicherheit in der Versorgung mit Lebensmitteln können die Folge sein.

Die Schutzpflicht von Art. 2 II GG ist betroffen.

2. Verletzung der Schutzpflicht

Der Staat müsste die ihm obliegende Schutzpflicht verletzt haben.

a) Justizielle Überprüfbarkeit der Einhaltung der Schutzpflichten

Inwiefern der Staat Maßnahmen getroffen hat, die ausreichend sind, um die grundrechtliche Schutzpflicht zu wahren, ist nur in begrenztem Umfang durch das Bundesverfassungsgericht überprüfbar.[13]st. Rspr.; vgl. nur: BVerfGE 77, 170, 214 f. Während die Abwehrrechte in vollem Umfang geprüft werden können („Hat Staat Verhaltensweise A unterlassen?“) sind die Schutzpflichten des Staates unbestimmter. Welche Verhaltensweise vom Staat verlangt wird, um die Grundrechte zu schützen, muss im Einzelfall geprüft werden. Bei der Wahl der notwendigen Maßnahmen zum Schutz eines Grundrechts kommt dem Staat ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.[14]st. Rspr.; vgl. nur: BVerfGE 96, 56, 64. Verfassungsrechtlich überprüft werden kann jedoch ob überhaupt Maßnahmen ergriffen wurden und ob getroffene Maßnahmen offensichtlich völlig unzulänglich sind, um das vorgegebene Schutzziel zu erreichen oder erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.[15]zum Ganzen Absatz und m.w.N. BVerfG NJW 2021, 1723, 1732 (Rn. 152).

b) Möglicherweise unzureichende Maßnahmen

Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen könnten dieses Schutzniveau unterschreiten.

Der Staat hat das Klimaschutzgesetz verabschiedet, mit dem Maßnahmen ergriffen werden, um den CO2-Ausstoß bis 2030 um 55 % gegenüber 1990 zu begrenzen und um spätestens 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Außerdem sind in dem Gesetz für die besonders relevanten Sektoren jährliche Reduktionsziele festgelegt, die das Ziel haben den Ausstoß nicht bloß 2050 auf das Niveau von Klimaneutralität zu bringen, sondern auch auf dem Weg dahin möglichst stetig Reduktionen des CO2-Ausstoßniveaus zu erreichen.

Allerdings hängt die Erreichung der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf unter 2 Grad (nach Möglichkeit 1,5 Grad – wie es das Paris Abkommen vorsieht) nicht allein daran, ob künftig Klimaneutralität erreicht wird. Entscheidend für die Entwicklung der zukünftigen Erdtemperatur ist wie viel CO2 bis zu dem Zeitpunkt ausgeschieden wird, bis Klimaneutralität erreicht ist. Klimaneutralität allein ist also kein ausreichendes Ziel für die Einhaltung des Paris Abkommens.[16]BVerfG NJW 2021, 1723, 1734 f. (Rn. 160 ff.).

Durch die vom KSG vorgegebenen Reduktionsziele ist nicht sichergestellt, dass Deutschland nur so viel CO2 ausstößt, dass die (ausgehend von dem Anteil, den Deutschland an der globalen Treibhausgasemission hat) Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzt bleibt. Der Gesetzgeber hat sich jedoch auch an dem vom Paris Abkommen vorgesehenen Ziel der Begrenzung auf deutlich unter 2 Grad ausgerichtet. Dies kann man wegen der Gefahr der Überschreitung von Kipppunkten, welche das IPCC bei einem Temperaturanstieg von 2,5 Grad als hoch einschätzt, als „politisch zu wenig ambitioniert“[17]so das BVerfG ebd. in Rn. 162. bezeichnen, jedoch ergibt sich daraus noch kein völlig unzureichender Schutz der Grundrechte. Auch sind in Bezug auf die drohenden Folgen und die je nach Staat nötigen CO2-Budgets noch erhebliche Unsicherheiten gegeben, die den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers vergrößern.[18]ebd.

Die Bundesregierung machte dazu geltend, dass sie alleine nicht verpflichtet werden könnte, weil der Klimawandel ein nur durch die Staatengemeinschaft als Ganzes zu lösendes Problem sei. Allerdings funktioniert es ohne Anstrengungen Deutschlands eben auch nicht, weshalb dieses Argument nicht überzeugt. Der Staat ist zwar nicht generell verpflichtet Emissionen zu kompensieren, die andere Staaten nicht reduzieren[19]auch wenn das in Zukunft denkbar wäre.; er ist aber verpflichtet international auf ein möglichst ambitioniertes Klimaschutzprogramm hinzuwirken.

Der Gesetzgeber hat Maßnahmen ergriffen, die im Einklang mit dem Verständnis der internationalen Staatengemeinschaft den Weg zu einer klimaneutralen Welt beschreiben, die einen gerade noch verkraftbaren Temperaturanstieg erleben soll. Auch wenn die tatsächlich bis 2030 geplanten Maßnahmen das Niveau von 55 % Reduktion nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen bisher deutlich verfehlen,[20]siehe Ausführungen ebd. Rn. 169 f. hat der Staat noch ausreichend Zeit den Plan bis 2030 entsprechend anzupassen. Darin liegen jedenfalls keine offensichtlich völlig unzureichenden Maßnahmen.

Neben den Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels verpflichtet Art. 2 II GG den Gesetzgeber auch sog. Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen, um die Folgen für die menschliche Gesundheit zu lindern. Es würde nicht ausreichen, wenn der Staat sich alleine auf Anpassungsmaßnahmen beschränken würde, weil die Folgen für die Grundlagen der menschlichen Gesundheit eines unkontrollierten Klimawandels zu groß wären. Aber auch hier hat der Staat Maßnahmen ergriffen, die jedenfalls nicht völlig hinter dem angestrebten Schutzniveau zurück bleiben.[21]ebd. Rn. 167 ff.

c) Ergebnis

Durch die bisher ergriffenen Maßnahmen sowohl zur Reduktion als auch zur Anpassung, unterschreitet der Staat jedenfalls nicht offensichtlich die ihm obliegende Schutzpflicht.  

III. Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 14 des Grundgesetzes

Die Beschwerdeführenden, die Grundstückseigentümer sind, machen geltend, dass sie durch die durch den Klimawandel stärker werdenden Starkregenereignisse und durch den Anstieg des Meeresspiegels ihre Häuser verlieren könnten, bzw. dass ganze Gebiete unbewohnbar werden könnten. Mit dem Verlust des Eigentums gehen auch sogleich soziale Bindungen vor Ort verloren, welche auch von Art. 14 I GG als „Heimat“[22]vgl. BVerfGE 134, 242, 331 f. zumindest in einem gewissen Umfang geschützt sind. Zum von Art. 14 I GG ausgehenden Schutz gehören auch Eigentumspositionen der Eltern, welche den Kindern in Zukunft durch Erbe oder andere Formen übertragen werden sollen.

Auch aus Art. 14 I GG ergibt sich eine Schutzpflicht des Staates, die vom Staat verlangt Maßnahmen zu ergreifen, die den Schutz dieser Positionen zum Ziel haben und die auf eine Verletzung des Untermaßverbots überprüft werden können.

Die Maßnahmen die der Staat zur Reduktion des Temperaturanstiegs (bzw. zur Reduktion des CO2-Ausstoßes) vorgesehen hat und die Maßnahmen, die der Staat zur Anpassung an den Klimawandel unternimmt, unterschreiten jedenfalls nicht das Untermaßverbot (s.o.).

IV. Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 12 des Grundgesetzes

Soweit die Beschwerdeführenden geltend machen, dass sie durch den Klimawandel Betriebe von den Eltern nicht übernehmen können, handelt es sich nicht um eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit. Die Beschwerdeführenden selbst haben noch keine Position inne, die von Art. 12 GG geschützt wird. Vielmehr könnten sie in Zukunft Betriebe übernehmen. Das reicht jedoch noch nicht für den Schutz durch die Berufsfreiheit. Dies unterfällt nur dem Schutz von Art. 14 I GG. Eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit scheidet bereits deshalb aus.

V. Intertemporale Freiheitssicherung

Allerdings könnte ein Verstoß gegen die Freiheitsrechte, insbesondere Art. 2 I GG, der Beschwerdeführenden vorliegen, weil bis 2030 keine ausreichende Reduktion der THG-Emissionen festgeschrieben ist und/oder weil für den Zeitraum nach 2030 noch keine Reduktionspfade festgelegt sind.

1. „Schutzbereich“

Das Prinzip der intertemporalen Freiheitssicherung bestimmt, dass eine über einen langen Zeitraum bestehende Gefahr für Freiheitsrechte, welche eine staatliche Schutzpflicht auslöst, nicht zu Gunsten einer Generation und zu Lasten einer nachfolgenden Generation aufgelöst werden kann.[23]Dazu grundlegend und sehr lesenswert die hier besprochene Entscheidung: BVerfG NJW 2021, 1723, 1737 (Rn. 182 ff.).

Die „Geburt“ der intertemporalen Dimension der Freiheitssicherung:

Diese Entscheidung wird – wenn nicht in ihrer Gesamtheit – jedenfalls deshalb in die Lehrbücher eingehen, weil das Prinzip / der Grundsatz der intertemporalen Freiheitssicherung geschaffen wurde. Auf welche verfassungsrechtlichen Fragen sich dieser Grundsatz übertragen lässt, wird in Zukunft entschieden werden. Diskutiert werden bereits die Themenfelder Rentenfinanzierung und Staatsschulden – etwas eindeutiges lässt sich hier aber noch nicht absehen.
Die Umsetzung im Prüfschema für Grundrechte ist noch nicht ganz klar, deshalb stehen hier die Überschriften in Anführungszeichen.

Abgrenzung intertemporale Freiheitssicherung und auf die Zukunft gerichtete Schutzpflicht

Bisher noch nicht vollkommen eindeutig ist die Frage zu beantworten, wo genau die Grenze zwischen den auf die Zukunft gerichteten Schutzpflichten des Staates und dem „Schutzbereich“ der intertemporalen Freiheitssicherung verläuft.

Nach meinem bisherigen Verständnis kann man dies wie folgt abgrenzen:

Die staatliche Schutzpflicht umfasst auch den Schutz vor möglichen Grundrechtsbeeinträchtigungen in der Zukunft. So ist z.B. das Ergreifen von Maßnahmen zur Warnung vor Fluten oder die Überwachung von aktiven Vulkanen eine Aufgabe, die aus der staatlichen Schutzpflicht des Staates für Art. 2 II GG und Art. 14 GG herrührt. Die Schutzpflicht wird jeweils für die „Jetzt-Zeit“ bestimmt.

Die intertemporale Freiheitssicherung betrifft demgegenüber Fälle, in denen eine langfrisitig bestehende Aufgabe sowohl Maßnahmen in der Gegenwart als auch in der Zukunft verlangt und Wirkungen in der Gegenwart und der Zukunft entfaltet. Also Systeme, die nur funktinionieren, wenn heute etwas dafür getan wird, weil es nicht ausreichen würde, wenn in der Zukunft etwas getan würde (oder nur sehr stark belastende Maßnahmen ausreichen würden). Es geht also um Systeme wie die CO2-Reduktion, aber auch z.B. das Rentensystem. Das Rentensystem, als „Generationenvertrag“, muss demenetsprechend so gestaltet sein, dass ein zukunftsfestes System besteht, was auch für die heute Einzahlenden eine zukünftig ausreichende Rente erreichen kann.
Die intertemporale Freiheitssicherung bestimmt sich also aus den Aufgaben, die insgesamt (über einen langen Zeitraum hinweg) getragen werden müssen und wie diese Aufgaben zwischen den Generationen verteilt sind.

Die auf die Zukunft gerichtete staatliche Schutzpflicht betrifft Fälle, in denen ein möglicherweise eintretendes Ereignis negative Auswirkungen auf die Grundrechte haben kann, bei dem man nicht weiß, wann (und ob) es eintritt. Die intertemporale Freiheitssicherung betrifft Fälle, in denen langfristig angelegte Sachverhalte in der Gegenwart gesteuert werden müssen, damit sie in Zukunft ihre Funktionsfähigkeit bewahren, bzw. nicht zu drastischen Einschränkungen führen oder die Folgen von gegenwärtigem Nicht-Handeln nur durch drastische Selbst-Einschränkung künftiger Generationen aufgefangen werden können.

Der Klimawandel stellt in zweifacher Hinsicht eine Bedrohung für die Freiheitsrechte dar. Zum einen können, wie bisher besprochen, die Folgen des Klimawandels die Ausübung von Freiheitsrechten beeinträchtigen. Deshalb ist der Staat, wie soeben gesehen, in besonderer Weise verpflichtet Maßnahmen zum Schutz der bedrohten Freiheitsrechte zu ergreifen. Zum anderen können die Maßnahmen zum Schutz der Freiheitsrechte wiederum die (gleichen) Freiheitsrechte (oder andere oder in anderer Form) beeinträchtigen. Desto länger der Staat abwartet und keine Maßnahmen ergreift, desto stärker können die durch Art. 20a GG zugleich vorgegebenen und gerechtfertigten Eingriffe in die Freiheitsrechte wiegen. Greift der Staat heute nicht in bestimmte Freiheitsrechte ein, um diese in der Gegenwart zu schonen, kann es in Zukunft notwendig und gerechtfertigt sein, drastische Eingriffe vorzunehmen, um die Gesellschaft als Ganzes auf ein CO2-neutrales Verhalten zu verpflichten.

2. „Eingriff“

Die von den Beschwerdeführenden angegriffenen Vorschriften des KSG legen bis zum Jahr 2030 zugelassene Treibhausgasmengen fest. Angesichts dessen, dass die Erreichung der Klimaneutralität in der Zukunft verfassungsrechtlich vorgegeben ist und bis dahin nur eine Menge an CO2 ausgestoßen werden darf, die mit der vom Paris Abkommen anvisierten Erhöhung der Erdtemperatur vereinbar ist, haben in der Gegenwart zugelassene Treibhausgasemissionen eine in der Zukunft erhöhte Minderungslast zur Folge. Jede Tonne CO2, die heute ausgestoßen wird, kann in Zukunft nicht mehr ausgestoßen werden, ohne die verfassungsrechtlichen Pflichten zu verletzen. Treibhausgasemissionen heute bestimmen so schon jetzt – nicht bloß faktisch, sondern auch rechtlich vorwirkend – über künftige Grundrechtsrestriktionen mit.[24]BVerfG NJW 2021, 1723, 1737 (Rn. 182 ff.).

Die staatliche Schutzpflicht für die Freiheitschancen künftiger Generationen bedingt also zugleich, dass die „aktuelle“ Generation so weit belastet wird, wie es nötig ist, um nicht die Möglichkeiten künftiger Generationen vollständig oder in schwerwiegender Weise zu beschränken.

Der Gesetzgeber hat sich jedoch entschieden bis zum Jahr 2030 nur eine Reduktion der Treibhausgasemissionen von 55 % gegenüber 1990 (also in einem Zeitraum von 40 Jahren) erreichen zu wollen. Für den Zeitraum ab 2030 müssen die Generationen dementsprechend bis 2050 (dem Jahr, in dem Klimaneutralität erreicht werden soll) 45 % Reduktion vornehmen (in einem Zeitraum von 20 Jahren). Verschärfend kommt hinzu, dass die Reduktion der letzten 20 % deutlich stärker in die Freiheitsausübung eingreifen wird, weil es nicht ausreichend ist Übergangstechnologien einzusetzen bzw. dafür individuelles Verhalten stärker beschränkt werden muss.

Damit überlässt der Gesetzgeber die besonders freiheitsbeschränkende Reduktion einer weitgehend künftigen Generation, während die aktuelle Generation nur sehr vorsichtig belastet wird. Darin liegt ein Eingriff in die Freiheitsrechte künftiger Generationen.

3. Rechtfertigung

Dieser Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Damit ein Eingriff gerechtfertigt ist, muss dieser mit den elementaren Grundentscheidungen und allgemeinen Verfassungsgrundsätzen, wie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, vereinbar sein.[25]ebd. Rn. 189.

a) Unvereinbarkeit der Regelungen des KSG für den Zeitraum bis 2030

Die bisher getroffene Regelung könnte jedoch mit Art. 20a GG unvereinbar sein. Dies könnte der Fall sein, wenn die bis 2030 zugelassenen Emissionen die verfassungsmäßigen Vorgaben (Ausstoß vereinbar mit dem 1,5 Grad Ziel und Klimaneutralität) unerreichbar erscheinen lassen.[26]ebd. Rn. 191.

Um die Verteilung der Reduktion genauer zu beurteilen, könnte es notwendig sein mit einem sog. CO2- oder Restbudget zu rechnen. Nach den Untersuchungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung verbleiben im Jahr 2020 Deutschland noch rund 4,7 Gigatonnen CO2-Ausstoß, um das Paris Ziel (deutlich unter 2 bzw. 1,5 Grad Erderwärmung hier sind 1,75 Grad anvisiert) noch zu erreichen.[27]SRU, Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa, Umweltgutachen 2020 S. 52, 88 Rn. 111. Im Jahr 2020 hat Deutschland rund 0,6 Gigatonnen CO2 ausgestoßen. Dementsprechend verbleiben noch rund 8 Jahre mit einem Ausstoß wie im Jahre 2020, um das Reduktionsziel zu erreichen.

Auch mit den bisher vorgesehenen Reduktionen bis 2030 wären im Jahre 2030 rund 88 % der bis zur Erreichung der Klimaneutralität „erlaubten“ Emissionen verbraucht.[28]siehe zur Rechnung mit einem CO2-Restbduget: BVerfG NJW 2021, 1723, 1743 (Rn. 214 ff.) und zum Verbrauch bis 2030: Rn. 232 ff.

Die Bundesregierung bringt vor, dass in Zukunft das sog. Carbon Capture and Storage (CCS) Verfahren in der einen oder anderen Form zur Verfügung steht, um bereits getätigte CO2 Emissionen wieder aus der Atmosphäre herauszufiltern. Dieses Verfahren steht jedoch heute noch nicht in dem notwendigen Maßstab zur Verfügung. Außerdem sind mit diesem Verfahren hohe Kosten verbunden. Auch wenn die Regierung mit steigender Erdtemperatur durch die Verfassung wohl zum Einsatz dieser Technologie zu „jedem Preis“ verpflichtet wäre, ist nicht absehbar, dass CCS eine wesentliche Änderung der notwendigen Reduktionen bedeuten würde.

Die Unsicherheit der Modelle könnte jedoch gegen eine Verpflichtung des Staates sprechen. Die zur Verfügung stehenden Rechenmodelle bieten eine nachvollziehbare und wissenschaftlich weitgehend sichere Vorhersage der zur verbleibenden Mengen an CO2. Doch sind sie – auch nach Aussage des IPCC und des SRU – mit Unsicherheit behaftet. Es könnte sein, dass der auf Deutschland entfallende Anteil sich in Zukunft als deutlich kleiner oder deutlich größer herausstellt.[29]ebd. Rn. 222 ff.

Außerdem könnte die Bundesregierung bis 2030 deutlich ambitioniertere Ziele übernehmen und damit doch noch eine ausreichende Menge an CO2-Budget den künftigen Generationen überlassen. Aufgrund dieser verbleibenden Unsicherheiten ist ein Verstoß gegen die Schutzpflichten des Staates bisher nicht feststellbar.[30]ebd. Rn. 236.

b) Unvereinbarkeit der Regelungen des KSG für den Zeitraum ab 2030

Allerdings könnten die Regelungen des KSG ab 2030 gegen die Verfassung verstoßen.

Für den Zeitraum ab 2030 ist bisher kein Reduktionspfad festgelegt. Eine Bestimmung der pro Jahr notwendigen Reduktion soll im Jahr 2025 durch die Bundesregierung erfolgen. Allerdings gebietet Art. 20a GG die verfassungsrechtlich notwendigen Reduktionen der CO2-Emissionen bis zur Klimaneutralität in vorausschauender und in grundrechtsschonender Weise über die Zeit zu verteilen.[31]So ebd. Rn. 243. Dies umfasst auch die Schaffung eines „entwicklungsfördernden Planungshorizonts“, der es den Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft ermöglicht Maßnahmen zu ergreifen, um die notwendigen weitreichenden Umgestaltung ihrer Arbeitsweise anzugehen.[32]ebd. Rn. 246 ff. Um die künftig notwendigen Umgestaltungen in grundrechtsschonenderweise zu erreichen, muss deshalb für den Zeitraum ab 2030 ein eindeutiger Reduktionspfad vorgegeben sein.

Angesichts der mit der Verteilung der Reduktionslasten über die Generationen hinweg einhergehenden Vorwirkungen auf die folgenden Generationen, hat die Aufstellung eines Reduktionspfades außerdem eine maßgebliche Grundrechtsrelevanz und muss durch das Parlament entschieden werden.

Damit stehen die Regelungen des KSG für den Zeitraum ab 2030 im Widerspruch zu den Vorgaben von Art. 20a GG und sind deshalb nicht zu rechtfertigen.

4. Ergebnis

Die Regelungen des KSG für den Zeitraum ab 2030 verstoßen gegen die von Art. 20a GG vorgegebene generationengerechte Verteilung der Minderungslasten.

VI. Ergebnis

Damit verstoßen die Regelungen des KSG für den Zeitraum ab 2030 gegen die Verfassung.  

B. Ergebnis

Das KSG ist in Bezug auf die Regelungen ab 2030 verfassungswidrig. Ansonsten kann zumindest jetzt noch kein Verstoß gegen die Schutzpflichten des Staates festgestellt werden.


Zusatzfragen

Wäre die von zwei Menschen aus Bangladesch erhobene Verfassungsbeschwerde zulässig?
Diese machen geltend, dass sie durch die Folgen des Klimawandels schwer betroffen sein werden, weil Bangladesch zu 2/3 unterhalb des Meeresspiegels liegt. Sie berufen sich darauf, dass Deutschland seinen THG-Ausstoß auch verringern muss, weil auch sie durch das Grundgesetz geschützt werden.
Die Zuständigkeit des BVerfG nach Art. 93 I Nr. 4a, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. bereitet keine Probleme. Auch die Beschwerdebefugnis ist gegeben, wenn im Ausland lebende Ausländer geltend machen durch Akte der deutschen Staatsgewalt in ihren Grundrechten beeinträchtigt zu werden. Der Beschwerdegegenstand ist das KSG.
Problematisch könnte die Beschwerdebefugnis sein: Es müsste jedenfalls die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung bestehen. Hier könnten die Beschwerdeführenden durch die unterlassene Reduktion des CO2-Ausstoßes jedenfalls in Art. 2 II oder durch drohende zukünftig notwendige Maßnahmen in Art. 2 I GG verletzt sein. Das Grundgesetz ist in der Bindung der deutschen Staatsgewalt nicht auf das Territorium Deutschlands beschränkt.[33]Grundlegend dazu: BVerfG NJW 2020, 2235 – BND-Ausland-Ausland. Grundsätzlich besteht dementsprechend auch die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung.[34]Muckel, JA 2021, 610. Auch wenn dies unter Berücksichtigung der im BND-Urteil herausgearbeiteten Unterscheidung in der Reichweite der Grundrechte bei Anwendung auf Ausländer bestimmt werden muss.[35]Insbesondere Leistungsgrundrechte entfalten eine weniger intensive Reichweite: BVerfG NJW 2020, 2235, Rn. 104.
Überdem müssen sie selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Hier ist fraglich, ob sie bereits gegenwärtig betroffen sind.
In Bezug auf die in Deutschland lebenden Beschwerdeführenden ergibt sich dies daraus, dass die Beeinträchtigung der Rechte maßgeblich von dem Verbrauch des verbliebenen CO2-Budgets abhängt und eine drohende Rechtsverletzung in Zukunft bereits durch das heute zulässige CO2-Ausstoß-Niveau determiniert wird.[36]BVerfG NJW 2021, 1723, 1729 (Rn. 130). Der deutsche Staat müsste dann voraussichtlich auch besonders freiheitsbeschränkende Maßnahmen ergreifen[37]dazu oben., um noch ausreichend dem Klimawandel zu begegnen. Damit sind die in Deutschland lebenden Beschwerdeführenden auch gegenwärtig und unmittelbar betroffen.
Die drohenden staatlichen Maßnahmen, die in Zukunft in die Freiheitsrechte eingreifen würden (wenn nicht vorher ausreichende Minderungsmaßnahmen ergriffen werden würden), würden jedoch nicht die in Bangladesch lebenden Beschwerdeführenden betreffen. Diese sind also nicht gegenwärtig betroffen und nicht beschwerdebefugt, soweit es um die in Zukunft drohenden Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte geht.[38]BVerfG NJW 2021, 1723, 1726 (Rn. 101 ff.).
Aber die Möglichkeit einer Schutzpflichtverletzung in Bezug auf Art. 2 II GG besteht. Der Rechtsweg ist auch – weil für die Überprüfung von Normen kein anderer Rechtsweg besteht – erschöpft und Form und Frist sind eingehalten.
Wäre die von den zwei im Ausland lebenden Menschen verfolgte Verfassungsbeschwerde begründet?
Der Prüfungskatalog beschränkt sich hier auf die Prüfung einer Schutzpflichtverletzung. Diese ist jedoch in ihrem Inhalt nicht identisch mit der Schutzpflicht gegenüber den in Deutschland Lebenden, sondern reduziert.[39]BVerfG NJW 2021, 1723, 1736 (Rn. 176 ff.). Um seiner Schutzpflicht nachzukommen, könnte der Staat in Deutschland sowohl die Reduktion des THG-Ausstoßes als auch Anpassungsmaßnahmen durchführen. Letzteres scheidet jedoch aus, weil Deutschland keine Dämme in Bangladesch bauen könnte, ohne die Souveränität Bangladeschs zu verletzen.
Wie oben gesehen, unterschreitet der deutsche Staat (bisher) nicht offensichtlich die Anforderungen, die an seine Schutzpflicht gestellt werden, insoweit als er zur Reduktion der THG-Emissionen verpflichtet ist. Aber auch hier schränkt das BVerfG bereits grundsätzlich ein, dass gegenüber im Ausland lebenden Beschwerdeführenden der Prüfungsmaßstab noch reduziert werden könnte.[40]BVerfG NJW 2021, 1723, 1737 (Rn. 181.).
Jedenfalls liegt keine Verletzung der Schutzpflichten des deutschen Staates gegenüber den im Ausland lebenden Beschwerdeführenden vor.

Zusammenfassung:

1. Die sog. intertemporale Freiheitssicherung gebietet es, dass die Ausübung von Freiheitsrechten einer Generation nicht dazu führen darf, dass eine künftige Generation sich unzumutbar beschränken muss. Dies ist eine „Art“ zusätzliche Dimension der Freiheitsgrundrechte.

2. Dies bedeutet für den Klimaschutz, dass dieser einer Weise vorgenommen werden muss, dass die notwendige Minderungslast über die Generationen hinweg gerecht verteilt ist.

3. Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes (Klimaschutzmaßnahmen i.w.S.) verfolgen durch Art. 20a GG ein verfassungsrechtlich vorgegebenes Ziel. Art. 20a GG ist kein Grundrecht, aber enthält objektivrechtlich überprüfbare Vorgaben, welche auch zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen herangezogen werden können. Das Paris Abkommen ist durch das KSG einfachgesetzliche Konkretisierung des Art. 20a GG.

4. Eine Verletzung der Schutzpflichten kann vom BVerfG bisher nicht festgestellt werden. Dies ergibt sich insbesondere aus dem beschränkten Prüfungskatalog des BVerfG in Bezug auf die Wahrnehmung von Schutzpflichten.

5. Da das KSG keine Regelungen für einen Reduktionspfad für den Zeitraum nach 2030 enthält, entspricht es nicht der von Art. 20a GG verlangten vorausschauenden und generationengerechten Reduktion der CO2-Emissionen und ist insoweit verfassungswidrig.


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