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Der Flutkanal

BGH, Urt. V. 21.09.2022 – 6 StR 47/22, NStZ 2023, 98

Sachverhalt

M, X, Y und Z sind gute Freunde. Sie verabreden sich regelmäßig am Wochenende, um auf „Sauftour“ zu gehen. An diesem Wochenende verabreden sich die vier Freunde abermals. Z ist nur anfangs dabei und verlässt schnell die Runde, damit er die Truppe nachts abholen kann, um sie nach Hause zu bringen. 

M, X und Y trinken zahlreiche Biere und Schnäpse, wobei M mit Abstand am meisten trinkt. Als sie beschließen aus der Bar aufzubrechen, ist M bereits so betrunken, dass er sich weder selbstständig die Jacke anziehen noch die Treppen ohne Hilfe von X und Y hochlaufen kann. Der Wirt und andere Gäste sehen davon ab, dem M Hilfe anzubieten, da ihm bereits von seinen Freunden geholfen wird. Im Parkhaus wartet bereits der von X angerufene Z, um die drei Freunde nach Hause zu bringen. Auf dem Weg ins Parkhaus entfernt sich M unbemerkt. Er fällt die Böschung hinab und landet am Ufer eines Flutkanals. Als X, Y und Z dies bemerken, bleibt X oben an der Böschung stehen und Y und Z gehen hinunter. X fordert die beiden auf, dem M, der offensichtlich nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu helfen oder gar aufzustehen, zu helfen und ihn die Böschung hinaufzubringen. X selbst unternimmt jedoch nichts. Zudem filmt Y die Szene. Auch Z bleiben untätig. Während M selbst versucht aufzustehen, fällt er unbemerkt in den Flutkanal. Dort treibt er ab und ertrinkt wenige Minuten später. X, Y und Z suchen den O noch, gehen aber dann nach Hause. Sie schreiben ihm am nächsten Tag mehrere WhatsApp-Nachrichten, um sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. 

M hat zum Zeitpunkt seines Todes eine BAK von 2,36 Promille. X und Y waren nur leicht alkoholisiert (1,5 Promille und 1,2 Promille) und Z war nüchtern. 

Wie haben sich X, Y und Z strafbar gemacht? Eine Strafbarkeit nach § 201a StGB ist nicht zu prüfen. 


Skizze


Gutachten

Strafbarkeit von X und Y

A. Strafbarkeit nach §§ 212 I, 13 StGB

X und Y könnten sich jeweils wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 StGB strafbar gemacht haben, indem sie dem M nicht die Böschung hinaufgeholfen haben und er bei seinem Versuch aufzustehen, in den Flutkanal fiel und ertrank. 

Anmerkung:Gemeinsame Prüfung
Denkbar wäre auch ein gemeinschaftliches Unterlassen gem. § 25 II StGB, jedoch liegen keine Anhaltspunkte für einen gemeinsamen Tatplan vor. Daher wird die Tat als Nebentäterschaft geprüft.

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand
a) Tod eines anderen Menschen

M ist gestorben, somit ist der Tod eines anderen Menschen eingetreten. 

b) Unterlassen, trotz Möglichkeit

X und Y müssen die Handlung unterlassen haben. Unterlassen liegt vor, wenn dem Geschehen seinen Lauf gelassen wird, obwohl ein Eingreifen möglich wäre.[1]Rengier, Strafrecht AT, 14. Aufl. 2022, § 48 Rn. 9. X und Y haben weder dem M geholfen, die Böschung hinaufzugelangen, noch haben sie ihn aus dem Wasser gezogen, als er in das Wasser gefallen ist. Sie griffen nicht aktiv ein, vielmehr ließen sie das Geschehen laufen. Somit liegt ein Unterlassen vor. 

Die unterlassene Handlung wäre beiden auch möglich gewesen. Sie waren zwar alkoholisiert, aber nicht dermaßen, dass sie dadurch – so wie M – handlungsunfähig gewesen wären. Es wäre ihnen daher möglich gewesen, dem M zu helfen, sich vom Flutkanalufer zu entfernen.

Vernetztes Lernen: Wie wird in Grenzfällen zwischen aktivem Tun und Unterlassen abgegrenzt? Welche problematischen Fallgruppen bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen kennt ihr?

Die h.M. grenzt nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit der Handlung ab. Danach ist die Abgrenzung ein Wertungsproblem und entscheidend ist, wo nach dem sozialen Handlungssinn und den Umständen des Einzelfalls der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt.

Ein in der Literatur vertretener Ansatz stellt bei der Abgrenzung auf den Energieeinsatz ab. Danach liegt ein aktives Tun vor, wenn der Täter einen gewissen Energieeinsatz getätigt hat, der kausal für den tatbestandlichen Erfolg geworden ist.[2]Dazu Rengier, Strafrecht AT. 14. Aufl. 2022, § 48 Rn. 10.

Problematische Fallgruppen sind:
– (technischer) Behandlungsabbruch
– Abbruch fremder Rettungshandlungen
– Abbruch eigener Rettungshandlungen

c) Quasi-Kausalität

Zudem müssten die Handlungen von X und Y kausal gewesen sein. Die Kausalität bei einem Unterlassungsdelikt bestimmt sich nach der Quasi-Kausalität. Demnach ist die Handlung als kausal anzusehen, wenn die gebotene Handlung vorgenommen worden wäre und deshalb der tatbestandliche Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre. Hätte X und Y dem M geholfen, die Böschung hinaufzukommen, wäre dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht in den Kanal gefallen und ertrunken. Dies zu unterlassen war daher kausal für den Tod des M. 

d) Objektive Zurechnung

X und Y müsste der Todeserfolg objektiv zurechenbar gewesen sein. Objektiv zurechenbar ist der Erfolg dann, wenn der Täter eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, die sich im konkreten Taterfolg realisiert hat. Indem X und Y dem M nicht halfen die Böschung hinaufzugelangen, schafften sie die Gefahr der Gesundheitsschädigung oder gar Todeseintritt des M, indem er nah am Flutkanal lag und jederzeit hineinfallen konnte. Diese Gefahr realisierte sich, als M in den Flutkanal stürzte und kurze Zeit später ertrank. Der Erfolg ist dem X und Y objektiv zurechenbar.

e) Garantenstellung

Des Weiteren müssten X und Y Garanten gewesen sein und somit verpflichtet sein, das Leben des M zu retten. Solch eine Garantenpflicht kann sich aus verschiedenen Gründen begründen lassen. 

Vernetztes Lernen: Welche Arten der Garantenstellung gibt es?
Die Garantenstellung wird in zwei verschiedene Arten unterschieden:
Beschützergarant: Es besteht eine Rechtspflicht, das Rechtsgut vor einer Gefahr zu beschützen
Beispiele: Aus Lebensgemeinschaften, Gefahrengemeinschaften, vertragliche oder tatsächliche Übernahme, Amtsträger

Überwachergarant: Es besteht die Pflicht, das Rechtsgut vor der Gefahr zu beschützen, für die der Täter verantwortlich ist
Beispiele: Verkehrssicherheitspflichten, Aufsichtspflichten, Ingerenz

aa) aus der Gemeinschaft 

Möglicherweise könnte sich eine Garantenpflicht daraus ergeben, dass sie regelmäßig gemeinschaftlich auf Sauftouren gehen. Jedoch begründet die bloße Zugehörigkeit zu einer Gruppe noch keine gegenseitige Hilfspflicht. Diese entsteht erst dann, wenn erkennbar die Übernahme einer besonderen Schutzfunktion gegenüber einem Hilfsbedürftigen aus der Gruppe in bestimmten Gefahrenlagen erfolgte. Der lose Zusammenschluss zum gemeinsamen Alkoholkonsum erfüllt diese Voraussetzung noch nicht.[3]BGH BeckRS 2022, 28712 Rn. 32 Eine Beistandspflicht des Z lässt sich daher nicht aus der Gemeinschaft zwischen den vier Freunden begründen.

bb) aus tatsächlicher Übernahme

In Betracht kommt eine Garantenpflicht aufgrund einer tatsächlichen Übernahme. Diese ergibt sich daraus, dass der Gefährdete durch die tatsächliche Übernahme des Schutzes sich in Sicherheit wiegen darf.[4]So Bosch, in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 13 StGB Rn. 28.

Zu beachten ist, dass eine Garantestellung nicht allein darausfolgt, dass einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigen Beistand durch den Täter geleistet wird. Vielmehr entsteht die besondere Stellung erst dadurch, dass der Helfende die Situation für den Hilfsbedürftigen wesentlich verändert hat. Beispielsweise dadurch, dass Rettungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden Gefahren neu geschafft. [5]BGH BeckRS 2022, 28712 Rn. 21.

Bereits in der Gaststätte war M in einem Zustand der Hilfsbedürftigkeit. Dort befanden sich neben X und Y als Helfer auch noch der Wirt und andere Gäste. Jedoch haben X und Y durch das Helfen beim Anziehen der Jacke und das Hinaufhelfe der Treppe deutlich gemacht, dass sie sich um M kümmern werden. 

Dadurch, dass X und Y sich um M kümmern, könnten weitere Rettungsmöglichkeiten des M ausgeschlossen worden sein. Denn für die Garantenstellung der tatsächlichen Übernahme spielt das Vertrauen als materieller Grund der Garantenstellung eine entschiedene Rolle. Wenn aufgrund des Vertrauens andere Rettungsmöglichkeiten nicht genutzt werden, kann dadurch die Garantenstellung begründet werden.[6]Eisele, JuS 2023, 182, 183. Das Vertrauen auf die Hilfeleistung des Übernehmenden ist der Grund dafür, dass das Opfer nunmehr von den Aktivtäten des Garanten abhängig ist. [7]Anm. Mitsch, NJW 2022, 3656, 3659.

M verließ sich darauf, dass sich X und Y um M kümmern werden. Zudem entfernten sie den M aus dem Einflussbereich des Wirtes und den anderen Gästen. Außerdem vertrauten sie darauf, dass sich die beiden um M kümmern werden, sodass sie selbst keine Hilfe anboten. Somit war M abhängig von der Hilfeleistung durch X und Y. Weitere Rettungsmöglichkeiten wurden daher durch dieses Verhalten verhindert. Sodass die Situation für M durch die Übernahme der Hilfe wesentlich verändert wurde. 

Die Garantenpflicht von X und Y bestand somit kraft tatsächlicher Übernahme. 

cc) Ausschluss der Garantenpflicht 

Möglicherweise entfällt die Garantenpflicht von X und Y, da sich M selbstständig von der Gruppe auf dem Weg zum Parkhaus entfernt. Dadurch könnte M kenntlich gemacht haben, dass er auf einen Beistand verzichte.

Eine Beistandspflicht des Garanten erlischt, wenn der auf den Schutz Vertrauende anderweitig Gefahrenvorsorge treffen kann, sich nicht mehr in einer hilflosen Lage befindet oder die Hilfe erkennbar nicht mehr will.[8]BGH BeckRS 2022, 28712 Rn. 23.

M war stark alkoholisiert, welches eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber, ob er fremde Hilfe ablehnt, ausschließt. Dieser Zustand war auch für X und Y erkennbar. Auch wenn sich M selbstständig von der Gruppe entfernte, reicht dieses Handeln aufgrund seines Zustandes nicht dafür aus, um die Garantenpflicht von X und Y auszuschließen. 

dd) Zwischenergebnis

Eine Garantenstellung liegt somit vor.

f) Entsprechungsklausel § 13 I StGB

Gem. § 13 I StGB entspricht das Unterlassen einem aktiven Tun. 

2. Subjektiver Tatbestand

X und Y müssten vorsätzlich gehandelt haben. Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller Tatbestandsmerkmale zum Tatzeitpunkt. Da der Tod des M von beiden nicht gewollt wurde und ein wissentliches Handeln ebenfalls ausscheidet, kommt der dolus eventualis in Betracht. Mit dolus eventualis handelt der Täter, wenn er den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs als Folge seines Handelns nicht für sicher, sondern nur für möglich hält und diesen Erfolg billigend in Kauf nimmt.[9]Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, 2. Abschnitt Rn. 43f.

Fraglich ist, ob X und Y überhaupt den Todeseintritt des M für möglich gehalten haben. X und Y haben erkannt, dass M sich in keiner sicheren Lage befindet. X weist sogar Y und Z an, dem M zu helfen. Die Gefahr der Nähe zum Flutkanal und der damit verbundenen Gefahr des Ertrinkens wurde zumindest von X und Y für möglich gehalten. 

Zudem müsste der Todeseintritt von X und Y billigend in Kauf genommen worden sein. Zwar sehen die beiden, dass M sich nahe des Flutkanals befindet, jedoch erschließt sich aus den Handlungen beider Täter, dass sie die Gefahr nicht ernst genommen haben. Insbesondere das X die Szene filmt, verdeutlicht, dass er keine ernsthafte Gefahr für M angenommen hat. Zudem sind die drei miteinander befreunde und es gibt keine weiteren Anhaltspunkte dafür, dass einer der beiden Täter den Tod des M gewünscht, gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen haben. Vielmehr zeigt das Verhalten, nach dem alle den Ort verlassen haben, dass sie davon ausgegangen sind, dass es M gut gehe. Ansonsten hätten sie die WhatsApp-Nachrichten an M nicht versenden müssen.

Daher ist ein bedingte Tötungsvorsatz abzulehnen. X und Y handelten nicht vorsätzlich. 

II. Ergebnis 

X und Y haben sich nicht wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 StGB strafbar gemacht. 

B. Strafbarkeit gem. § 221 I Nr. 2, III StGB

X und Y könnten sich wegen Aussetzung mit Todesfolge gem. § 221 I, Nr. 2, III StGB strafbar gemacht haben, indem sie dem M nicht halfen, die Böschung hinaufzukommen und ihn vor Ort zurückließen, als sie ihn nicht fanden.

Vernetztes Lernen: Wie ist die Deliktsstruktur der Aussetzung ausgestaltet?

Der Tatbestand:[10]Vgl. dazu Anm. Drees, NStZ 2023, 98, 100.
§ 221 I Nr. 1 ist ein Tätigkeitsdelikt.
§ 221 I Nr. 2 gilt als ein echtes Unterlassungsdelikt.[11]BGH NStZ 2012, 210.

Beide Tatbestandsalternativen setzen einen konkreten Gefährdungserfolg voraus.

Bei einem fahrlässigen verursachten Tod des Opfers (§ 18 StGB) wird die Tat zu einem Verbrechen hochgestuft (§ 221 III).

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand
a) Hilflose Lage

M müsste sich in einer hilflosen Lage befunden haben. Eine hilflose Lage ist eine Lage, die mit Gefahr für Leib oder Leben verbunden ist, derer sich der Gefährdete weder aus eigener Kraft noch mit fremder Hilfe erwehren kann.[12]Rengier, Strafrecht BT II, 23. Aufl. 22, § 10 Rn. 7. M war stark alkoholisiert. Durch die Lage am Kanalufer befand er sich in der Gefahr in den Kanal zu fallen und zu ertrinken. Er selbst schaffte es nicht mehr sich aus eigener Kraft aufzustellen, geschweige denn sich vom Ufer zu entfernen und die Böschung hinaufzugelangen. Ihm wurde zudem nicht von außenstehenden geholfen. Daher befand sich M in einer hilflosen Lage. 

b) Beistands- oder Obhutspflicht

X und Y müsste eine Beistands- oder Obhutspflicht für M treffen. Zur Beurteilung sind die Grundsätze heranzuziehen, die für die Entstehung der Garantenstellung im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte gelten. Hilfspflichten wie diejenigen aus § 323c I StGB, die jedermann treffen, reichen zur Begründung einer Beistandspflicht nicht aus.[13]BGH BeckRS 28712 Rn. 21.

X und Y trifft demnach eine Obhuts- und Beistandspflicht, da sie eine Garantenpflicht kraft Übernahme traf. 

c) Im Stich lassen

Zudem müsste M im Stich gelassen worden sein. Darunter ist die Nichterfüllung der bestehenden Obhuts- oder Beistandspflicht zu verstehen, obwohl es dem Garanten möglich gewesen wäre.[14]Rengier, Strafrecht BT II, 23. Aufl. 2022, § 10 Rn. 18.

X und Y haben keine Hilfeleistung vorgenommen. Sie waren zwar alkoholisiert, aber nicht dermaßen, dass es ihnen unmöglich gewesen wäre, ihren Beistandspflichten nachzukommen. Somit sind sie nicht ihrer Pflicht nachgekommen. M wurde somit im Stich gelassen. 

d) Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung

Weiterhin müsste die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung für M bestanden haben. Dafür ist eine konkrete Gefahr erforderlich, in der sich die Gefahren der hilflosen Lage realisieren.[15]Rengier, Strafrecht BT II, 23. Aufl. 2022, § 10 Rn. 24. Eine konkrete Gefahr liegt dann vor, wenn der Eintritt des unmittelbar bevorstehenden Unfalls und der Eintritt des Schadens vom Zufall abhängt.[16]Rengier, Strafrecht BT II, 23. Aufl. 2022, § 44 Rn. 12.

M befand sich am Ufer des Flutkanals. Aufgrund seines hilflosen Zustandes bestand die Gefahr des Ertrinkens. M ist sogar in den Flutkanal gefallen, sodass sich die bestehende Gefahr realisiert hat und somit die konkrete Gefahr notwendigerweise als Durchgangstadium durchschritten wurde. X und Y haben daher M der Gefahr des Todes ausgesetzt. 

2. Subjektiver Tatbestand

X und Y müssten vorsätzlich gehandelt haben. Auch hier kommt der bedingte Vorsatz in Betracht. Beide erkannten, dass sich M in einer hilflosen Lage befindet, die auch eine Gefahr für sein Leben darstellte. Erkennbar ist dies daran, dass X den Y und Z aufforderte, dem M beim Aufstehen zu helfen. Jedoch unternahmen sie nichts. Dadurch, dass sie nichts unternahmen, nahmen sie die bestehende Gefahr für den M billigend in Kauf. 

X und Y handelten folglich vorsätzlich.

II. Rechtswidrigkeit und Schuld

X und Y handelten rechtswidrig, da keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind. Zudem handelten sie auch schuldhaft. Sie waren zwar beide alkoholisiert, aber nicht in dem Maße, dass dadurch eine Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB in Betracht käme.

Vernetztes Lernen: Bei welcher Promillegrenze wird von einer Schuldunfähigkeit ausgegangen?
Grundsätzlich ist bei 3 Promille das Tatgericht dazu verpflichtet, die Schuldunfähigkeit zu erörtern. Bei einem schweren Gewaltdelikt soll ein Ausschluss der Steuerungsfähigkeit wegen erhöhter Hemmschwelle gegenüber Tötungen oder schweren Körperverletzung erst ab 3,3 Promille naheliegen.[17]Eschelbach, in BeckOK StGB, 56. Edition 1.2.2023, § 20 Rn. 24.

III. Erfolgsqualifikation § 221 III StGB

X und Y könnten die Erfolgsqualifikation gem. § 221 III StGB verwirklicht haben. Dafür müsste der Tod des M eingetreten sein. M ist im Kanal ertrunken. Durch das pflichtwidrige Unterlassen der Hilfeleistung haben Y und X den Tod des M verursacht. 

Zudem müssten sie bezüglich des Todes fahrlässig gem. § 18 StGB gehandelt haben. Fahrlässigkeit ist dann anzunehmen, wenn gebotene Sorgfaltspflicht außer Acht gelassen wurde. Hinsichtlich dieser Tat ist Fahrlässigkeit gegeben, da sich die Verletzung der gebotenen Sorgfalt bereits aus der vorsätzlichen Erfüllung des Grundtatbestandes ergibt und die Folgen objektiv vorhersehbar waren. 

IV. Ergebnis 

X und Y haben sich gem. §§ 221 I Nr. 2, III StGB strafbar gemacht.

C. Strafbarkeit gem. § 222 StGB

X und Y haben sich überdies wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB strafbar gemacht, da sie ihre Sorgfaltspflicht außer Acht gelassen haben und M zu Tode gekommen ist. 

D. Strafbarkeit gem. § 323c I StGB

Zudem haben X und Y sich wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c I StGB strafbar gemacht, da sie dem in einem Unglücksfall befindenden M nicht geholfen haben.

Strafbarkeit des Z

A. Strafbarkeit gem. §§ 212 I, 13 StGB

Eine Strafbarkeit des Z wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 StGB scheidet mangels Tötungsvorsatz aus den bereits ausgeführten Gründen aus. 

B. Strafbarkeit gem. § 221 I, Nr. 2, III StGB

Z könnte sich wegen Aussetzung mit Todesfolge gem. § 221 I Nr. 2, III StGB strafbar gemacht haben, da auch Z dem M nicht zur Hilfe kommt.

I. Tatbestand

M befand sich in einer hilflosen Lage. Fraglich ist, ob Z obhuts- oder beistandspflichtig, also gem. § 13 I StGB zur Rettung seines Lebens verpflichtete gewesen war. 

Eine Obhuts- und Beistandspflicht des Z ergibt sich nicht allein daraus, dass X, Y, Z und M eine Gemeinschaft bilden, die regelmäßig auf Sauftouren gehen.[18]Vgl. BGH BeckRS 2022, 28712 Rn. 33. 

Ebenso wenig ergibt sich eine solche Pflicht durch eine einseitige Übernahme einer Beschützerfunktion durch Z. Denn dieser hatte lediglich den Auftrag die Freunde nach Hause zu fahren, hierbei ist weder ausdrücklich noch konkludent von Z zum Ausdruck gebracht worden, für das Wohlergehen der Freunde – und insbesondere des M – in besonderem Maß Sorge zu tragen. Anderes als X und Y hat Z weder unmittelbare Hilfe geleistet noch diese bei ihren Handlungen unterstützt. Vielmehr hat Z eine gewisse Distanz zu M gehalten.[19]Vgl. BGH BeckRS 2022, 28712 Rn. 33.

Weiterhin begründet auch die Suche nach M, nachdem er verschwunden ist, keine Garantenstellung aus Übernahme einer Verantwortung. Weder genügt insoweit die bloße Kenntnis der Hilfsbedürftigkeit, noch folgt allein aus einem tatsächlich geleisteten Beistand eine Pflicht zur Vollendung einer begonnenen Hilfeleistung.[20]Vgl. BGH BeckRS 2022, 28712 Rn. 34.

Daher besteht keine Obhuts- oder Beistandspflicht des Z gegenüber M.

II. Ergebnis

Eine Strafbarkeit scheidet mangels einer Obhuts- und Beistandspflicht aus. Z hat sich nicht wegen §§ 221 I, Nr. 2, III StGB strafbar gemacht. 

C. Strafbarkeit gem. §§ 222, 13 StGB

Z könnte sich wegen einer fahrlässigen Tötung durch Unterlassen gem. §§ 222, 13 StGB strafbar gemacht haben. Aufgrund der fehlenden Garantepflicht des Z scheidet diese Strafbarkeit jedoch ebenfalls aus. 

D. Strafbarkeit gem. § 323 I StGB 

Z könnte sich wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c I StGB strafbar gemacht haben. 

I. Tatbestand

1. Unglücksfall

Dafür müsste ein Unglücksfall vorliegen. Ein Unglücksfall ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das erhebliche Gefahren für Personen oder bedeutende Sachwerte mit sich bringt oder zu bringen droht.[21]Rengier, Strafrecht BT II, 14. Aufl. 2022, § 42 Rn. 3. Bei dem Sturz des M die Böschung hinunter, landet er direkt am Ufer des Flutkanals. Damit verbunden entsteht die Gefahr, dass M ins Wasser fällt und ertrinkt. Ein Unglücksfall ist somit gegeben.

2. Nicht Hilfe geleistet

Die Hilfeleistung durch Z ist auch ausgeblieben. Er hat weder dem M geholfen aufzustehen, noch hat er einen Notruf angerufen, obwohl M deutlich artikuliert, dass es ihm nicht gut gehe. Ihm war die Hilfeleistung auch möglich und zumutbar, da er weder alkoholisiert war noch sich selbst durch eine Hilfeleistungshandlung in Gefahr gebracht hätte. 

3. Subjektiver Tatbestand

Dabei handelte Z auch vorsätzlich, da er wusste, dass M Hilfe benötigt und erkannte, dass er sich in einer Gefahr befand. 

II. Rechtswidrigkeit und Schuld 

Zudem handelte er rechtswidrig und schuldhaft, da weder Rechtfertigungsgründe noch Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe ersichtlich sind. 

III. Ergebnis 

Z macht sich wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 322c I StGB strafbar. 

Gesamtergebnis

X und Y machen sich wegen Aussetzung mit Todesfolge gem. §§ 221 I Nr. 2, III StGB strafbar sowie der fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB und wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB, wobei diese beiden Strafbarkeiten hinter die Aussetzung mit Todesfolge zurücktreten. 

Z macht sich wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c I StGB strafbar. 


Zusatzfrage

Kommt eine Strafmilderung gem. 13 II StGB bei der Tatbestandsalternative Nr. 2 der Aussetzung in Frage?

Ob eine Strafmilderung gem. § 13 II StGB anwendbar ist, ist umstritten.
Eine direkte Anwendung des § 13 II StGB kommt nicht in Betracht, da § 13 II StGB die Strafmilderung für unechte Unterlassungsdelikte normiert und § 221 I Nr. 2 StGB als ein echtes Unterlassungsdelikt ausgestaltet ist.[22]BGHSt 57, 28, 31.
Eine entsprechende Anwendung der Strafmilderung gem. § 13 II StGB kann nur in Betracht kommen, wenn eine planwidrige Regelungslücke besteht.

Eine Ansicht vertritt, dass für eine Analogie kein Raum bestehe. Denn der Gesetzgeber habe bei der Neufassung des § 221 StGB Nr. 1 und Nr. 2 in ihren Tatbestandsalternativen gleichgesetzt. Daher könne der Fall des Im-Stich-Lassens des Opfers (gem. Nr. 2) nicht milder bestraft werden, als der Fall des Versetzens des Opfers in eine Hilflose Lage (gem. Nr. 1).[23]BGH NStZ 2022, 601, Rn. 37.

Die andere Ansicht spricht sich für eine analoge Anwendung des § 13 II StGB in diesem Fall aus. Dies ergebe sich aus einem Vergleich des Unrechtsausmaßes der verschiedenen Tatbestandsalternativen des § 221 I StGB. In Nr. 1 begehe der Täter das Unrecht aktiv; er versetzt das Opfer aktiv in eine hilflose Lage. Der Täter in Nr. 2 hingegen begehe geringeres Unrecht, da er nicht für die Hilflosigkeit des Opfers verantwortlich ist, sondern nur pflichtwidrig die Gefahrbekämpfung unterlässt.[24]So Hardtung, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2021, § 221 Rn. 30. Zudem entstehe ansonsten ein Wertungswiderspruch insbesondere zu der Fallkonstellation, wenn § 221 I Nr. 1 StGB durch ein Unterlassen begangen werden würde, bei der zweifelsohne eine Strafmilderung gem. § 13 II StGB in Betracht käme.[25]Anm. Kudlich, NStZ 2022, 601, 604; Hardtung, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2021, § 221 Rn. 30.
Außerdem liege auch eine planwidrige Regelungslücke vor: Dem Gesetzgeber war zwar bewusst, dass er mit Nr. 2 ein echtes Unterlassungsdelikt normiere und deshalb dieselbe Strafe wie für Nr. 1 angedrohe; jedoch lasse sich der Gesetzgebungsbegründung nicht entnehmen, dass der dadurch entstandene Wertungswidersprich mit Nr. 1 gesehen und gewollt war.[26]Hardtung, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2021, § 221 Rn. 30.

Welche besonderen Verfahrensarten sind in der StPO normiert?

Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff. StPO): Summarisches Verfahren zur schnellen und unkomplizierten Aburteilung von Fällen minder schwerer Kriminalität.

Beschleunigtes Verfahren (§§ 417 ff. StPO): Schnellverfahren zur Entlastung der Strafjustiz und zur zügigen Strafverhängung, bei einfachem Sachverhalt und klarer Beweislage.

Sicherungsverfahren (§§ 413 ff. StPO): Verfahren zu selbstständigen Entscheidung über die Anordnung von Maßregeln.

Verfahren gegen Abwesende (§§ 276 ff. StPO): Durchführung eines Beweissicherungsverfahrens (§§ 285 ff. StPO) oder Beschlagnahme des gesamten Vermögens des Angeklagten (§§ 290 ff. StPO).

Privatklageverfahren (§§ 374 ff. StPO): Verweis des Verletzten auf den Weg der Privatklage, wenn Katalogtaten (§ 374 I StPO) und die Staatsanwaltschaft öffentliches Interesse an Strafverfolgung von Amts wegen verneint.

Nebenklageverfahren (§ 395 ff. StPO): Eine Verfahrensart zur Verfolgung eines persönlichen Genugtuungsinteresses und der Kontrolle der Staatsanwaltschaft mit besonderen Rechten des Nebenklägers (§ 397 I StPO).

Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff. StPO): Zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche im Strafverfahren.


Zusammenfassung

1. Eine Garantestellung folgt nicht allein daraus, dass einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigen Beistand durch den Täter geleistet wird. Vielmehr entsteht die besondere Stellung erst dadurch, dass der Helfende die Situation für den Hilfsbedürftigen wesentlich verändert hat. Beispielsweise dadurch, dass Rettungsmöglichkeiten ausgeschlossen oder neue Gefahren geschaffen werden.

2. Zur Beurteilung der Obhuts- und Beistandspflicht gem. § 221 I StGB sind die Grundsätze heranzuziehen, die für die Entstehung der Garantenstellung im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte gelten. Hilfspflichten wie diejenigen aus § 323c I StGB, die jedermann treffen, reichen zur Begründung einer Beistandspflicht nicht aus.

3. Die bloße Zugehörigkeit zu einer Gruppe begründet jedoch noch keine gegenseitige Hilfspflicht im Rahmen des § 221 I StGB. Diese entsteht erst dann, wenn erkennbar die Übernahme einer besonderen Schutzfunktion gegenüber einem Hilfsbedürftigen aus der Gruppe in bestimmten Gefahrenlagen erfolgte. Der lose Zusammenschluss zum gemeinsamen Alkoholkonsum erfüllt diese Voraussetzung noch nicht.

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