highlight_off
Der Flug in ein nicht geplantes Land

BGH Urteil v. 08.06.2022 – 5 StR 406/21, NJW 2022, 2422

Sachverhalt

F lebt in Ungarn. Sie plant ihre Familie zu verlassen, da sie nicht mehr mit den gelebten Werten einverstanden ist. Dafür sucht sie sich Hilfe bei ihrer Cousine A und ihrem Cousin B. Sie versprechen ihr, ihr dabei zu helfen, das Land zu verlassen. Tatsächlich planen sie jedoch, sie in ihr Heimatland Polen zu bringen, und nicht wie versprochen nach Deutschland, damit sie dort von ihrer Familie zur Vernunft gebracht werden kann. Sie wissen aber, wenn F von dem eigentlichen Ziel wüsste, würde sie nicht mitkommen und sich zur Wehr setzen. 

Wie geplant bringen A und B die F unter dem Vorwand der Hilfeleistung zum Flughafen, wobei sie im Auto links und rechts neben ihr sitzen, sodass F zu keinem Zeitpunkt hätte aussteigen können, falls sie es wollte. Auch am Flughaften selbst lassen sie F nicht aus den Augen. Beim Check-In „helfen“ sie der F, damit sie den wahren Ort ihrer Flugreise nicht erfährt. F steigt freiwillig ins Flugzeug. Auch während des Flugs weichen ihr A und B nicht von der Seite. Erst bei der Landung bemerkt sie, dass sie nicht in Deutschland, sondern in Polen ist. 

Wie haben sich A und B strafbar gemacht?

Bearbeitervermerk: Es ist davon auszugehen, dass deutsches Strafrecht anwendbar ist.


Skizze


Gutachten

Strafbarkeit A und B gem. §§ 239 I, 25 II StGB

Indem A und B die F im Auto auf der Rückbank einrahmten und sie auf dem Flughafen zu keinem Zeitpunkt aus den Augen gelassen haben, könnten sich A und B wegen einer Freiheitsberaubung in Mittäterschaft gem. §§ 239 I, 25 II StGB strafbar gemacht haben. 

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand
a) einen anderen Menschen eingesperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt

A und B müssten die F eingesperrt oder auf andere Weise ihrer Freiheit beraubt haben. Ein Einsperren kommt hier nicht in Betracht, da es ein Festhalten in einem umschlossenen Raum durch äußere Vorrichtung benötigt. Weder das Auto, mit dem sie zum Flughafen fahren, noch der Flughafen selbst erfüllen die Kriterien. 

Daher kommt die Freiheitsberaubung auf andere Weise in Betracht. Diese liegt vor, wenn eine Handlung objektiv die vollständige Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit bewirkt.[1]Vgl. Fischer, 69. Aufl. 2022, StGB § 239 Rn. 8. Durch das Einrahmen der F im Auto und das dauerhafte Beobachten auf dem Flughafen, konnte sie zu keiner Zeit ihre Fortbewegungsfreiheit ausüben. Sie war also vom Zeitpunkt des Antritts der Autofahrt bis zum Ende der Flugreise objektiv in ihrer Bewegungsfreiheit beraubt.[2]Vgl. BGH NJW 2022, 2422 Rn. 30f.

Vernetztes Lernen: Liegt eine Freiheitsberaubung auch dann vor, wenn dem Opfer durch eine List vorgespielt wird, es könne seinen Aufenthaltsort nicht verlassen, auch wenn es es wollte? Beispielsweise wenn behauptet wird, wenn das Opfer das Zimmer verlasse, werde der tollwütige Hund es angreifen, dabei befindet sich vor der Tür kein Hund.

Auch wenn die Unmöglichkeit der Ortsveränderung durch eine List vorgetäuscht wird, wird diese Person gegen ihren Willen festgehalten. Daher ist auch in diesen Fällen von einer Freiheitsberaubung auszugehen.[3]Vgl. Rengier Strafrecht BT II, 24. Aufl. 2023, § 22 Rn. 8.

Problematisch erscheint es hier, dass F freiwillig in das Auto und in das Flugzeug steigt. Sie war sich zu keinem Zeitpunkt bewusst, dass sie in ihrer Fortbewegungsfreiheit durch die Handlung von A und B eingeschränkt war. Fraglich ist, wie sich die Nichtkenntnis der Einschränkung auswirkt. 

Grundsätzlich schützt § 239 StGB das Selbstbestimmungsrecht einer Person über die Möglichkeit zur Ortsveränderung.[4]Fischer, 69. Aufl. 2022, StGB § 239 Rn. 2. Umstritten ist jedoch, ob nur der aktuelle oder auch der potentielle Fortbewegungswille geschützt wird. 

aa) aktuelle Bewegungsfreiheit

Eine Ansicht stellt auf die aktuelle Bewegungsfreiheit ab. Dieser Freiheit wäre danach nur derjenige beraubt, der sich zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt wegbewegen will, aber nicht kann.[5]Fischer, 69. Aufl. 2022, StGB § 239 Rn. 4f. F ist nicht bewusst, dass sie in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt ist. Folglich ist nach dieser Ansicht die F nicht in ihrer Freiheit beraubt. 

bb) potentielle Bewegungsfreiheit

Nach einer anderen Ansicht kommt es auf die potentielle Bewegungsfreiheit an. In sie wird auch eingegriffen, wenn der Betroffene sich gar nicht wegbewegen will. Entscheidend ist nur, ob es ihm unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern, wenn er es wollte.[6]BGH NJW 2022, 2422 Rn. 20.

F könnte ihren Aufenthaltsort nicht verändern, wenn sie sich vorliegend umentscheiden würde, etwas anderes zu tun, als in das Flugzeug zu steigen. Somit ist F in ihrer potentiellen Bewegungsfreiheit eingeschränkt und nach dieser Ansicht ihrer Freiheit beraubt.

cc) Stellungnahme

Beide Ansichten kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, sodass eine Stellungnahme erforderlich ist. Durch Auslegung ist zu ermitteln, welche Ansicht vorzugswürdiger ist. 

Der Wortlaut der Norm spricht für die potentielle Bewegungsfreiheit. Denn objektiv betrachtet ist derjenige seiner Freiheit beraubt, der sich aufgrund des Verhaltens des Täters nicht wegbewegen kann, auch wenn er es wollte. Rein objektiv benötigt es dabei nicht eine als Zwang empfundene Willensbeugung. Gerade dieses Element ist der Unterschied zur Nötigung gem. § 240 StGB. Die Nötigung setzt voraus, dass einem anderen ein von diesem nicht gewolltes Verhalten aufgezwungen wird.[7]BGH NJW 2022, 2422 Rn. 23. Als Gegenargument ließe sich anführen, dass das Wort „berauben“ auf eine nötigende Begehungsweise hindeute, sodass gerade erwartet werden könne, dass das Opfer einen tatsächlichen Zwang empfände.[8]Vgl. Anm. Kudlich NJW 2022, 2422, 2425.

Mit der Systematik kann ein weiteres Argument für die zweite Ansicht angeführt werden: Die Straftat der Freiheitsberaubung wiegt schwerer als die Nötigung und steht vor ihr im zugehörigen Abschnitt des StGB. Mit der Einordnung als Spezialfall des § 240 StGB lässt sich dies kaum vereinbaren.[9]BGH NJW 2022, 2422 Rn. 24. Doch auch hier gegen lässt sich anführen, dass dieses systematische Argument auch aus dem Verhältnis von anderen Normen (Mord und Totschlag) bekannt ist, auch wenn es dort ebenfalls stark umstritten ist.[10]Anm. Zimmermann NStZ 2022, 677, 680.

Letztlich spricht jedoch der Sinn und Zweck der Norm für letztgenannte Ansicht: Würde die Freiheitsberaubung als Spezialfall der Nötigung gesehen werden, würde es dem hohen Gut der persönlichen Bewegungsfreiheit nicht gerecht werden.[11]BGH NJW 2022, 2422 Rn. 24. Als solch einen Spezialfall der Nötigung sieht die erst genannte Ansicht die Freiheitsberaubung.[12]Vgl. Fischer, 69. Aufl. 2022, StGB § 239 Rn. 5. 

Nach alledem überzeugt die Ansicht, die auf die potentielle Freiheitsberaubung und einen potentiellen Fortbewegungswillen abstellt. Somit wurde F ihrer Freiheit beraubt. 

Vernetztes Lernen: Ist der Fortbewegungswillen von Schlafenden, Bewusstlosen, Betrunkenen oder Kleinkindern geschützt?
Bewusstlose, besinnungslos Betrunkene sowie Kleinkinder scheiden als taugliche Tatopfer aus. Man geht davon aus, dass diese Personen nicht fähig sind, einen Fortbewegungswillen zu bilden.
Anders verhält es sich mit schlafenden Personen, da der Schlafende jederzeit aufwachen und dann einen Fortbewegungswillen bilden kann.
Die Rechtsprechung differenziert daher nicht zwischen einem schlafenden und wachen Opfer, welches das Einsperren nicht bemerkt.
b) tatbestandsausschließendes Einverständnis 

Möglicherweise liegt ein tatbestandsausschließendes Einverständnis der F vor, da sie freiwillig ins Auto gestiegen, in den Flughafen gegangen und ins Flugzeug einstiegen ist.

Problematisch ist jedoch, dass F aufgrund einer List von A und B einer Fehlvorstellung über den Zweck und das Ziel ihrer Reise unterlag. Fraglich ist, wie sich das auf das Vorliegen eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses auswirkt. 

Grundsätzlich schließt die wirksame Zustimmung des Opfers den Tatbestand aus.[13]Fischer, 69. Aufl. 2022, StGB § 239 Rn. 12. Darüber hinaus stehen Irrtümer und Täuschungen der Wirksamkeit eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses nicht entgegen. Denn setzt der Tatbestand ein Handeln gegen den Willen des Berechtigten voraus, schließt auch dessen durch Täuschung erschlichenes Einverständnis den Tatbestand aus. In diesen Fällen entspricht das durch die List herbeigeführte Handeln dennoch dem Willen des Berichtigten.[14]BGH NJW 2022, 2422 Rn. 28.

Dabei ist jedoch zu differenzieren, ob sich das Einverständnis auf das geschützte Rechtsgut bezieht. Bei der Freiheitsberaubung müsste das Einverständnis sich auf den (potentiellen) Fortbewegungswillen beziehen. Das heißt, der Betroffene müsste sein Einverständnis hinsichtlich des Ausmaßes und der Dauer seiner Freiheitsentziehung gegeben haben. Ein durch List erschlichenes Einverständnis des Betroffenen in eine ihm nicht bewusste Freiheitsentziehung stellt somit lediglich ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung durch Verhinderung des zu erwartenden Widerstandes des Betroffenen dar, das nicht zu einem Ausschluss des objektiven Tatbestandes führen kann.[15]BGH NJW 2022, 2422 Rn. 28. In diesen Fällen macht sich der Betroffene keine Gedanken darüber, ob er in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist und bildet dementsprechend auch keinen zustimmenden Willen.[16]Vgl. Anm. Kudlich NJW 2022, 2422, 2425.

F war nicht bewusst, dass sie sich nicht hätte fortbewegen können, wenn sie es wollte. Deshalb ist die Täuschung darüber, dass A und B ihr helfen wollen, nicht von Bedeutung. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass F einverstanden mit der Freiheitsberaubung war. 

Vernetztes Lernen: Wie ist die Täuschung bei einem Diebstahl zu bewerten, wenn dadurch die Sache nicht gegen den Willen weggenommen wird?
Für die Wirksamkeit des Einverständnisses ist die Täuschung grds. bedeutungslos. Es genügt das faktische Vorliegen des Einverständnisses und somit handelte der Täter nicht gegen den Willen des Berichtigten.
Ausnahme: Eine Ausnahme wird gemacht, wenn dem Gewahrsamsinhaber hoheitliche Zwangsbefugnisse vorgetäuscht werden, sodass er den Gewahrsam nicht freiwillig aufgibt.[17]BGH 18, 211, 223.

Auch bei dem Hausfriedensbruch kommt es auf den tatsächlichen Willen des Berechtigten an: Verschafft sich der Täter durch Täuschung zutritt, scheidet § 123 StGB aus.

c) Mittäterschaft § 25 II StGB

A und B handelten nach ihrem gemeinsam gebildeten Tatplan und führten diesen gemeinsam aus, als sie die F wie geplant zum Flughafen brachten und dafür sorgten, dass sie in das Flugzeug nach Polen steigt. Somit handelten A und B mittäterschaftlich gem. § 25 II StGB.

2. Subjektiver Tatbestand

A und B handelten vorsätzlich hinsichtlich der Freiheitsberaubung und der mittäterschaftlichen Begehung. 

II. Rechtswidrigkeit und Schuld

A und B handelten rechtswidrig und schuldhaft. 

III. Ergebnis

A und B haben sich wegen Freiheitsberaubung in Mittäterschaft strafbar gemacht. 


Zusatzfrage

Wie sind die Begehungsweisen der Freiheitsberaubung in Abs. 3 und 4 einzuordnen und wofür ist die Einordnung von Bedeutung?

§ 239 III Nr. 2 StGB (die Verursachung der schweren Körperverletzung) und § 239 IV StGB (die Verursachung des Todes) sind nach allgemeiner Meinung erfolgsqualifizierte Delikte.

Umstritten ist, wie der Fall des § 239 III Nr. 1 StGB (die Freiheitsberaubung länger als eine Woche) systematisch einzuordnen ist.
Es könnte ebenfalls ein erfolgsqualifiziertes Delikt sein oder als Qualifikationstatbestand eingeordnet werden.

Für die Annahme einer Qualifikation kann der Wortlaut angeführt werden: „wenn der Täter …. beraubt“. Dies beschreibt das Merkmal des Grundtatbestands, jedoch mit einer Verschärfung.

Jedoch spricht insbesondere die Gesetzesbegründung und die Gesetzessystematik für die Einordnung als erfolgsqualifiziertes Delikt: Dem StGB ist es unbekannt, innerhalb eines Absatzes einen Qualifikationstatbestand und eine Erfolgsqualifikation zu benennen.

Das heißt, in all den Fällen tritt die Haftung für die schwere Folge schon bei Fahrlässigkeit ein (§ 18 StGB: wenigstens fahrlässig).
Zu beachten ist weiterhin, dass es bei der Verwirklichung der schweren Folge einen spezifischen Gefahrverwirklichungszusammenhang zwischen Grunddelikt und der schweren Folge bedarf. Das heißt, die dem Grundtatbestand anhaftende Gefahr muss sich in der Folge niederschlagen.[18]Dazu Reniger Strafrecht BT II, 24. Aufl. 2023, § 22 Rn. 19ff.

Was ist bei der Verwertbarkeit eines Beweises genau zu prüfen?

Die Prüfung eines Beweises erfolgt in drei Schritten:
1. Ist ein (belastendes) Beweismittel vorhanden?
2. Ist das Beweismittel verwertbar?
3. Welchem Beweiswert kommt dem Beweismittel zu?

Zu 1: Nur Strengbeweise können als Beweismittel in den Strafprozess mit einbezogen werden.
Strengbeweise sind die, die in der StPO genannt werden: Zeugen, Urkunden, Augenschein und Sachverständiger.

Zu 2: Bei der Verwertbarkeit des Beweises muss geprüft werden, ob ein Beweisverwertungsverbot vorliegt.
Ausdrücklich: Ein Beweisverwertungsverbot kann ausdrücklich im Gesetz normiert sein (bsw. § 136a II 2 StPO, § 100d II 1 StPO).
Unselbstständig: Ein unselbstständiges Beweisverwertungsverbot liegt vor, wenn das Beweismittel rechtswidrig erhoben wurde. In diesen Fällen muss abgewogen werden, ob es vertretbar ist, das Beweismittel trotzdem zu verwenden oder nicht (sog. Abwägungslehre)
Selbstständig: Ein selbstständiges Beweisverwertungsverbot ergibt sich daraus, dass durch die Verwertung des Beweismittels in Grundrechte eingegriffen wird, insbesondere das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und dem daraus abgeleiteten nemo-tenetur-Grundsatz.

Zu 3: Bei dem Beweiswert muss genau geprüft werden, welche Beweiskraft beispielsweise eine Zeugenaussage hat.


Zusammenfassung

1. Von dem Opfer wird die potentielle Bewegungsfreiheit geschützt, auch wenn es sich in dem Moment der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht fortbewegen möchte. 

2. Wenn das Opfer aufgrund einer List nicht weiß, dass es in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, liegt kein tatbestandsausschließendes Einverständnis vor und somit ist der Tatbestand erfüllt. 

[+]

Schreibe einen Kommentar