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Das Leid der Welt sollst du nicht ertragen
BGH, Urteil vom 19.6.2019 – 5 StR 128/19 – BGH NJW 2019, 2413

Sachverhalt

M und F sind seit Jahren verheiratet. Aufgrund von einer Privatinsolvenz des M und der Spielsucht von beiden ist die finanzielle Situation des Ehepaares schwierig. Seit 2018 können M und F die Rechnungen der Miete, des Stroms und weiterer Verpflichtungen nicht bezahlen. Es droht die Zwangsräumung und die Sperrung des Stromanschlusses. Außerdem hinterging M seinen Arbeitgeber, indem er die Bareinnahme aus seinem Job als Taxifahrer einbehielt. Nachdem er davon Kenntnis erlangte, kündigte er M fristlos und drohte ihm mit einer Anzeige.

F war lediglich bekannt, dass sie in einer schlechten finanziellen Situation stecken, jedoch hatte sie keine genauen Kenntnisse über die finanzielle Lage. M glaubte F von all diesen existenzbedrohenden Tatsachen verschonen zu müssen. Er war in Sorge, sie werde diese Situation nicht verkraften, da sie 16 Jahre älter und unter erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen litt.

M entschied F nicht in die Situation einzuweihen und überlegte stattdessen, erst sie und dann sich selbst zu töten. Er hatte zu keinem Zeitpunkt mit ihr darüber gesprochen, gemeinsam aus dem Leben auszuscheiden. In der Tatnacht nahm M einen Hammer und schlug neunmal wuchtig und für sich genommen tödlich gegen den Kopf der schlafenden F. Die erheblichen Kopfverletzungen führten binnen kürzester Zeit zur Bewusstlosigkeit und innerhalb von etwa fünf Minuten zum Tod durch Ersticken. M war bewusst, dass F sich mit dem Bewusstsein schlafen gelegt hatte, ihr drohe keine Gefahr. Sein anschließend geplanter Selbstmord mittels Medikamenten scheiterte.

Das Tatmotiv des M lag darin, seine Ehefrau durch die Tötung ein Leben im finanziellen Ruin zu ersparen. Er wollte einen befürchteten völligen psychischen Zusammenbruch vermeiden.

Strafbarkeit des M?


Skizze


Gutachten

Strafbarkeit des M gem. §§ 211 I, II Gr. 2 Var. 1, 212 StGB

M könnte sich wegen Mordes an F gem. §§ 211 I, II Gr. 2 Var. 1, 212 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Hammer, während F schlief, neunmal auf ihren Kopf schlug, sodass sie bewusstlos wurde und binnen kurzer Zeit an den Folgen der Kopfverletzung verstarb.

A. Tatbestand

I. Objektiver Tatbestand

1. Tod eines anderen Menschen

F ist gestorben, sodass von dem Tod eines anderen Menschen ausgegangen werden kann.

2. Kausalität

Die Tötungshandlung des M müsste auch kausal für den Tod der F gewesen sein. Kausal ist gem. der conditio-sine-qua-non-Formel eine Handlung dann, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg entfiele.[1]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2019, § 13, Rn. 3. Wenn M mit dem Hammer nicht auf den Kopf der F eingeschlagen hätte, wäre F nicht an einer Kopfverletzung gestorben. Daher ist die Handlung des M kausal zum Tod der F.

3. Objektive Zurechnung

Der Tod der F müsste dem M objektiv zugerechnet werden können. Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg immer dann, wenn der Täter eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandsmäßige Erfolg realisiert hat. M hat, indem er mehrmals auf den Kopf der F eingeschlagen hat, die rechtlich missbilligte Gefahr einer Kopfverletzung geschaffen, die sich auch tatsächlich in einer letalen Kopfverletzung realisierte. Der Tod der F ist dem M objektiv zurechenbar.

4. (P) Heimtücke

M könnte durch das Töten der F im Schlaf das Merkmal der Heimtücke gem. § 211 II, Gr. 2, Var. 1 StGB verwirklicht haben.

Heimtückisch handelt derjenige, der die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers bewusst ausnutzt.[2]Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 21. Auflage 2020, § 4 Rn. 23. Arglos ist derjenige, der sich zum Zeitpunkt der Tathandlung keines Angriffes versieht. Wehrlos ist derjenige, der aufgrund seiner Arglosigkeit in seiner Abwehrmöglichkeit beschränkt ist.[3]Rengier, Strafrecht B Besonderer Teil II, 21. Auflage 2020, § 4 Rn. 24, 31. F befürchtet keinen Angriff zum Zeitpunkt der Tathandlung. Die Arglosigkeit von Schlafenden ist von der herrschenden Meinung anerkannt. Da der Schlafende seine Arglosigkeit mit in den Schlaf nimmt, im Vertrauen darauf, dass ihm nichts geschieht. Er überlässt sich also freiwillig dem Zustand der Wehrlosigkeit.[4]Eisele JuS 2019, 1124, 1125; Rengier, Besonderer Teil II, 21. Auflage 2020, § 4 Rn. 29 m.w.N. Da F keine Kenntnisse darüber hat, dass der M die F und dann sich selbst töten wollte, legte sich F mit dem Bewusstsein schlafen sicher zu sein. F war daher zum Zeitpunkt des Angriffs arglos. Aufgrund der Arglosigkeit der F war sie in ihrer Abwehrmöglichkeit des Angriffes von M eingeschränkt. Auch die Wehrlosigkeit der F liegt somit vor. Dass sich F im Vertrauen schlafen gelegt hat, dass ihr nichts passieren würde, war M auch bewusst.

Vernetztes Lernen: Ist ein heimtückischer Mord an Kleinstkindern und Bewusstlosen möglich?
Vgl. dazu den Fall „Vergiftete Babygläschen“.

M hat hier jedoch nur „zum Besten“ seiner Frau F handeln wollen, indem er ihr die aussichtslose finanzielle Situation ersparen wollte. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, ob die Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe verhältnismäßig erscheint. Daher werden insbesondere für das Mordmerkmal der Heimtücke verschiedene Restriktionstechniken vorgeschlagen:

Vernetztes Lernen: Weshalb bedarf es der restriktiven Auslegung von Mordmerkmalen?
Das Bundesverfassungsgericht[5]Vgl. BVerfG NJW 1977, 1525. hat zur Androhung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgeführt, diese sei grundsätzlich verfassungskonform. Jedoch muss im Einzelfall dem Richter von Gesetzes wegen die Möglichkeit offenbleiben, im konkreten Fall die Strafe zu mildern, damit die Strafe schuldangemessen und damit mit dem verfassungsgemäßen Grundsatz vereinbar ist. Eine Strafandrohung muss im gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters stehen. Das heißt vor allem bei einem divergierenden Grad des Unrechts und der Schuld muss der Richter die Möglichkeit haben, der Tat entsprechend gerecht die Strafe zu verhängen. Andererseits darf eine Tat, der die besondere mordtypische Verwerflichkeit nicht anhaftet, nicht unverhältnismäßig hoch mit Strafe belegt werden.[6]Vgl. hierzu ausführlich zur verfassungsrechtlichen Bedenklichkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe Schneider, MüKo-StGB, 3. Auflage 2017, § 211 Rn. 34. Die Verhältnismäßigkeit von Strafandrohung und Verwerflichkeit der Mordmerkmale kann sowohl auf Tatbestandsebene als auch auf Rechtsfolgeseite erreicht werden. Dies ist je nach Mordmerkmal umstritten. Relevanz erhält die Restriktion der Mordmerkmale in der Praxis insbesondere bei Heimtücke und Verdeckungsabsicht.
a) Positive oder negative Typenkorrektur

Nach der positiven oder negativem Typenkorrektur, die von Teilen der Literatur vorgeschlagen wird, sollen alle Umstände in einer Gesamtwürdigung zur Begründung einer besonderen Verwerflichkeit auf Tatbestandsebene berücksichtigt werden. Denn zur Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundes bzgl. der lebenslangen Freiheitsstrafe bedarf es einer generellen Abgrenzung für minder verwerfliche Tötungen. Dies kann durch die positive Feststellung der besonderen Verwerflichkeit eines Angriffs auf das fremde Leben unter Berücksichtigung aller Einzelfall Umstände begründet sein. Oder durch eine negative Abgrenzung eines nicht im höchsten Maß an Verwerflichkeit einer heimtückischen Ausnutzung. Liegt solch eine besondere Verwerflichkeit nicht vor, ist das Merkmal der Heimtücke zu verneinen.[7]Nähere Ausführungen dazu Eschelbach, BeckOK-StGB, 45. Edition 2020, § 211, Rn. 38. Nach einer Gesamtwürdigung würde man aufgrund der außergewöhnlichen Umstände dazu kommen, das Merkmal der Heimtücke verneinen zu wollen, da der M seine Frau nicht aufgrund einer bösen Absicht töten wollte, sondern vielmehr um sie vor einem finanziellen Ruin zu schützen. Eine negative Typenkorrektur des Merkmals wäre hier vorzunehmen. Eine besondere Verwerflichkeit ist nicht gegeben und demnach handelte M nicht heimtückisch.

b) Verwerflicher Vertrauensbruch

Eine weitere Theorie in der Literatur besagt, dass das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit einen verwerflichen Vertrauensbruch darstellen muss, damit die Heimtücke bejaht werden kann. Insbesondere sollen Fällen, in denen ein Überraschungseffekts ausgenutzt wird, ausgeschlossen werden. Denn ansonsten würde jeder überraschender Angriff zu einem Heimtückemord werden. Dieser Einschränkung bedarf es, um der Androhung der Höchststrafe gerecht zu werden können. Dies wird insbesondere damit begründet, dass ein offener Angriff für das Opfer oftmals seelisch belastender sei, wenn das Opfer davon ausgehe, von seitens des Täters gehe keine Gefahr aus. Damit sei solch ein Angriff verwerflicher als ein Überraschungsangriff mit sofortiger Tötung. Außerreichend für ein solches Vertrauensverhältnis sei der Missbrauch sozial-freundlicher Verhaltensmuster, es bedarf daher kein institutionalisiertes Vertrauensverhältnis.[8]Nähere Ausführung dazu Eschelbach, BeckOK-StGB, 45. Edition 2020, § 211, Rn. 37.1. Ein solches Vertrauensverhältnis liegt i.d.R. zwischen Eheleuten vor. Aufgehoben kann dieses Vertrauen insbesondere nach Konflikten sein.[9]Vgl. dazu Eser/Steinberg-Lieben, Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 211, Rn. 26a. Da M die F jedoch nicht in seine Pläne einweiht, geht F mit dem Vertrauen ins Bett, von seitens des M gehe keine Gefahr aus. Diesen Umstand nutzte M aus, sodass von einem verwerflichen Vertrauensbruch ausgegangen werden kann und somit die Heimtücke zu bejahen wäre.

c) Alte BGH Rechtsprechung

Der BGH vertrat die Lösung, dass eine tatbestandliche Einschränkung über das zusätzliche Merkmal der feindlichen Willensrichtung erfolgen sollte. Diese liegt nicht vor, wenn der Täter vermeintlich zum Besten des Opfers gehandelt haben will. Der Täter wäre nur über § 212 StGB zu bestrafen. Parallel dazu hat der BGH in einer Leitentscheidung 1981 die Rechtsfolgelösung entwickelt, ohne die Einschränkung der feindseligen Willensrichtung aufzugeben.[10]BGH NJW 1981, 1965. Besondere nachvollziehbare Motive der Tötung sollten auf Ebene der Strafzumessung berücksichtigt werden. Solche außergewöhnlichen Umstände wurden immer insbesondere durch notstandsähnliche, ausweglos erscheinende Situationen begründet, in denen der Täter aus großer Verzweiflung, aus tiefem Mitleid oder aus gerechten Zorn handelt.[11]Nach der alten Rechtsprechung des BGH NJW 1981, 1965, 1968. In entsprechender Anwendung des § 49 I Nr. 1 StGB kann die Absenkung des Strafrahmens von lebenslang zu drei bis 15 Jahren erfolgen.[12]BGH NJW 1981, 1965; BGH NJW 2019, 2413, 2414 (Rn. 16); Eisele, JuS 2019, 1124, 1125. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH würde M nicht wegen Mordes verurteilt werden. Die Heimtücke wäre nicht zu bejahen, da M nur zum vermeintlich Besten der F gehandelt hat und somit die feindselige Willensrichtung nicht vorliegt.

d) Neue BGH Rechtsprechung

Die neue Entscheidung des Senats gibt die alte Rechtsprechung auf, eine Einschränkung über die feindselige Willensrichtung auf Tatbestandsebene vorzunehmen. Die Fälle, in denen der Täter glaubt, zum Besten des Opfers gehandelt zu haben, bedürfen keine Restriktion auf Tatbestandsebene. Auch in diesen Fällen kann das Merkmal der Heimtücke verwirklicht sein.[13]BGH NJW 2019, 2413, 2415 (Rn. 17).

aa) Begründung

In der neuen Entscheidung stellt der Senat die Frage, inwiefern es einer Korrektur über das Merkmal der feindseligen Willensrichtung überhaupt bedarf. Denn, unabhängig davon, ob außergewöhnliche Umstände vorliegen oder der Täter zum vermeintlich Besten des Opfers handelt, wird die Tötung auf verwerfliche Weise begannen, was einen Schuldspruch wegen Mordes erfordert. Das Mordmerkmal erschöpft sich gerade darin, dass vorsätzlich ein Leben auf heimtückische Weise beendet wird. Dieser Umstand lässt auf Tatbestandsebene keine Differenzierung zu. Für eine Korrektur auf Tatbestandsebene, die über den Wortlaut hinausgeht, besteht auch kein Bedarf, wenn die Umstände des Einzelfalls auf der Rechtsolgenseite Berücksichtigung finden können.[14]Vgl. BGH NJW 2019, 2413, 2414 (Rn. 15).

Auch eine Tötung zum vermeintlich Besten des Opfers kann nicht alleine zur Einschränkung des Mordmerkmals der Heimtücke führen und muss ausschließlich auf der Rechtsfolge berücksichtigt werden.[15]BGH NJW 2019, 2413, 2415 (Rn. 17). Denn, selbst wenn der Täter aus Mitleid motiviert wird und zum vermeintlich Besten des Opfers gehandelt haben mag, so handelt der Täter in feindliche Willensrichtung, da er einen anderen Menschen ungewollt tötet. Die Feindseligkeit offenbart sich gerade gegenüber dem Lebensrecht eines anderen Menschen. Durch die Tötung setzt sich der Täter über die Vorstellung über Würde und Wert des Lebens eines anderen Menschen hinweg.[16]BGH NJW 2019, 2413, 2415 (Rn. 23, 26). Solang das Opfer in der Lage ist, einen eigenen Willen über sein Leben zu bilden, liegt bei Heimtücke immer eine feindselige Willensrichtung vor. Wenn das Opfer in der Lage ist, seinen Willen frei zu äußern, muss wegen des Grundsatzes des absoluten Lebensschutzes aus dem GG der Täter bei dem Opfer nachfragen, ob er wirklich aus dem Leben ausscheiden möchte. Zwischen § 216 I StGB und § 211 StGB besteht kein Platz für die Motivation des Täter, führt man sich vor Augen, dass es sich tatbestandlich bei der Heimtücke um ein objektives Mordmerkmal handelt.

Die Berücksichtigung auf der Rechtsfolgenseite der besonderen Umständen bleibt weiterhin aufgrund der Verhältnismäßigkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe geboten.[17]BGH NJW 2019, 2413, 2414 (Rn. 15).

F war zum Zeitpunkt der Tötung fähig einen eigenen Willen zu bilden und eine autonome Entscheidung über ihr Leben treffen zu können. Die Motivation des M ist für das Vorliegen der Mordmerkmals der Heimtücke unbeachtlich. Somit hat M bei der Tötung der F das Merkmal der Heimtücke verwirklicht.

bb) Ausnahme

Der BGH nennt in seinem neuen Urteil zwei Ausnahmefälle, in denen es weiterhin auf das Merkmal der feindseligen Willensrichtung ankommt:

1. Das Opfer ist mit seiner Tötung einverstanden.

2. Das Opfer ist zu einer autonomen Entscheidung nicht fähig.

Im ersten Fall scheint die Ausnahme des BGH eher als systemimmanente Restriktion als eine Korrektur durch Auslegung. Zum einen würde die Arglosigkeit bereits in dem Moment zu verneinen sein, wenn das Opfer über den geplanten Angriff und die Tötung Bescheid weiß. Sodass es nicht weiter darauf ankommt, ob das Merkmal eine Restriktion bedarf.[18]Anmerkung zum Urteil Mitsch, NJW 2019, 2413, 2416.

Der BGH benennt diesen Fall als einen Fall des erweiterten Suizids, da der Täter in Übereinstimmung mit dem Opfer aus dem Leben scheidet und den entsprechenden Tatplan übernimmt. Es fehle demnach an der feindseligen Willensrichtung, da das Opfer den autonomen Wunsch hat, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden.[19]BGH NJW 2019, 2413, 2015 (Rn. 20). Dabei verkennt der BGH jedoch, dass in diesem Fällen zuerst § 216 StGB geprüft werden müsste, der dann eine Sperrwirkung entfalten würde und die Ausnahme somit als obsolet erscheinen lässt. Außerdem zeichnet gerade den erweiterten Suizid als Kriterium aus, dass der der Täter zwar Kenntnis von den Suizidabsichten des Opfers hat, jedoch bei der Durchführung der Tat diese nicht auf einer gemeinsamen Willensentschließung des Opfers und des aktiv Handelnden basiert. Demnach läge weiterhin die feindselige Willensrichtung vor. Gehe man von einem Einverständnis des Opfers aus, wäre § 216 StGB zu prüfen.[20]Vgl. zum erweiterten Suizid Witteck, JA 2009, 292 ff.

Anmerkung
Der BGH verwendet häufig den Begriff des erweiterten Suizids für den Doppelsuizid, der sich gerade in der gemeinsamen Willensentscheidung zum gemeinsamen Sterben auszeichnet. Die Ausführung findet in einer Art Quasi-Mittäterschaft statt, da der Geschehensablauf von den Sterbewilligen arbeitsteilig ausgestaltet wird. Im Falle eines einseitig fehlgeschlagenen Doppelsuizid vertritt die Rspr. die Ansicht, die Tatbeiträge bei einem asymmetrischen Geschehensablauf in ein Tötung auf Verlang und Selbsttötung aufzuteilen. Dies wird jedoch stark kritisiert, da es nicht den besonderen Umständen eines Doppelsuizids gerecht wird und eine Verurteilung vom Zufall abhängig gemacht wird. Selbst wenn dieses Verständnis von der Ausnahme als Anwendungsfall zugrunde gelegt werden würde, bleibt die geschaffene Ausnahme obsolet, da auch in diesem Fall der § 216 StGB vorrangig geprüft werden würde und eine Sperrwirkung entfaltet.

Für die zweite Ausnahme kommt es für die Verneinung des Merkmals der feindlichen Willensrichtung darauf an, dass der Täter zum vermeintlich Besten des Opfers handelt. Der Unterschied der Ausnahme zu der alten Rechtsprechung liegt insbesondere darin, dass erst dann die Heimtücke abzulehnen ist, wenn sich das Motiv aus einer objektiv nachvollziehbaren Wertung ableiten lässt, die der Vermeidung schwersten Leidens den Vorrang gibt.[21]BGH, NJW 2019, 2413, 2415 (Rn. 19).

e) Stellungnahme

Da die dargestellten Meinungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, bedarf es einer Stellungnahme.

Gegen den Ansatz der Typenkorrektur wird angebracht, dass das Mordmerkmal praktisch somit zu einem Regelbeispiel eines besonders schweren Falls des Totschlags umgestaltet werde. Dies wiederum entspricht nicht der gesetzlichen Ausgestaltung des § 211 StGB als Qualifikationstatbestand.[22]Eschelbach, BeckOK-StGB, 45. Edition 2020, § 211 Rn. 38.1. Darüber hinaus enthält die Gesamtwürdigung keine festen Maßstäbe und das Merkmal der besonderen Verwerflichkeit eine generalklauselartige Weite. Dies würden eine Unberechenbarkeit und Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung zur Folge haben.[23]Vgl. dazu BGH NJW 1981, 1965, 1967.

Gegen die Theorie des Vertrauensbruchs wird hervorgebracht, dass derjenige Täter zu Unrecht privilegiert werde, der sein unbekanntes Opfer überraschend überfällt (ausgegrenzt sind insbesondere gefährliche terroristische Taten und Auftragstötungen, da sie den Überraschungsmoment ausnutzen). Hingegen derjenige Täter, der einen Familientyrannen, dessen Provokation der Tat angemessen erscheinen lässt, tötet, wird durch den Vertrauensbruchtatbestand erfasst und als Mörder bestraft.[24]Eschelbach, BeckOK-StGB, 45. Edition 2020, § 211, Rn. 37f. Des Weiteren ist das Abgrenzungskriterium des verwerflichen Vertrauensbruchs zu unscharf, aufgrund einer Vieldeutigkeit des Vertrauensbegriffs. Somit käme es auch hier zu einer unsicheren und ungleichgemäßen Rechtsprechung und bringt in den Grenzfällen nicht den erwünschten Fortschritt. Denn das Mordmerkmal kann mit diesem Kriterium einerseits unangemessen ausgedehnt, andererseits in nicht billigenswerter Weise einschränkt werden.[25]Vgl. dazu BGH NJW 1981, 1965, 1967.

Beide von der Literatur vertreten Ansichten haben insbesondere somit ein Problem im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG.[26]Eschelbach, BeckOK-StGB, 45. Edition 2020, § 211, Rn. 37.2, 38.1. Daher wird der neuen Rechtsprechung gefolgt und die besonderen Umstände der Motivation des Täters ausschließlich auf der Rechtsfolgenseite berücksichtigt. M handelte somit heimtückische als er F im Schlaf tötete.

II. Subjektiver Tatbestand

M müsste bzgl. aller objektiven Tatbestandsmerkmale vorsätzlich gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale in Kenntnis aller objektiven Tatumstände. M hatte den Willen gefasst, den Tod der F herbeizuführen. Er handelte auch vorsätzlich bzgl. des Ausnutzens der Arg- und Wehrlosigkeit der F. M handelte mit Vorsatz.

B. Rechtswidrigkeit

Rechtfertigungsausschließende Umstände sind nicht ersichtlich. M handelte rechtswidrig.

C. Schuld

Es sind auch keine Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe ersichtlich. M handelte schuldhaft.

D. Ergebnis

M hat sich wegen Mordes an seiner Frau F gem. §§ 211 I, II Gr. 2 Var. 1, 212 StGB strafbar gemacht. Eine Strafmilderung gem. § 49 I 1 StGB analog könnte aufgrund der besonderen Umstände der Tötung in Betracht gezogen werden (Rechtsfolgelösung).


Zusatzfragen

Wenn vorab der Bruder B der F eine tödliche Dosis Tabletten verabreichte und M später mit dem Hammer auf Fs Kopf einschlug, wie wäre dann die Kausalität zu begründen? Beide Tötungsversuche hätten ohne Einfluss des anderen zum Tod der F geführt.
Hier liegt der Fall der überholenden oder abgebrochenen Kausalität. Die zuvor in Gang gesetzte Kausalität wird durch die neue Bedingung unterbrochen und der Erfolg wird unabhängig von der ersten Bedingung herbeigeführt.[27]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2019, § 13 Rn. 21. Dann wäre B wegen versuchten Mordes strafbar und M wegen Vollendung.
Davon streng zu unterscheiden ist die alternative Kausalität. Diese liegt immer dann vor, wenn mehrere unabhängig voneinander gesetzte Bedingungen zusammenwirken. Wobei jede einzelne Bedingung für sich genommen bereits ausgereicht hätte, um den Taterfolg herbeizuführen. Wichtig ist, dass alle Bedingungen in dem Erfolg gleichzeitig wirksam geworden sein könnten. Nach der klassischen conditio-sine-qua-non Formel könnte jede Bedingungen hinwegdacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele, sodass eine Kausalität zu verneinen wäre und beide Täter könnten nur wegen eines Versuchsdelikts bestraft werden. Daher erfolgt eine Korrektur über die alternative Kausalität.[28]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2019, § 13 Rn. 26ff.
Der klassische Fall hierzu wäre, dass sowohl B und M der F jeweils unabhängig voneinander eine tödliche Dosis Gift verabreichen. Der Unterschied zur überholenden Kausalität liegt gerade darin, dass der M durch die Schläge mit dem Hammer den Tod der F zeitlich vorziehen und dieser losgelöst von den verabreichten Medikamenten durch B eingetreten ist.

In diesem Zusammenhang vergessen wir außerdem nicht die kumulative Kausalität, in der unabhängig voneinander gesetzte Bedingungen erst durch ihr Zusammentreffen den Erfolgseintritt bewirken. Jedoch gelingt es hier mit der klassischen conditio-sine-qua-non Formen die Kausalität zu begründen.[29]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2019, § 13 Rn. 34.

Ist Mord eine Qualifikation des Totschlags? Wo würde sich das auswirken?

I. Eigener Tatbestand (Rspr.)
Die Rechtsprechung vertritt die Auffassung, dass der § 211 StGB als eigener Tatbestand anzuerkennen ist. Dies wird mit dem unterschiedlichen Unwertgehalt im Vergleich zu § 212 StGB begründet. Außerdem wird die Eigenständigkeit anhand des Wortlautes erkennbar, da bei § 211 StGB von „Mörder“ gesprochen wird. Wohingegen § 212 StGB von „Totschläger“ spricht. Auch die Systematik des Gesetzes spricht für die Ansicht, da die Qualifikationen immer hinter dem Grundtatbestand stehen (vergleiche §§ 223, 224 StGB). Jedoch steht § 211 StGB vor dem Totschlag im StGB.[30]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2019, § 4 Rn. 1, m.w.N.

II. Qualifikation (Lit.)
Die Literatur ordnet den § 211 StGB als Qualifikation des § 212 StGB ein. Der Unrechtsgehalt des § 212 StGB ist in § 211 StGB bereits enthalten. Außerdem würde bei der Beurteilung der Strafbarkeit der Beteiligten auf § 28 II StGB abzustellen sein. Im Ergebnis kann sowohl der Täter als auch der Teilnehmer nur des Mordes schuldig gemacht werden, wenn er selbst auch ein entsprechendes Mordmerkmal verwirklicht. Wenn der § 211 StGB als eigenständiger Tatbestand angesehen wird, führt dies zur Anwendung des § 28 I StGB, was – wie folgend noch dargestellt wird – zu unbefriedigenden Ergebnissen führen kann und eine Korrektur notwendig macht.[31]Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2019, § 4 Rn. 2.

III. Relevanz
Relevant wird die Frage, sobald ein Mord mittäterschaftlich begangen wird und nur einer der Täter ein subjektives Mordmerkmal verwirklicht hat. Die Problematik erschöpft sich in der Anwendung des § 28 StGB. Die Frage lautet: Begründen subjektive Mordmerkmale das Strafmaß (§ 28 I StGB) oder verschärfen sie es (§ 28 II StGB)?[32]Beer ZJS 2017, 536, 537. Ein Merkmal, dass nur bei einem Beteiligten vorliegt, könnte streng akzessorisch zu behandeln sein, sodass damit die Strafbarkeit aller Beteiligten sich nach der Strafe der Haupttat begründet würde (§ 28 I StGB). Ein Merkmal könnte jedoch auch als eingeschränkt akzessorisch behandelt werden und gem. § 28 II StGB wäre eine Akzessorietätsdurchbrechung vornehmen. Danach müsste das strafbarkeitsbegründende Mordmerkmal bei jedem Täter selbstständig vorliegen.[33]Gerhold JA 2019, 721, 721. Grundsätzlich findet der § 28 StGB Anwendung auf besondere persönliche Merkmale. Die Mordmerkmale können in täterbezogen und tatbezogene Merkmale unterteilt werden. Die subjektiven Merkmale des § 211 StGB sind die täterbezogenen Merkmale, die von der Rechtsprechung und Teilen der Literatur mit den besonderen persönlichen Merkmalen gleichgesetzt wird,[34]Gerhold JA 2019, 721, 723. sodass das Verhältnis von § 211 StGB und § 212 StGB bei dem Vorliegen von unterschiedlichen subjektiven Mordmerkmalen aller Beteiligten relevant ist. Danach stellt sich die umstrittene Frage, inwiefern die subjektiven Mordmerkmale strafschärfend (§ 28 I StGB) oder strafbegründen (§28 I StGB) sind.

IV. Lösung über § 28 I StGB (Rechtsprechung)
Folgt man der Auffassung der Rechtsprechung, würde die Akzessorietät zwischen Haupttat und Beihilfe nicht durchbrochen werden, sondern lediglich gem. § 28 I StGB zu lockern sein. Das heißt, wenn der Haupttäter ein Mordmerkmal verwirklicht, das dem Teilnehmer fehlt, würde der Haupttäter wegen Mordes und der Teilnehmer wegen Teilnahme am Mord bestraft werden, mit einer möglichen Milderung der Strafe nach § 49 I StGB. Wenn jedoch der Teilnehmer ein Mordmerkmal verwirklicht, welches dem Täter fehlt, wäre die Strafe des Haupttäters nach dem Totschlag zu bemessen. Das Strafmaß des Teilnehmers könnte gem. § 212 II StGB auf Ebene der Strafzumessung berücksichtigt werden. Jedoch könnte die Tat, trotz Vorliegen eines Mordmerkmals, verjähren. Beide Lösungen überzeugen demnach nicht. Ein weiteres Problem nach der Lösung der Rechtsprechung ergibt sich bei den sog. gekreuzten Mordmerkmalen: Sowohl der Haupttäter als auch der Teilnehmer weisen jeweils ein eigens Mordmerkmal auf. Fraglich ist in diesem Fall, ob die Strafe des Teilnehmers nach § 28 I StGB zu mildern wäre. Dies wäre lediglich nicht der Fall, wenn der Teilnehmer dieselbe Gesinnung des vom Haupttäter verwirklichtes Merkmal teilt. Fehlt dieselbe Gesinnung wäre die Strafe nach § 28 I StGB zu mildern. Eine gleiche Gesinnung kann bei Verwirklichung unterschiedlicher Mordmerkmale jedoch nicht angenommen werden. Da dies jedoch dem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht, nimmt der BGH eine Korrektur vor: Wenn ein gleichwertiges Mordmerkmal verwirklicht ist, fehlt es nicht an einem strafbegründenden Mordmerkmal, sodass die Straße nicht nach § 28 I StGB zu mildern wäre. [35]Weitere Erläuterungen dazu Gerhold JA 2019, 721, 725.
Die Ansicht des BGH ist lösungsorientiert und lässt sich dogmatisch schwer begründen. Vielmehr bedarf es einer im Strafrecht verbotenen Analogie zu Lasten des Täters, wenn im Falle der gekreuzten Mordmerkmale es zu einer Nichtanwendung des § 28 I StGB kommt. Ein ansonsten entstehender Wertungswiderspruch zum Gerechtigkeitsempfinden rechtfertigt dies jedoch nicht.[36]Gerhold JA 2019, 721, 725.

V. Lösung über § 28 II StGB (Literatur)
Folgt man jedoch der Ansicht der Literatur, ist jedes subjektive Mordmerkmal als strafschärfendes persönliches Merkmal i.S.d. § 28 II StGB anzusehen. Demnach ist jeder Beteiligte entsprechend dem Vorliegen oder dem Nichtvorliegen eines Mordmerkmals entsprechend des Mordes oder Totschlages zu verurteilen. Die herrschende Lehre geht hier von einer Akzessorietätsdurchbrechung aus, da eine Tatbestandsverschiebung der sonst eigentlich akzessorisch gebunden Haupttat und Teilnahmetat vorliegt. Der Haupttäter könnte beispielsweise wegen Totschlages verurteilt werden und der Teilnehmer an der Beihilfe zum Mord. [37]Gerhold JA 2019, 721, 725.

Anmerkung:
Die Entscheidung, welcher Ansicht man in diesem Streit folgt, lässt sich bereits an der Zitierweise der Normenkette erkennen. Wird später der Ansicht gefolgt, Mord sei ein eigenständiger Tatbestand, so darf anfangs der § 212 StGB in der Normenkette nicht auftreten. Andersherum: wird die Meinung vertreten, der Mord sei eine Qualifikation, so lautet die Normenkette §§ 211, 212 StGB.


Zusammenfassung

1. Der BGH ist von der Erweiterung des Merkmals der Heimtücke „in feindselige Willensrichtung“ abgerückt. Demnach lautet die Definition: Heimtückisch handelt derjenige, der die Arg- und Wehrlosigkeit bewusst ausnutzt.

2. Bei jeder Tötung, bei der die Arg- und Wehrlosigkeit ausgenutzt wird, handelt der Tötende in feindselige Willensrichtung, da er sich über das Lebensrecht des anderen hinwegsetzt und ihn gegen seinen Willen tötet.

3. Zwei Ausnahmen gibt es, bei denen es weiterhin um die Erweiterung des Merkmales „in feindselige Willensrichtung“ ankommt:
a. Das Opfer ist mit seiner Tötung einverstanden.
b. Das Opfer ist zu einer autonomen Entscheidung nicht fähig.

4. Besondere Umstände und Motive können auf der Rechtsfolgenseite berücksichtigt werden. Nach der Rechtsfolgelösung kann gem. § 49 I StGB analog die Strafe in besonderen Fällen gemildert werden.

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