Angelehnt an BGH, Urteil vom 22.11.2023 – 2 StR 152/23, BeckRS 2023, 39418
Sachverhalt
Der T leidet seit mehreren Jahren an einer paranoiden Schizophrenie mit Stimmenhören und Bedrohungs- und Verfolgungserleben. Im Juni 2021 wurde er erstmals mit Clozapin behandelt, das die bislang beste antipsychotische Wirkung zeigte. Anfang Dezember schrieb T in einer Chat-Nachricht über O an X: „Es gibt jemanden den muss ich fertig (erledigen) machen. Wir treffen uns schon seit Jahren und es ist so viel passiert“. In einer Januar 2022 verfassten Nachricht führte T aus: „ich hasse das Clozapin aber ohne werd ich zum vampir – wahnvorstellungen, tiefe gedanken, stimmen im kopf … Als ich es 4 tage nicht genommen hab und 4 tage nicht geschlafen hab. Hatte ich sogar mordgedanken wollte die falschen freunde von früher auf gewaltigste art töten und ihr blut trinken.“ Ab März 2022 nahm T das Clozapin überhaupt nicht mehr ein, wodurch sich sein psychischer Zustand zunehmend verschlechterte. Schon zu diesem Zeitpunkt plante er, in späterem Zustande den O zu töten. Er entwickelte die wahnhafte Vorstellung, O werde ihn und seine Familie umbringen und sein Haus anzünden. Ferner hörte er Stimmen, die ihm befahlen, O zu verletzen bzw. zu töten. Unter dem Eindruck dieser Stimmen verabredete sich T mit O und versetzte diesem in Tötungsabsicht insgesamt 33 massive Stiche bzw. Schnitte, woran dieser noch am Tatort verstarb. Der Sachverständige nahm an, dass die Einsichtsfähigkeit des T zum Zeitpunkt der Messerattacke auf Grund der paranoiden Schizophrenie „in akuter Form“ i. S. des § 20 StGB aufgehoben war. Gleichzeitig konnte der Sachverständige ausschließen, dass der T schon beim Absetzen des Clozapins (März 2022) nicht mehr einsichtsfähig war.
Strafbarkeit des T?
Bearbeitervermerk: Es ist davon auszugehen, dass T den O nicht angegriffen hätte, wenn er das Clozapin weiter eingenommen hätte.
Skizze
Gutachten
A. Strafbarkeit gem. § 212 I StGB (Messerstiche)
T könnte sich des Totschlags gem. § 212 I StGB strafbar gemacht haben, indem er mit 33 Messerstichen auf O einstach.
I. Tatbestand
T hat durch die Messerstiche den Tod des O kausal und in objektiv zurechenbarer Weise verursacht. Hinsichtlich des Todes handelte T mit dolus directus 1. Grades. Der Tatbestand des § 212 I StGB ist erfüllt.
II. Rechtswidrigkeit
T handelt rechtswidrig.
III. Schuld
T müsste auch schuldhaft gehandelt haben. Die Feststellungen des Sachverständigen ergaben, dass die Einsichtsfähigkeit des T beim Einstechen auf O aufgrund der paranoiden Schizophrenie in akuter Form i.S.d. § 20 StGB aufgehoben war. Fraglich ist jedoch, wie es sich auswirkt, dass T schon beim Absetzen des Clozapins geplant hatte, den O zu töten und sich durch den Verzicht auf eine weitere Medikation mit dem Clozapin bewusst in einen Zustand versetzt hat, indem er nicht hinreichend einsichts- und steuerungsfähig war („Doppelvorsatz“[1]So die Bezeichnung bei Rengier, Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 25 Rn. 6.). Es handelt sich mithin um eine Situation, die jedenfalls der actio libera in causa (alic) ähnelt. Unter diesem Begriff haben sich verschiedene Ansätze herausgebildet, die einen vorsätzlichen Vorwurf trotz (eigentlicher) Schuldunfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat begründen wollen. Sie alle nehmen dabei den Ausgangspunkt in der These, dass eine Bestrafung allein wegen § 323a StGB in Fällen der vorsätzlichen alic die Schuld der Tat nicht hinreichend abbilden könne.[2]Rengier, Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 25 Rn. 1. Gemeinsam haben sie auch, dass sie am Simultanitätsprinzip ansetzen, also dem Erfordernis, dass alle Merkmale der Straftat (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld) zum gleichen Zeitpunkt vorliegen.
Die erste Ansicht (Ausnahmemodell) will vom Simultanitätsprinzip (auch Koinzidenzprinzip) bei der vorsätzlichen alic eine gewohnheitsrechtlich begründete Ausnahme machen. Die Formulierung in § 20 StGB („wer bei Begehung der Tat“) soll ausnahmsweise nicht gelten.[3]Nachweise bei Rengier, Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 25 Rn. 8. Diese Auffassung setzt sich jedoch dem unüberwindlichen Einwand aus, gegen Art. 103 II GG zu verstoßen, weil die unmissverständliche Wortlautgrenze zum Nachteil des Täters überschritten wird.[4]Rengier, Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 25 Rn. 9; von Gewohnheitsrecht könne mangels entsprechender Übung ohnehin kaum gesprochen werden, vgl. auch Makepeace, JURA 2021, 378, 382 f.
Eine zweite Ansicht (Ausdehnungsmodell) setzt am Begriff der „Tat“ in § 20 StGB an und will den Betrachtungsbereich auch auf den Moment ausdehnen, in dem die Schuldunfähigkeit durch den Täter begründet wird. Im vorliegenden Fall würde der Tatbegriff also auf das gefahrschaffende Unterlassen im Vorverhalten (Nicht-Einnahme des Clozapin) ausgedehnt. Zu diesem Zeitpunkt war T nämlich noch schuldfähig. Das Ausdehnungsmodell argumentiert unter anderem damit, dass auch in anderen Vorschriften, wie dem § 17 S. 2 StGB und noch deutlicher § 35 I 2 StGB auf das Vorverhalten abgestellt würde.[5]Nachweise bei Rengier, Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 25 Rn. 10. Dem lässt sich aber entgegnen, dass der § 20 StGB gerade anders als die genannten Vorschriften zu einer Berücksichtigung des Vorverhaltens schweigt.[6]Makepeace, JURA 2021, 378, 383. Letztlich wird das Ausdehnungsmodell damit kritisiert, dass es sich hier nur um einen „terminologischen Trick“[7]So Roxin/Greco, AT I, § 20 Rn. 70. handele und ebenfalls gegen Art. 103 II GG verstoßen würde.[8]Makepeace, JURA 2021, 378, 383.
Aus diesem Grund bieten weder das Ausnahme- noch das Ausdehnungsmodell einen legitimen Weg, das Koinzidenzprinzip zu durchbrechen bzw. zu umgehen.[9]So auch die Rspr. seit BGHSt 42, 235.
T handelt bei den Stichen auf den O nicht schuldhaft.
IV. Ergebnis
T hat sich nicht gem. § 212 I StGB strafbar gemacht, indem er mit 33 Messerstichen auf O einstach.
B. Strafbarkeit gem. §§ 212 I, 13 I StGB i.V.m. den Grundsätzen der actio libera in causa (Unterlassene Clozapin-Einnahme)
T könnte sich jedoch des Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I StGB strafbar gemacht haben, indem er es unterließ, das Clozapin einzunehmen.
I. Tatbestand
1. Unterlassen trotz physisch-realer Handlungsmöglichkeit
Zunächst müsste T trotz physisch-realer Handlungsmöglichkeit unterlassen haben. Als ein solches Unterlassen kommt hier vor allem der Verzicht auf die weitere Selbstmedikation mit dem Clozapin in Betracht. Eine solche Vorverlagerung des Anknüpfungspunktes für die Strafbarkeit entspricht dabei dem dritten Ansatz zur Lösung der vorsätzlichen alic, dem Tatbestandsmodell. Wird der Anknüpfungspunkt entsprechend vorgelagert, so ist der Verstoß gegen das Koinzidenzprinzip nur noch ein vermeintlicher. Fraglich ist jedoch, ob es bei dem Unterlassen der Selbstmedikation um mehr als eine bloße Vorbereitungshandlung geht. Denn auch beim vorsätzlich vollendeten Delikt muss schon aus einem Erst-Recht-Schluss zur Versuchsstrafbarkeit die ausgewählte Tathandlung ein unmittelbares Ansetzen darstellen.[10]Vgl. Makepeace, JURA 2021, 378, 383 f.; Rengier, Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 25 Rn. 13 f.
Auch aufgrund dieses Problems wird zum Teil ein vierter Ansatzpunkt für die Behandlung der vorsätzlichen alic gewählt, nämlich das Werkzeugmodell. In Anwendung – jedenfalls in struktureller Anlehnung – des § 25 I Var. 2 StGB soll versucht werden, den Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens vorzuverlegen, insofern, als der Täter sich selbst zu einem Werkzeug macht, mit dem die Tat später begangen werden soll.[11]Nachweise bei Makepeace, JURA 2021, 378, 384. Die Hauptkritik an dieser Lösung geht erneut von Art. 103 II GG aus: Wer sich selbst zum Werkzeug mache, der begehe die Tat nicht durch einen „anderen“.[12] Makepeace, JURA 2021, 378, 384.
Im vorliegenden Fall könnte die Kritik, dass das Versuchsstadium noch nicht überschritten worden wäre, aber schon aus anderem Grunde schwächer ausfallen. Denn auch beim Unterlassen finden sich Diskussionen hinsichtlich des Zeitpunkts des unmittelbaren Ansetzens: Während zum Teil schon die erste Möglichkeit der Gefahrabwendung ausreichen soll [13]Kritik: zu weite Vorverlagerung der Strafbarkeit bis an die Grenze des Gesinnungsstrafrechts, vgl. Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 146. und andere an die letztmögliche Abwendung anknüpfen wollen [14]Kritik: schwacher Schutz vor Rechtsgutsgefährdungen, vgl. Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 147., soll nach einer vermittelnden Ansicht beim Unterlassen dann unmittelbar angesetzt werden, wenn für das geschützte Rechtsgut eine unmittelbare, konkrete Gefahr entsteht.[15]Statt aller Heger/Petzsche, in: Matt/Renzikowski, 2. Aufl. 2020, § 22 Rn. 50. Fehlt es an einer konkreten Gefährdung, soll es gerade ausreichen, wenn der Garant sich der Kontrolle über den Geschehensverlauf begibt.[16]Nachweise bei Engländer, in: NK-StGB, 6. Aufl. 2023, § 22 Rn. 115: „Anders als beim aktiven Tun […] kann beim Unterlassen, soweit es noch an einer konkreten Gefährdung fehlt, problemlos auf … Continue reading Mit dieser Formel lässt sich letztlich eine Näherung an den Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft erreichen.
Im vorliegenden Fall liegt es besonders: Der O begibt sich der Kontrolle über den Geschehensverlauf zunehmend, indem er auf die Einnahme des Clozapins verzichtet. Auf dem zeitlich gestreckten Weg in die Schuldunfähigkeit steigert sich parallel die Gefährlichkeit der eigenen Person. Entscheidend ist dabei nur, dass sich ein Zeitpunkt finden lässt, in dem ein entsprechendes Aus-den-Händen-Geben der Kontrolle über den eigenen Körper anzunehmen ist, bevor die Schuldunfähigkeit eintritt.
Vernetztes Lernen: Worin besteht hier der Unterschied zu einer omissio libera in causa?2. Quasi-Kausalität
Die unterlassende Handlung müsste auch hypothetisch kausal für den Erfolg sein, also nicht hinzuzudenken sein, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausbleibt. Es ist davon auszugehen, dass T den O nicht angegriffen hätte, wenn er das Clozapin weiter eingenommen hätte. Damit ist die Quasi-Kausalität gegeben.
3. Objektive Zurechnung
T hat durch die unterlassene Clozapin-Einnahme die rechtlich missbilligte Gefahr von gewalttätigen Übergriffen geschaffen, die sich in der Messerattacke auf O realisiert hat. Der Erfolg ist T mithin objektiv zurechenbar.
Anmerkung: Alternativer Prüfungsort4. Garantenpflicht
Zuletzt müsste T eine Garantenpflicht getroffen haben. In Betracht kommt insofern besonders eine Überwachergarantenpflicht aus der Herrschaft über die Gefahrenquelle. Die Gefahrenquelle ist in diesem Falle der eigene Körper des T.[18]Vgl. auch Freund/Rostalski, in: MüKo-StGB, § 13 Rn. 113: „Beim eigenen Körper als Gefahrenquelle haben wir es gleichsam mit der Urform der (besonderen) Gefahrenquellenverantwortlichkeit zu tun. … Continue reading Insofern müsste sich annehmen lassen, dass eine normativ begründete Vertrauenserwartung hinsichtlich der Absicherung der Gefahrenquelle besteht. Dafür spricht im vorliegenden Falle vor allem das Wissen des T um seine eigene Erkrankung und im gewissen Maße die Gefährlichkeit, die von ihm ausgeht, wenn er unbehandelt ist. Gegen eine entsprechende Garantenpflicht spricht hier aber, dass ihr Pflichtinhalt in einer Medikation mit Clozapin besteht. Eine solche Verpflichtung über die Konstruktion des Unterlassungsdeliktes kollidiert indessen mit dem Selbstbestimmungsrecht des T hinsichtlich der Medikation. Denn andernfalls wäre der T gezwungen, das Clozapin einzunehmen. Letztlich käme es so zu einer Umgehung des Richtervorbehalts bei der Zwangsmedikation gem. § 1832 BGB.[19]Offengelassen bei BeckRS 2023, 39418; ausf. Thome, medstra 2024, 296, 298. Aus diesem Grunde ist im vorliegenden Fall eine Garantenpflicht abzulehnen.
II. Ergebnis
T hat sich auch nicht gem. §§ 212 I, 13 I StGB strafbar gemacht, indem er es unterließ, das Clozapin einzunehmen.
Zusatzfragen
1. Wie ist die fahrlässige alic einzuordnen?Zusammenfassung
1. Eine Vorverlagerung des Schuldvorwurfs bei der vorsätzlichen actio libera in causa ist allein unter dem sog. Tatbestandsmodell zulässig, solange sich bereits ein unmittelbares Ansetzen bei dem Vorwurf erkennen lässt.
2. Grundsätzlich ist eine Garantenpflicht aus der Herrschaft über den eigenen Körper als Gefahrenquelle denkbar. Wäre der Inhalt dieser Pflicht jedoch im konkreten Fall die Einnahme von Medikamenten, konfligiert dies mit dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich der medizinischen Behandlung.