BVerfG, Beschl. vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21; NJW 2022, 139
Sachverhalt – abgewandelt und gekürzt
Am 23.04.2021 trat in Deutschland das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in Kraft, welches dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) mehrere bundeseinheitliche Maßnahmen hinzufügte. Dazu gehörte z.B. die sogenannte „Bundesnotbremse“ des § 28b IfSG. Gekoppelt an eine Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 pro 100.000 Einwohner in Landkreisen sowie kreisfreien Städten entfalten die in § 28b I 1 1 IfSG niedergelegten Bestimmungen automatisch Wirkung, die auch mit Bußgeldern geahndet werden konnten. Die Eheleute A und B befürchten, dass die Bestimmungen bei den schnell steigenden Inzidenzen bald auch in ihrem Landkreis gelten. Sie fühlen sich durch die in § 28b I 1 Nr. 1 IfSG und § 28b I 1 Nr. 2 IfSG enthaltenen Kontakt- sowie Ausgangsbeschränkungen in ihren Grundrechten verletzt und erheben daher Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgesetz. Die Maßnahmen würden ihr familiäres Zusammenleben mit ihren drei erwachsenen und nicht ihrem Haushalt angehörigen Kindern stören. Außerdem würden sie in ihrem Haus „eingesperrt“ und durch die umfassenden Kontaktbeschränkungen vereinsamen.
Hat die Verfassungsbeschwerde der Eheleute Erfolg?
Bearbeitungsvermerk: Etwaige Bußgeldvorschriften sind nicht zu prüfen.
§ 28b IfSG Bundesweit einheitliche Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) bei besonderem Infektionsgeschehen, Verordnungsermächtigung
(1) 1Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die durch das Robert Koch-Institut veröffentlichte Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) den Schwellenwert von 100, so gelten dort ab dem übernächsten Tag die folgenden Maßnahmen:
1. private Zusammenkünfte im öffentlichen oder privaten Raum sind nur gestattet, wenn an ihnen höchstens die Angehörigen eines Haushalts und eine weitere Person einschließlich der zu ihrem Haushalt gehörenden Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres teilnehmen; Zusammenkünfte, die ausschließlich zwischen den Angehörigen desselben Haushalts, ausschließlich zwischen Ehe oder Lebenspartnerinnen und -partnern, oder ausschließlich in Wahrnehmung eines Sorge- oder Umgangsrechts oder im Rahmen von Veranstaltungen bis 30 Personen bei Todesfällen stattfinden, bleiben unberührt;
2. der Aufenthalt von Personen außerhalb einer Wohnung oder einer Unterkunft und dem jeweils dazugehörigen befriedeten Besitztum ist von 22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetags untersagt; dies gilt nicht für Aufenthalte, die folgenden Zwecken dienen:
a) der Abwendung einer Gefahr für Leib, Leben oder Eigentum, insbesondere eines medizinischen oder veterinärmedizinischen Notfalls oder anderer medizinisch unaufschiebbarer Behandlungen,
b) der Berufsausübung im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit diese nicht gesondert eingeschränkt ist, der Ausübung des Dienstes oder des Mandats, der Berichterstattung durch Vertreterinnen und Vertreter von Presse, Rundfunk, Film und anderer Medien,
c) der Wahrnehmung des Sorge- oder Umgangsrechts,
d) der unaufschiebbaren Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger oder der Begleitung Sterbender,
e) der Versorgung von Tieren,
f) aus ähnlich gewichtigen oder unabweisbaren Zwecken oder
g) zwischen 22 und 24 Uhr der im Freien stattfindenden allein ausgeübten körperlichen Bewegung, nicht jedoch in Sportanlagen;
[…](10) 1Diese Vorschrift gilt nur für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 durch den Deutschen Bundestag, längstens jedoch bis zum Ablauf des 30. Juni 2021. […]
Skizze
Gutachten
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.
A. Zulässigkeit
Zuerst müsste die Verfassungsbeschwerde zulässig sein.
I. Zuständigkeit
Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG für Individualverfassungsbeschwerden zuständig.
II. Beschwerdefähigkeit
Gem. § 90 I BVerfGG ist „jedermann“ und somit auch die Eheleute A und B als natürliche Personen beschwerdefähig.
III. Beschwerdegegenstand
Beschwerdegegenstand kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. Vorliegend steht mit § 28b I 1 Nr. 1 und 2 IfSG eine gesetzliche Regelung des Bundestags in Frage, also ein Akt der Legislative. Die Eheleute erheben mithin eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde.
IV. Beschwerdebefugnis
Die Beschwerdeführenden müssten hinreichend geltend machen, dass sie durch die in § 28b I 1 IfSG niedergelegten Maßnahmen in ihren Grundrechten verletzt worden sind.
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Die Grundrechtsverletzung müsste möglich, also nicht von vorneherein ausgeschlossen sein.
a) Die Kontaktbeschränkungen verbieten und beschränken persönliche Treffen in einem umfassenden Maß und auch im familiären Rahmen. Es erscheint daher nicht unmöglich, dass die Eheleute durch die Maßnahme in ihrem Recht auf Familie aus Art. 6 I GG, ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG und der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG verletzt sind.
b) Durch die Ausgangsbeschränkungen ist es untersagt die Wohnung ohne einen der in Nr. 2 genannten Ausnahmen zu verlassen. Sie könnten die Beschwerdeführenden somit in ihrem Recht auf Fortbewegungsfreiheit aus Art. 2 II 2 GG i.V.m. Art. 104 I GG tangieren.
Anmerkung: Beeinträchtigung anderer Grundrechte2. (P) Betroffenheit
Die Beschwerdeführenden müssten auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde könnte die Unmittelbarkeit problematisch sein, da sich die Rechtsfolgen regelmäßig erst durch einen exekutiven Umsetzungsakt und nicht schon aus der Norm selbst ergeben. Es handelt sich bei § 28b I 1 IfSG aber um eine sog. self-executing Norm, da die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen auf alle im Bundesgebiet befindlichen Personen unmittelbar anwendbar sind und auch direkt mit Bußgeld geahndet werden können. Sie betrifft daher auch die in Deutschland ansässigen Eheleute.
Fraglich ist jedoch, inwieweit auch eine gegenwärtige Betroffenheit besteht, da zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde die 100er-Inzidenz am Wohnort der Beschwerdeführenden noch nicht überschritten wurde und die Regelungen des § 28b IfSG daher noch nicht für sie galten. Ebenso wurden keine hinreichenden Ausführungen dazu getätigt, ob sie planen sich in Inzidenzgebieten aufzuhalten. Vielmehr befürchteten sie nur, dass ihr Landkreis alsbald die Schwellenwerte überschrieiten würde Dies ist nicht nur eine vage Aussicht, vielmehr wohnt es einem dynamischen Infektionsgeschehen wie bei Covid-19 gerade inne, dass sich die Inzidenzen stetig verändern und somit auch eine Überschreitung der 100er-Inzidenz zumindest erwartbar ist.[2]BVerfG NJW 2022, 139, 140 Rn. 86. Dies genügt daher für die Annahme einer gegenwärtigen Betroffenheit.
Vernetztes Lernen: In welchen Fallkonstellationen kann die Betroffenheit weiterhin problematisch sein?Probleme bezüglich der Gegenwärtigkeit ergeben sich darüber hinaus bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen, da der völkerrechtliche Vertrag, sofern einmal ratifiziert, für die Bundesrepublik bindend ist und die Grundrechtsbeeinträchtigung insofern final ist. Ganz grundsätzlich können zukünftige Rechtswirkungen Beschwerdeführenden immer dann gegenwärtig betreffen, wenn sie sie schon jetzt zu später nicht mehr korrigierbaren Dispositionen zwingen.[5]Walter, in: Dürig/Herzog/Scholz, 95. EL 2021, Art. 93 Rn. 353.
V. Rechtswegerschöpfung
Die Verfassungsbeschwerde müsste dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung aus § 90 II BVerfGG sowie der Subsidiarität gerecht werden.
Den Eheleuten steht grundsätzlich kein Rechtsweg gegen das parlamentarische Gesetz offen. Ein fachgerichtlicher Rechtsschutz i.R.d. Subsidiarität, z.B. durch eine Feststellungsklage ist zwar vereinzelt erforderlich, wenn das Verfahren auch die Klärung von Tatsachenfragen oder einfachrechtlicher Problematiken voraussetzt, aber regelmäßig nicht einschlägig, wenn die Beschwerde nur die Auslegung und Anwendbarkeit des Verfassungsrechts betrifft.[6]Bethge, in: Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 61. EL 2021, § 90, Rn. 403; Manssen, Staatsrecht II, 18. Aufl. 2021, Rn. 959. Zwar beinhaltet § 28b IfSG viele unbestimmte Rechtsbegriffe, die fachgerichtlich klärungsbedürftig sind, so ist deren Bestimmung nicht notwendig, um festzustellen, ob das Gesetz an sich unzulässig in den Schutzbereich der Grundrechte eingreift. Die fachgerichtliche Aufarbeitung wird eher nicht zu einer verbesserten Entscheidungsgrundlage des BVerfG führen, da die tatsächlichen Umstände und rechtlichen Grundfragen hinreichend deutlich durch das BVerfG herausgearbeitet werden können.
VI. Rechtsschutzbedürfnis
Seitens der Beschwerdeführenden müsste ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen. Dieses dürfte später nicht weggefallen sein und muss auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch bestehen.[7]BVerfG NJW 1990, 1033, 1034. Letzteres ist bei § 28b I 1 Nr. 1 und 2 IfSG gerade in den Fällen problematisch, in denen die Inzidenz wieder unter 100 absinkt, spätestens aber zum Zeitpunkt des Außerkrafttretens der Vorschrift am 31.06.2021. Insofern könnte mangels Regelungswirkung eine Erledigung eingetreten sein.
Die Erledigung ist jedoch dann unerheblich, wenn die Entscheidung zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung notwendig ist, ein besonders belastender Grundrechtseingriff vorliegt, die Beeinträchtigung trotz Wegfall der Maßnahme fortwirkt oder eine Wiederholungsgefahr besteht.[8]Grünewald, in: BeckOK GG, 12. Edition 2021, § 90 Abs. 1, 115 ff. Insbesondere Letzteres ist hier der Fall, da die Covid-19 Pandemie auch weiterhin in Deutschland grassiert und nicht ausgeschlossen werden kann, dass in Zukunft nicht wieder vergleichbare Regelungen getroffen werden.[9]BVerfG NJW 2021, 139, 141 Rn. 99.
Vernetztes Lernen: Welcher Rechtsschutz besteht bei Erledigung im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit?Eine Feststellungsklage i.S.d. § 43 VwGO ist auch bei erledigten Rechtsverhältnissen möglich, wenn ein besonderes Feststellungsinteresse besteht.[10]Wysk, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl. 2020, § 43 VwGO, Rn. 54 ff. Sofern eine Anfechtungsklage erhoben wurde, kann bei Erledigung nach Klageerhebung eine Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 I 4 VwGO in Betracht kommen. Dieses Verfahren ist nach h.M. auch analog für Verpflichtungsklagen anwendbar und obwohl umstritten, nach überwiegender Ansicht auch für Fälle der Erledigung vor Klageerhebung.[11]Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2021, Rn. 1421, 1423. Auch eine „doppelt analoge“ Anwendung ist bei einer Kombination der beiden Problematiken denkbar.[12]Ibid, Rn. 1423.; Vgl.auch: Demo auf privatem Grund, https://staging.examensgerecht.de/demo-auf-privatem-grund/
VII. Form- und fristgerechte Erhebung
Die Verfassungsbeschwerde müsste auch form- und fristgerecht i.S.d. §§ 23, 93 BVerfGG eingereicht worden sein.
VIII. Zwischenergebnis
Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde ist daher zulässig.
B. Begründetheit
Die Beschwerde ist begründet, wenn und soweit rechtswidrig in Grundrechte eingegriffen worden ist.
Anmerkung: Aufbau der BegründetheitI. Verfassungskonformität der Kontaktbeschränkungen
Die Kontaktbeschränkungen aus § 28b I 1 Nr. 1 IfSG könnten rechtswidrig in Grundrechte eingreifen.
1. Eingriff in Grundrechte
Der einzelne Schutzbereich der Grundrechte müsste dazu jeweils eröffnet als auch beeinträchtigt sein.
a) Eingriff in Art. 6 I GG
Das Familiengrundrecht aus Art. 6 I GG schützt die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Eltern und ihren Kindern, unabhängig davon, ob diese verheiratet sind und erstreckt sich auch auf weitere familiäre Beziehungen über Generationen hinweg.[14]BVerfG NJW 2022, 139, 142, Rn. 108. Art. 6 I GG gewährleistet, sich mit seinen Angehörigen oder Ehepartner:innen „in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen“.[15]Ibid.
§ 28b I 1 Nr. 1 IfSG verbietet sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum Zusammenkünfte mehrerer Personen, unabhängig von ihrer familiären Zugehörigkeit, sodass es nicht möglich ist die eigenen Familienmitglieder im selbst gewählten Umfang zu treffen. Daher ist die Maßnahme dazu geeignet in das Ehe- und Familienrecht einzugreifen.
b) (P) Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und deren Grundbedingungen im Rahmen der engeren Lebenssphäre.[16]Vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 9. Aufl. 2020, § 27 Rn. 6. Dabei ist Art. 2 I GG von Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG abzugrenzen, da nicht jedes Treffen zwingend unter das schutzintensivere allgemeine Persönlichkeitsrecht zu subsumieren ist. Jedenfalls schützt Letzteres aber davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden, sodass die einzelne Person faktisch zu Einsamkeit gezwungen wird.[17]NJW 2022, 139, 142, Rn. 113. Denn die grundlegende Möglichkeit der Begegnung mit anderen Menschen ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung.[18]NJW 2022, 139, 143, Rn. 113.
Die Regelung in § 28b I 1 Nr. 1 IfSG kann dabei insbesondere für alleinstehende Menschen ein Eingriff in diese Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als „Schutz gegen Vereinzelung“ darstellen. Die eingriffsmildernden Ausnahmen in § 28b I 1 Hs. 2 kamen für sie nicht in Betracht, da sie ausschließlich Zusammenkünfte der häuslichen Gemeinschaft und Kernfamilie betraf und für alleinstehender Menschen daher keinen Schutz boten.[19]NJW 2022, 139, 143, Rn. 114. Insofern konnte eine Begegnung mit anderen Menschen, die sich auf alternative Begegnungsformen überhaupt erst einlassen mussten, so erschwert werden, dass manche zur Einsamkeit gezwungen wurden.[20]NJW 2022, 139, 143, Rn. 114. Ein Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht liegt diesbezüglich vor.
c) Eingriff in Art. 2 I GG
Das Verbot anderer, nicht vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht erfassten, Arten der Zusammenkunft greift dementsprechend in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG ein.
2. Rechtfertigung
Diese Eingriffe könnten aber gerechtfertigt sein, sofern eine verfassungsrechtliche Schranke besteht und § 28b I 1 Nr. 1 IfSG eine verfassungskonforme Konkretisierung dieser darstellt.
a) Schranke
Es müsste eine verfassungsrechtliche Einschränkungsmöglichkeit bestehen. Für Art. 2 I GG gilt der einfache Gesetzesvorbehalt aus Hs. 2, der mit der verfassungsmäßigen Ordnung alle verfassungskonform zustande gekommenen Gesetze umfasst. Diese Schranke wird auch für das allgemeine Persönlichkeitsrecht herangezogen.[21]Manssen, Staatsrecht II, 18. Aufl. 2021, § 11 Rn. 295. Demgegenüber unterliegt Art. 6 I GG nur verfassungsimmanenten Schranken. Als parlamentarisches Gesetz erfüllt § 28b I 1 Nr. 1 IfSG diese Voraussetzungen, sofern es formell und materiell verfassungskonform ist.
b) Schranken-Schranke
Die Kontaktbeschränkungen müssten den Kriterien der Schranken-Schranke genügen, also formell und materiell verfassungsgemäß sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Der Bund müsste zuständig sein und alle Verfahrens- und Formvorschriften eingehalten haben. Dabei ergibt sich insbesondere eine Regelungskompetenz des Bundes für übertragbare Krankheiten aus Art. 74 I Nr. 19 GG. Die Regelungen sind nicht der allgemeinen Gefahrabwehr zugehörig, sondern dienen gerade der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, wie sich schon aus der systematischen Stellung im IfSG ergibt.[22]NJW 2022, 139, 144 Rn. 129 ff. Eine Zuständigkeit des Bundes ist daher zu bejahen. Es bestehen ferner keine weiteren Bedenken bzgl. der formellen Verfassungsmäßigkeit.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das Gesetz müsste auch materiell verfassungskonform sein.
(1) Verstoß gegen Art. 19 IV GG
Die Regelung könnte gegen die in Art. 19 IV GG verbürgte Rechtsweggarantie verstoßen. Bürger:innen steht gegen formelle Gesetze wegen des Verwerfungsmonopols des BVerfGs, das aus Art. 100 GG hergeleitet wird, nicht der Rechtsweg vor die Verwaltungsgerichte offen, sodass ihre Klagemöglichkeiten erheblich eingeschränkt sind. Dies könnte die Rechtsweggarantie verletzen. Jedoch umfasst der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ im Art. 19 IV GG gerade nur die Exekutive und implizit nicht die Legislative.[23]NJW 2022, 139, 145 Rn. 137; m.w.N.: Remmert, JA 2014, 906, 909. Daran ändert auch die Ausgestaltung als self-executing Norm nichts, da die Verwerfung parlamentarischer Gesetze allein dem Bundesverfassungsgericht zusteht und durch Art. 93 GG und Art. 100 GG dahingehend auch ausreichend Rechtsschutz besteht.
(2) Verstoß gegen Art. 20 II 2 GG
Der § 28b I 1 Nr. 1 könnte gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstoßen, sofern er das Machtverhältnis von Legislative und Exekutive stört, indem er der Exekutive durch den selbstdurchsetzenden Charakter keine eigenen Handlungsmöglichkeiten mehr lässt.
Das Prinzip der Gewaltenteilung dient einerseits der Machtbegrenzung und soll andererseits sicherstellen, dass Entscheidungen von den fach- und sachlich kompetentesten Organen getroffen werden.[24]NJW 2022, 139, 145, Rn 140.
Die Auslegung einzelner Rechtsbegriffe sowie die Durchsetzung der Maßnahmen verblieb aber bei der Exekutive, sodass dessen unverletzlicher Kernbereich nicht tangiert wurde.[25]NJW 2022, 139, 146 Rn. 144.
Jedoch ist insbesondere zu beachten, dass self-executing Maßnahmen zu einer Verkürzung des Schutzbereiches führen, da der Bürger sich i.d.R. nicht gegen etwaige Einzelakte vor dem Verwaltungsgericht wehren kann, sondern ihm nur der Weg zum Bundesverfassungsgericht offensteht (s.o.).[26]NJW 2022, 139, 146 Rn. 147. Sofern self-executing Maßnahmen jedoch immer gegen Art. 20 II 2 GG verstoßen würden, würde der gesetzgeberische Entscheidungsspielraum zu sehr beschränkt werden. Vielmehr endet die Einschätzungsprärogative erst bei Einzelfallgesetzen (vgl. Art. 19 I GG).[27]NJW 2022, 139, 146 Rn. 148. Darüber hinaus „liegt in der Natur einer Epidemie, dass der Staat zum Schutz der Bevölkerung nicht in individuellen Verwaltungsverfahren punktuelle Maßnahmen trifft, sondern dass zur Abwehr der Gefahr großflächige Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen“.[28]NJW 2022, 139, 147 Rn. 150. Daher liegt kein Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung vor.
(3) Verhältnismäßigkeit
Fraglich ist aber, ob das Gesetz die Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit erfüllt. Dabei ist nicht nur die Ausgestaltung der Regelung an sich Gegenstand der gerichtlichen Prüfung, sondern auch die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen der zugrunde gelegten Gefahrenlage und die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese ableitet.[29]NJW 2022, 139, 149 Rn. 170.
Anmerkung: Aufbau der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Wie würde es sich inhaltlich auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung auswirken, wenn die Grundrechte getrennt geprüft würden?(a) Legitimes Ziel
Ziel der Maßnahme war der Schutz des Lebens, der Gesundheit sowie die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen war dazu eine Verlangsamung der Verbreitung des Virus erforderlich, die also im Zentrum der Maßnahmen stand. Insofern verfolgt der Gesetzgeber die Erfüllung seiner Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 GG.
(b) Geeignetheit
Die Maßnahme müsste auch geeignet sein, also die Erreichung des Ziels zumindest fördern. Welche Anforderungen an die Beurteilung der Geeignetheit gestellt werden, hängt auch maßgeblich von dem betroffenen Grundrecht und der Eingriffsintensität ab. Insofern gilt, dass etwaige Unsicherheiten bei schwerwiegenden Eingriffen wie den hiesigen nicht zulasten des Grundrechtsträgers gehen dürfen.[33]NJW 2022, 139, 151 Rn. 185. Jedoch ist zu beachten, dass auf der anderen Seite ebenso gewichtige Grundrechte stehen und es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich ist, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen. Daher „ist die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt“.[34]NJW 2022, 139, 151 Rn. 185. Maßgeblich ist daher, ob der Gesetzgebers aus seiner Sicht davon ausgehen durfte, dass seine Mittel geeignet waren.[35]Das BVerfG umfassend zur Geeignetheit: NJW 2022, 139, Rn. 192 ff. Eine nachträgliche Ungeeignetheit ist insofern unschädlich (sog. ex ante Betrachtung).[36]Zur ex ante Betrachtung: Bamberger/Pieper, NVwZ 2022, 38 (40). Nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Zeitpunkt des Erlasses erfolgte eine Infektion durch Aerosole und Tröpfchen und damit über den direkten menschlichen Kontakt. Die Kontaktbeschränkung führten dazu, dass Bürger:innen sich weniger und in kleinerem Rahmen trafen und damit auch zu weniger infektionsträchtigen Kontakten. Die Maßnahmen waren mithin geeignet.
Anmerkung: Die Vertretbarkeitsprüfung(c) Erforderlichkeit
Die Maßnahmen müssten bei gleicher Wirksamkeit auch das mildeste Mittel darstellen. Auch hier besteht eine Wechselwirkung mit der Eingriffsintensität, wobei andererseits der Einschätzungsspielraum auch umso weiter reicht, desto komplexer die Materie ist.[39]NJW 2022, 139, 154 Rn. 203. Auch hier ist die Beurteilung im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung vorzunehmen.
Bezüglich gleichwirksamer Maßnahmen ist besonders die damals noch nicht umfassend vorhandene Impfmöglichkeit zu beachten, die sich auch im Anteil der zweifach geimpften Personen von nur 6,9% zum Zeitpunkt der Verabschiedung widerspiegelt.[40]NJW 2022, 139, 154 Rn. 206. Da die hohe Infektionsgefahr in allen Arten von geschlossenen sowie offenen Räumlichkeiten bestand, war eine Begrenzung auf rein öffentliche oder geschlossene Räume auch nicht gleichwirksam. Masken filtern nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen „nur“ 50% der Viren, sodass das Tragen einer Maske alleine nicht gleichwirksam ist.[41]NJW 2022, 139, 155 Rn. 210. Des Weiteren bestehen keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass das Infektionsrisiko bei der Einhaltung von Hygieneregeln (Lüften, Abstandhalten u.s.w.) genauso ausgeschlossen wäre wie bei umfassenden Kontaktbeschränkungen.[42]NJW 2022, 139, 155 Rn. 210. Mithin bestanden keine gleichwirksamen, milderen Handlungsmöglichkeiten, sodass § 28b I 1 Nr. 1 IfSG insgesamt als erforderlich zu erachten ist.
(d) Angemessenheit
Die Kontaktbeschränkungen müssten auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein, sodass eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen ist. Dabei ist zu beachten, dass die Beschränkungen Gemeinwohlziele von überragender Bedeutung schützen,[43]NJW 2022, 139, 157 Rn. 231. die insofern auch alle und nicht nur besonders vulnerable Gruppen betreffen. Denn eine Überforderung des Gesundheitssystem geht zulasten Aller, da personelle und materielle Engpässe zu einer schlechteren medizinischen Behandlung jeder Einzelnen führen können, die in medizinischen Notfällen auf diese angewiesen ist.
Nicht zu vernachlässigen ist aber die additive Wirkung der Maßnahmen, da der § 28b IfSG nicht isoliert galt, sondern im Zusammenspiel mit den anderen, z.B. landesrechtlichen Vorgaben zu einer besonders intensiven Grundrechtsbeeinträchtigung führt.[44]NJW 2022, 139, 156 Rn. 223. Jedoch können in diesem Rahmen insbesondere die vielfältigen Ausnahmeregelungen herangezogen werden, die die Eingriffsintensität nicht unerheblich abmildern. Auch hat der Gesetzgeber durch die zeitliche Befristung und die regionale Ausrichtung der Regelung eine weitere Begrenzung sichergestellt.[45]NJW 2022, 139, 158 Rn. 233.
Darüber war Sinn der umfassenden Maßnahmen, dass die Pandemiebekämpfung in zahlreichen Lebensbereichen erfolgte, „um Belastungen breit zu streuen und so Überforderungen einzelner Gruppen in ausgewählten Lebensbereichen zu vermeiden.“[46]NJW 2022, 139, 156 Rn. 224. Insofern ist nicht zu sehen, dass der Gesetzgeber nicht manchen Grundrechten einseitig den Vorrang eingeräumt oder andere Grundrechte außer Acht gelassen hätte.[47]NJW 2022, 139, 157 Rn. 232. Die Regelung ist somit auch angemessen.
3. Zwischenergebnis
Die Kontaktbeschränkungen sind gerechtfertigt, sodass keine Grundrechtsverletzung vorliegt.
II. Verfassungskonformität der Ausgangsbeschränkungen
Die Ausgangsbeschränkungen aus § 28b I 1 Nr. 1 IfSG dürften nicht rechtswidrig in Grundrechte eingreifen.
1. Eingriff in Grundrechte
Der Schutzbereich der Grundrechte müsste dazu jeweils eröffnet und beeinträchtigt sein.
a) Eingriff in Art. 6 I GG, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, Art. 2 I GG
Ebenso wie die Kontaktbeschränkungen greifen die nächtlichen Ausgangssperren aus § 28b I 1 Nr. 2 IfSG in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Familien- und Eherecht und die allgemeine Handlungsfreiheit ein (s.o.).
b) (P) Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit
Darüber hinaus könnte ein Eingriff in die körperliche Bewegungsfreiheit i.S.e. Freiheitsbeschränkung aus Art. 2 II 2 i.V.m. Art. 104 I GG vorliegen. Fraglich ist, ob die Ausgangssperren überhaupt in Art. 2 II 2 GG eingreifen, da man nicht „eingesperrt“ im engeren Sinne ist.[48]Diese Ansicht vertretend und m.w.N.: Greve/Lassahn, NVwZ 2021, 665, 668. Es bleibt faktisch weiterhin möglich, das Haus zu verlassen. Jedoch kann ein Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit auch dann vorliegen, wenn Ausmaß und Wirkungsweise des nur psychischen Zwangs mit unmittelbar wirkendem, physischem Zwang vergleichbar ist.[49]NJW 2022, 139, 159 Rn. 246.
Ein Eingriff kann nicht schon in der Bußgeldbewehrung der Verstöße an sich liegen. Die Sperre dauerte mit sieben Stunden fast ein Drittel des Tages an und galt für alle Bürger:innen, sodass Kontrollen und die Aufdeckung des normwidrigen Verhaltens deutlich vereinfacht werden. Bei Missachtung war eine Ingewahrsamnahme nach dem allgemeinen Gefahrabwehrrecht rechtlich denkbar. In der Gesamtschau entfalten die Ausgangssperren daher eine psychische Zwangswirkung sich an diese zu halten, die mit physischem Zwang vergleichbar ist.[50]NJW 2022, 139, 160 Rn. 249. Der § 28b I 1 Nr. 2 IfSG greift daher in die Fortbewegungsfreiheit ein.
Jedenfalls liegt aber kein Eingriff in Art. 104 II GG vor, da eine Freiheitsentziehung i.S.d. Norm nur dann vorliegt, wenn die Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird.[51]NJW 2022, 139, 160 Rn. 250.
2. Rechtfertigung
Der Eingriff in die Bewegungsfreiheit könnte aber gerechtfertigt sein.
a) (P) Schranke
Art. 2 II 3 GG und Art. 104 I GG schreiben einen einfachen Gesetzesvorbehalt vor. Eine Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit darf dem Wortlaut nach aber nur „auf Grund von Gesetz“ geschehen.
Der Eingriff erfolgte unmittelbar durch die in § 28b I 1 Nr. 2 IfSG normierte gesetzliche Ausgangssperre und gerade nicht durch einen exekutiven Vollzugsakt, welcher seinerseits auf einem Gesetz beruhte. Fraglich ist daher, was „auf Grund von Gesetz“ bedeutet und ob die Ausgestaltung des § 28b I 1 Nr. 2 IfSG als self-executing-Norm diesem Schrankenvorbehalt genügt, oder ob es eines Gesetzes bedurft hätte, das als reine Ermächtigungsgrundlage für einen zwischengeschalteten Exekutivakt dient.[52]Letzteres würde bedeuten, dass § 28b z.B. so formuliert wäre, dass die Verwaltung auf Grundlage des § 28b I 1 Nr. 2 IfSG eine Ausgangssperre anordnen kann, anstatt dass dieses selbst durch den … Continue reading
Gegen die Zulässigkeit der Ausgestaltung eines Gesetzes als self-executing spricht vor allem der Wortlaut des Art. 2 II 3 GG:[53]Ganz h.L. M.w.N. in Fn. 7: Di Fabio, in: BeckOK GG 95. EL 2021, Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 GG Rn. 42. Vergleicht man die dortige Schranke mit denen anderer Freiheitsrechte, so erlaubt z.B. Art. 8 II GG einen Eingriff „auf Grund eines Gesetzes“ oder zusätzlich „durch Gesetz“. Letzteres impliziert aufgrund der Formulierung „durch“ Gesetz, dass auch self-executing Maßnahmen möglich sind, da nur in diesen Fällen eine Regelungswirkung unmittelbar „durch“ Gesetz eintritt. Demgegenüber deutet die Formulierung des Art. 2 II GG ohne diesen Schranken-Dualismus im Umkehrschluss darauf hin, dass self-executing Gesetze nicht dem Schrankenvorbehalt des Art. 2 II 3 GG genügen. Diese Unzulässigkeit unmittelbar wirkender Gesetze wird auch vom Telos des Schrankenvorbehalts unterstützt, da es ansonsten zu einer wesentlichen Verkürzung des Schutzniveaus kommen würde. Der Gesetzgeber könnte anderenfalls stets direkt in das Grundrecht eingreifen und die Verwaltung wäre nicht als zweite Entscheidungsinstanz zwischengeschaltet, um die Tatbestandsmerkmale nochmal zu prüfen und ihr Ermessen auszuüben.
Eine Zulässigkeit unmittelbar wirkender Gesetze könnte aber aus einem systematischen Argument hergeleitet werden. Sofern der Schutzbereich nach der oben vertretenen Ansicht so ausgeweitet wird, dass auch sich-selbstvollziehende Gesetze in den Schutzbereich von Art. 2 II 2 GG fallen, müssen diese denklogisch auch der Schranke in Art. 2 II 3 GG genügen,[54]NJW 2022, 139, 162 Rn. 268. und S. 3 an diese extensivere Lesart des S. 2 angepasst werden.[55]NJW 2022, 139, 162 Rn. 268, 272. Anderenfalls würde der Schutzbereich uneinschränkbar erweitert. Dagegen kann jedoch eingewandt werden, dass eine Ausweitung des Schutzbereiches gerade nicht zwingend zu einer gleichzeitigen „Verweichlichung“ der Schranken führen muss.[56]Schwarz, NVwZ-Beilage 2022, 3, 5. Würde man nämlich eine solch zwingende Logik anwenden, würde dies dazu führen, dass jede extensive Auslegung des Schutzbereichs hinsichtlich des Rechtsschutzes hinfällig wäre. Das im Schutzbereich gewährte „Plus“ würde stets auf Rechtfertigungsebene durch ein korrespondierendes „Minus“ direkt wieder entzogen bzw. ausgeglichen.
Aus der historischen Entstehung des Grundgesetzes heraus ergibt sich aber, dass bei der Formulierung „auf Grund eines Gesetzes“ der gesetzesunmittelbare, wie auch der durch die Exekutive vermittelte Eingriff ermöglicht werden, aber nicht umgekehrt die Legislative von self-executing Regelung ausgeschlossen sein sollte.[57]NJW 2022, 139, 162 Rn. 270. Es sollte nichts an der zulässigen Regelungsmöglichkeiten geändert werden, sondern vielmehr eine Beteiligung des parlamentarischen Gesetzgebers sicherstellen.[58]Greve/Lassohn, NVwZ 2021, 665, 669. Auf Grund eines Gesetzes ist daher so zu verstehen, als dass es eines formellen Parlamentsgesetzes bedarf. Diesem Erfordernis genügt § 28b I 1 Nr. 2 IfSG.
Mithin genügt auch eine self-executing Maßnahme dem Schrankenvorbehalt, sofern es weiterhin formell und materiell verfassungskonform ist.
Anmerkung: Self-executing Normen im Grundgesetzb) Schranken-Schranke
Die Ausgangsbeschränkungen müssten den Kriterien der Schranken-Schranke genügen, also formell und materiell verfassungsgemäß sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Die formelle Verfassungsmäßigkeit der Ausgangssperren gem. § 28b I 1 Nr. 2 IfSG liegt ebenso wie bei den Kontaktbeschränkungen vor (s.o.).
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Der Eingriff müsste aber insbesondere auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Das Prinzip des effektiven Rechtsschutzes und der Gewaltenteilung wurden nicht verletzt (s.o.).
(1) Legitimes Ziel
Der Gesetzgeber wollte mit der Maßnahme seiner Schutzpflicht für Leib und Leben nachkommen, indem er eine größtmögliche Kontaktminimierung anstrebte (s.o.).
(2) Geeignetheit
Die Ausgangssperren müssten das Ziel der Kontaktminimierung zumindest fördern. Die An- und Abreise von privaten Zusammenkünften geschieht regelmäßig im öffentlichen Raum, z.B. auf öffentlichen Straßen oder im Nahverkehr. Ist ein Aufenthalt dort untersagt, sind Anreisen zu nächtlichen Treffen nicht möglich und Abreisen müssen früher als gewohnt geplant werden, so dass es hinreichend wahrscheinlich war, dass Zusammenkünfte abgesagt oder eher enden würden.[60]NJW 2022, 139, 163 Rn. 278.
(3) Erforderlichkeit
Ferner dürfte kein milderes, gleich effektives Mittel vorliegen. Als Teil eines Gesamtkonzepts ist verfassungsrechtlich entscheidend, ob auf das Element der Ausgangsbeschränkung hätte verzichtet werden können, ohne das Ziel der Kontaktbeschränkungen zu vereiteln.[61]NJW 2022, 139, 163 Rn. 282.
Insofern ist fraglich, ob z.B. die Kontaktbeschränkungen isoliert nicht genügt hätten. Jedoch hat nach den vorhandenen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen selbst bei Beachtung der Schutzmaßnahmen ein nicht unerhebliches Infektionsrisiko bestanden. Ferner hätten gesetzliche Kontrollen flächendeckend angelegt sein müssen, um gleich wirksam zu sein wie die Ausgangssperren. Eine solch flächendeckende Kontrolle lässt sich kaum umsetzen, zumal sich die Kontaktbeschränkungen in privaten Räumen ausschließlich durch deren Betreten durch die Vollzugsbehörden kontrollieren lässt.[62]NJW 2022, 139, 164 Rn. 285. Dies würde schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte und Art. 13 GG bedeuten und wäre daher nicht grundrechtsschonender gewesen. Vergleichsweise lässt sich die Einhaltung der umfassenden Ausgangssperren daher weniger eingriffsintensiv überwachen und durchsetzen.[63]NJW 2022, 139, 164 Rn. 285.
(4) Angemessenheit
Die Maßnahmen müssten auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Ebenso wie bei den Kontaktbeschränkungen können als eingriffsmildernde Elemente die umfassenden Ausnahmeregelungen herangezogen werden, insbesondere für Berufs- und Mandatsausübung und Sorge- und Betreuungsangelegenheiten.[64]NJW 2022, 139, 165 Rn. 296. Gleiches gilt auch für die zeitliche und räumlich-regionale Begrenzung. Dazu kommt, dass die Ausgangssperre in die übliche Ruhe- und Schlafenszeit fällt, sodass anders als z.B. tagsüber die Auswirkungen regelmäßig weniger spürbar sind.[65]NJW 2022, 139, 166 Rn. 301. Etwas anderes kann sich auch nicht daraus ergeben, dass die Wirksamkeit der Ausgangssperren im Unterschied zu den anderen Maßnahmen zum Zeitpunkt des Erlasses nicht abschließend festgestellt werden konnte. Gerade abends kommt es erfahrungsgemäß im privaten Bereich eher zu gelöstem und geselligem Verhalten sowie dem Gefühl, im privaten Rückzugsbereich unbeobachtet zu sein, sodass eine Nichteinhaltung der Schutzmaßnahmen wahrscheinlicher ist als etwa in der Öffentlichkeit und der Arbeitswelt.[66]NJW 2022, 139, 166 Rn. 288. Der Gesetzgeber durfte daher vertretbar davon ausgehen, dass ein Großteil der Infektionen im privaten Bereich erfolgten und Verstöße gerade abends und nachts geschehen, sodass ohne die auch einfacher zu kontrollierenden Ausgangssperren sein Gesamtkonzept gefährdet war.[67]NJW 2022, 139, 166 Rn. 288, 303.
Anmerkung: Gesamtkonzept in der Pandemiebekämpfung3. Zwischenergebnis
Die Ausgangsbeschränkungen sind gerechtfertigt, sodass keine Grundrechte verletzt wurden.
III. Ergebnis
Die Kontakt- sowie Ausgangsbeschränkungen waren verfassungskonform. Die Verfassungsbeschwerde war mithin nicht begründet und daher erfolglos.
Zusatzfragen
1. Aufgrund der Bundesnotbremse wurden die allgemeinen und berufsbildenden Schulen in Landkreis L geschlossen, da der Schwellenwert von 165 überschritten wurde. Es findet daher nur noch Onlineunterricht statt. Berufsschülerin S fühlt sich durch den fehlenden Präsenzunterricht in ihren Grundrechten verletzt. Zu Recht?Fraglich ist aber, ob die Schulschließung auch ungerechtfertigt war. Dabei kann weitestgehend auf den „Bundesnotbremse I“ Beschluss verwiesen werden. Darüber hinaus ist in der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen, dass ein deutlich höherer Schwellenwert galt, Ausnahmemöglichkeiten für Abschlussklassen und Förderschulen bestanden und durch den Fernunterricht (wenn auch nicht gleichwertige) Alternativen geschaffen wurden.[71]BVerfG NVwZ-Beilage 2022, 36, 51 Rn. 161, 163, 164.
Ferner griffen die Schulschließungen auch in die Rechte der Eltern aus Art. 6 II 1 GG ein, indem sie für ihr Kind nicht den gewünschten Bildungsweg wählen konnten.[72]BVerfG NVwZ-Beilage 2022, 36, 56 Rn. 201 f. Für die Rechtfertigung sind insoweit die gleichen Erwägungen anzustellen.
Eine weitere Besprechung findet sich in Muckel, JA 2022, 38 ff.
Zusammenfassung:
1. Es ist für die gegenwärtige Betroffenheit nicht erforderlich, dass die Beschwerdeführenden sich in einem Inzidenzgebiet befinden. In einer Pandemie reicht die Erwartbarkeit eines baldigen Überschreitens des Schwellenwertes, sodass nicht auf diesen gewartet werden muss, um die gegenwärtige Betroffenheit anzunehmen.
2. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet zwar nicht jede menschliche Zusammenkunft, schützt aber die Persönlichkeitsentwicklung in Form eines „Rechts gegen Vereinzelung“.
3. Auch psychologische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit fallen in den Schutzbereich der Bewegungsfreiheit aus Art. 2 II 2 i.V.m. Art. 104 I GG. Eine Einschränkung dieses Grundrechts ist auch durch unmittelbares Gesetz möglich.
4. Sofern hinsichtlich der Wirksamkeit der Maßnahmen große faktische Unwägbarkeiten bestehen, ist die Ausgestaltung der Regelung an sich, die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen der zugrunde gelegten Gefahrenlage und die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese ableitet, zu prüfen. Maßstab ist dabei, ob die verabschiedeten Maßnahmen aus Sicht des Gesetzgebers zu diesem Zeitpunkt vertretbar erscheinen.
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